Süddeutsche Zeitung - 27.11.2019

(ff) #1
von dorion weickmann

K


ein Anzug, keine Lackschuhe, kein
Blumenbouquet für die Kompanie.
Die Premiere des Ballettabends
„b.41“ endet im Düsseldorfer Opernhaus
ohne jedes Brimborium. Im Existenzialis-
ten-Outfit (schwarzer Rollkragenpullover,
schwarze Hose) tritt Martin Schläpfer,
Chefchoreograf des Ballett am Rhein, vor
das Publikum, dem er zehn Jahre lang ein
Highlight nach dem anderen beschert hat.
Die Arbeitsmontur signalisiert Abschied
und Aufbruch. Mit der Uraufführung sei-
nes „Cellokonzert“ hat Schläpfer soeben
den vierteiligen Abend aus- und zugleich
seine Schlussrunde eingeläutet. Kommen-
den Sommer endet seine erfolg- und er-
tragreiche Tanzdirektion mit Doppelman-
dat für Düsseldorf und Duisburg. Dann
zieht Schläpfer in die Promi-Liga zum tra-
ditionsreichen Wiener Staatsballett. Was
hinterlässt er im Rheinland?

Schläpfer, 1959 im Schweizer Kanton
St. Gallen geboren, hat ein glanzvolles Ka-
pitel deutscher Ballettgeschichte geschrie-
ben. Dessen solitäre Machart lässt sich an
„b.41“ noch einmal bestaunen. Da gleitet
der Zuschauer zunächst mit Jirí Kyliáns
„Forgotten Land“ in eine Seelenland-
schaft, wie von Edvard Munch gemalt.
Schritt um Schritt um Schritt, so nähern
sich die Tänzer der Meeresbrandung, die
John MacFarlane in düsteren Nuancen an
den Bühnenhorizont gesetzt hat. Bald schä-
len sich Einzelne, dann Paare aus dem
Pulk. Weite Spagatsprünge sprengen die
Szene, delikat verzweigte Raummuster er-
zeugen ein atmendes Auf und Ab, ein Mit-
und Auseinander bewegter Körper.
Phänomenal zu sehen, wie Kylián jeder
Figur zu sprachlicher Eigenheit verhilft,
ohne sie je der Einsamkeit auszuliefern. Er
bündelt die Streuenergien und spiegelt ih-
re Dynamik in den Grundelementen der
Choreografie, in Achterschleifen und Kreis-
gebilden. Benjamin Brittens „Sinfonia da
Requiem“, von den Düsseldorfer Sympho-
nikern feinsinnig orchestriert, verleiht die-
ser fast vierzig Jahre alten und dennoch
zeitlos schönen Tanzelegie ein Kolorit zwi-
schen attischer Tragödie und NYC-Blues.
Mit Martha Grahams „Lamentation“
und „Steps in the Street“ folgt ein Zeit-
sprung in die 1930er-Jahre, zur Wiege der
Tanzmoderne: strenge Gebärdenplastik,
dramatisch und charismatisch zugleich.
Nicht umsonst hat Martin Schläpfer die his-
torischen Wegweiser vor sein eigenes „Cel-
lokonzert“ platziert. Sobald der Vorhang
aufgeht, fällt der Blick auf ein mythisches
Labyrinth. Die Todesgewissheit, die schon
Kyliáns „Forgotten Land“ und Martha Gra-

hams „Lamentation“ verschattet hat, ver-
dichtet sich nun zum Fluchtpunkt der In-
szenierung. Eine Reverenz sind auch die
plissierten, bordürenverzierten Gewän-
der, die auf Grahams Originalentwürfe für
die Minotaurus-Saga „Errand into the Ma-
ze“ (1947) verweisen. Solche Anspielungen
liegen ganz auf Schläpfers Tanzlinie.
Schließlich zitiert kein anderer Choreograf
so virtuos die epochalen Signaturen des
Fachs, niemand sonst verarbeitet das klas-
sische Erbe so beherzt und behutsam zu-
gleich. Das Ergebnis ist eine zeitgenössi-
sche Spitzenschuhästhetik. Schläpfer hat
sie über alle Stationen seines Wirkens hin-
weg in Bern, Mainz und Düsseldorf-Duis-
burg angelegt und verfeinert.
Mit Eleganz und Bescheidenheit be-
sticht auch das „Cellokonzert“. Es ist ein
Dankeschön an die eigenen Tänzer, die
Weggefährten langer Jahre und ein Tribut
an die Tanzgötter. Wie ein Zauberer zieht
Schläpfer alle erdenklichen U- und E-Spiel-
arten des Fachs aus dem Hut, von Charles-

ton über Broadway-Schwünge bis hin zur
erzakademisch steifen Attitüde. Dazu blit-
zen Wunderwerke auf, erstrahlen Kome-
ten aus George Balanchines „Apollon“ und
„Serenade“, aus Vaslav Nijinskys „Nachmit-
tag eines Fauns“ und Michail Fokins „Ster-
bendem Schwan“, gefolgt von einem ro-
mantischen Fräulein-Ballet, hier aus-
nahmslos männlich besetzt. „Cellokon-
zert“ ist ein verführerisches Puzzlespiel, so
polyphon wie Dmitri Schostakowitschs
Komposition, die Schönheit und Schre-
cken des 20. Jahrhunderts in sich birgt. Ein
Schläpfer-Finale nach Maß.
Dieser Künstler neigt nicht zu monoma-
nischen Exzessen, sondern zur Sammellei-
denschaft. Binnen eines Jahrzehnts hat
Schläpfer an der Rheinoper ein einzigarti-
ges Repertoire zusammengetragen. Von
der Neoklassik über die Vorhut des Mo-
dern und Postmodern Dance aus New York
bis hin zu Hans van Manens niederländi-
schen Geniestreichen verfügt das 45-köpfi-
ge Ensemble über eine Stilpalette in allen

Farben des Regenbogens. Eine Bilanz, die
der Chef kaum mehr toppen kann. Inso-
fern ist sein Weggang so konsequent wie
die gewählte Exit-Strategie: karrieretech-
nische Mischung aus Maximalchance und
Maximalherausforderung. Alle Welt weiß,
dass mit der Wiener Elitetruppe nicht un-
bedingt gut Kirschen essen ist. Die ange-
schlossene Akademie geriet erst kürzlich
durch Machtmissbrauchsvorwürfe in Ver-
ruf. Trotzdem lockt die Mission, weil die
im Edelklassikdauerbetrieb vernutzten
Ballettbatterien an der Wiener Staatsoper
schon lange einer Neuaufladung harren.
In Düsseldorf und Duisburg wird der-
weil Demis Volpi das Ruder übernehmen:
knapp halb so alt wie Schläpfer, auf Erzähl-
stoffe abonniert. Etliche Tänzer will er
wohl übernehmen, ein paar treten mit
Schläpfer die Reise gen Süden an. Bis April
wird an der nächsten Saison getüftelt, in
Düsseldorf und in Wien. Was die Zukunft
bringen wird? Wenn Wünschen hilft: lau-
ter tollkühne Überraschungen!

Spitzenschuhästhetik


Der ChoreografMartin Schläpfer hat Ballettgeschichte geschrieben. Jetzt beginnt er seine letzte


Spielzeit beim Ballett am Rhein mit der Uraufführung von „Cellokonzert“. Eine Würdigung


Pete Townshend machte die wildesten
Sprünge, zerschmetterte die meisten Gitar-
ren, aber er ist, und das in einem Gewerbe,
das leicht ohne größere Fertigkeit im Lesen
und Schreiben auskommt, ein Intellektuel-
ler. Er habe, sagt er, das „Phänomen Rock-
star immer mit größter Geringschätzung be-
trachtet“ und ist doch selber einer, hat für
The WhoWelt-Hymnen geschrieben und da-
bei den Wunsch geäußert, lieber zu sterben,
als alt zu werden. Nächstes Jahr wird er 75.
Er hat einen Roman geschrieben, er bringt
mit seinem Sänger Roger Daltrey ein neues
Album heraus, und in einem Gespräch mit
derNew York Timesbeweist er wieder ein-
mal, dass er ein Schüler des großen Zerstö-
rungskünstlers Gustav Metzger ist. Towns-
hend denkt laut über seine Rolle in der Mu-
sikgeschichte und natürlich auf der Bühne
nach. Die unvermeidlichen Kraftausdrü-
cke hat die Zeitung für ihre Leser und Lese-
rinnen vorsichtshalber zensiert:

„Der Rock ’n’ Roll hat die Verantwortungs-
losigkeit gefeiert, doch es fehlt uns der
Grips für eine Antwort auf die Frage, was
der Rock ’n’ Roll ausgelöst und dann doch
nicht vollendet hat. Auch unsere journalis-
tischen Kollegen, ganz egal, wie schlau sie
sind, schaffen es nicht. Greil Marcus wird
kein Buch schreiben, das diese Antwort
weiß. Er wird es nicht liefern. Auch dieRol-
ling StonesundThe Whonicht. Dieses Vaku-
um der Nachkriegszeit, das wir zu füllen
versucht haben – wir konnten es eine Zeit-
lang füllen und merkten dann, das läuft
sich tot. Die Kunst stellte Fragen und bot
keine Antworten. Was macht The Who gera-
de? Wir haben ein gutes Album gemacht, je-
denfalls hoffe ich, dass es hinhaut. Ich brau-
che es nicht. Niemand braucht es. Die The-
men in manchen Songs gehen in die Tiefe,
aber sie sind nicht so mutig wie damals der
Song ‚Won’t Get Fooled Again‘. Der hatte ei-
ne klare Ansage: „Leckt mich. Ich werde
dieses Problem mit meiner Gitarre und mit
meinem Sänger und seinem langen, golde-
nen Haar und seinem großen Schwanz lö-
sen. (...) Mir geht es um die paar Momente
auf der Bühne, in denen ich das Potenzial
habe, das Ganze zu sprengen.“ sz

Seit ein paar Jahren häufen sich Veranstal-
tungen, die „immersive Kunst“ zeigen wol-
len. Und jedes dieser Festivals könnte den-
selben Untertitel tragen: Ein Begriff sucht
einen Inhalt. Denn wo schon das Publikum
selten eine Vorstellung davon hat, was das
neue Label Immersion eigentlich genau
verkauft, zeigen auch die sogenannten Ex-
perten wenig Neigung, das Nebulöse der
Vokabel mit ein paar erklärenden Gedan-
kenstrahlen zu vertreiben. So auch beim
Podium anlässlich eines immersiven Festi-
vals in Bochum im dortigen Schauspiel-
haus, wo die Künstler sich bereits in den
ersten Sätzen von dem Begriff distanzier-
ten, bevor er überhaupt erklärt war. Die
Organisatoren überspielten dagegen ihre
Unsicherheit über die Definition von Im-
mersion damit, dass sie es mit Eintauchen
gleichsetzten – weswegen die viertägige
Veranstaltung eben „Dive“ hieß.
Aber auch größere Tagungen und Festi-
vals – etwa im Gropius-Bau in Berlin, wo
der Leiter der Berliner Festspiele, Thomas
Oberender, eine aufwendige Programmrei-
he zum Begriff der Immersion betreibt –
scheitern regelmäßig daran zu erklären, wo-
für man die Vokabel überhaupt braucht.
Das ganze Konzept hinter dieser Begriffs-
lancierung beruht einzig auf der Behaup-
tung, das digitale Zeitalter bringe eine
besondere Qualität der Überwältigungsäs-
thetik hervor, die Menschen so weit von der
stofflichen Realität entfernt, dass sie insze-
nierte Welten wie reale behandeln. Doch
die Empfänger solch immersiven Erlebens
sitzen normalerweise nur in verdunkelten
Jungszimmern vor Bildschirmen mit Zu-
ckungen in den Fingern, vergessen die Zeit
und beschimpfen die Mattscheibe.
Immersion ist ein Begriff, der im Bereich
der Bildschirmhypnose, wo er auch her-
kommt, tatsächlich Sinn ergibt. Nur neigt
der gebildete Kulturmensch notorisch zur
ständigen Übertragung seiner Termini auf
andere Gebiete. Und so entdecken Festival-
macher Immersion jetzt auch weit jenseits
muffiger Kinderzimmer, etwa im Barock-
theater und der Molekularküche, im
Rausch und in der Kirche, beim Einhand-
Sex und in der Verschwörungstheorie.
Überall verliert sich der Mensch angeblich
im Medium, alles ist plötzlich Immersion.
Und ein Festival wie Dive beweist mit
seiner Programmauswahl dann schlüssig,
warum alte wie neue Universalvokabeln
vor allem Worthülsen sind, die jeder mit
allem füllen kann.

Das Hauptwerk dieses Festivals etwa,
die Rauminstallation „Sensefactory“ in
der Zeche eins, konzipiert von den Multi-
mediaexperten Dietmar Lupfer und Chris
Salter, ist eine aufblasbare Temporärarchi-
tektur, die man sonst Hüpfburg nennen
würde. Weiße Quader, von denen manche
an- und abschwellen, bilden ein erstaun-
lich kurzes Labyrinth. Das riecht wie die
Schwimmflügel der Kindheit und wird mit
Sounds vonFM Einheitbeschallt, dazu
wechseln die Lichtstimmungen. Dieser
Plastikspielplatz, der außer dem Ge-
schmack alle Sinne adressiert, ist mit dem
Adjektiv nett ausreichend beschrieben.
Überwältigung lässt er jedenfalls völlig
vermissen, neu ist die Idee auch nicht. Die
Hüpfburg „White Bouncy Castle“ von Wil-
liam Forsythe vor zehn Jahren etwa, in der
die Besucher sich bis zur Erschöpfung aus-
toben konnten, bot weit mehr Grenzverwi-
schung zwischen Zuschauer und Inszenie-
rung – was ja gern als weiteres Kriterium
immersiver Kunstwerke angeführt wird.
Aber immersiv nannten sich bei diesem
Themenfestival auch Aufführungen, die
man früher einfach als Konzert, Medien-
kunst, Quatsch oder Folter bezeichnet
hätte. Im Planetarium der Stadt Bochum,
einer Örtlichkeit, die das immersive Versin-
ken in Weltallsimulationen schon immer
für sich proklamieren konnte, zeigte Ulf
Langheinrich als Finale des Festivals seine
Arbeit „Lost“. Grellste Lichtblitze in Stro-
boskopgeschwindigkeit in den Farben Rot,

Blau, Grün, Weiß schufen auf der Netzhaut
aller hartgesottenen Besucher, die aus den
Liegesitzen in die Kuppel starrten, Interfe-
renzmuster und Schmerzen. Der Kurator
des Festivals, Tobias Staab, beschrieb das
recht zutreffend als „Nahtoderfahrung“.
Langheinrich hatte im Keller des Schau-
spielhauses noch eine weitere Attacke auf
die Augen mit dem Titel „Waveform X“
installiert, die allerdings eher pfleglich
ausfiel. Pixelrauschen, stakkatoartig un-
terbrochen von Farbflächen, erzeugte für
Momente den Eindruck eines tiefen
Raums auf der Leinwand, eine trotz allem
Bildfeuerwerk recht statische Eintauchäs-
thetik, deren Reiz sich schnell erschöpfte.

Aber gegenüber der „immersiven“ Per-
formance „The Influencer“ von WEHR 51
im Planetarium war diese Komposition
des historischen Sendeschlusses als Bild-
wechselstrom immerhin ein seriöses Medi-
enkunstwerk. Die alberne Bloggerin Nat-
Nike, die in einem Fenster zum Weltraum
in der Kuppel erschien, um das Publikum
von Jute statt Plastik zu überzeugen, wäh-
rend Stimmen die Vorgeschichte des Golde-
nen Vlieses erzählten, belegte nur die alte
These, dass sogenannte Immersionskunst-
werke ein echtes Problem mit Inhalten

haben, weil sie schon die Technik überfor-
dert. Eine Beobachtung, die auch für Pro-
duktionen gilt, die man auf Virtual-Reality-
Festivals in der 360-Grad-Brille ansehen
kann. Über die schlecht aufgelösten Bild-
welten hinaus, die mal fantastisch, mal
dokumentarisch wirken wollen, erzählt
diese neue Kunstmode selten etwas Subti-
les oder Substantielles über die Welt, und
wenn doch, könnte man es meist mit Film
oder Theater viel besser transportieren.
Aber auch die alte Überwältigungskunst
Musik musste beim Dive-Festival als im-
mersiv vereinnahmt werden, um die Un-
schärfe des Begriffs weiter zu erhöhen. Der
Musiker Gero Koenig warf eine Bildharfe
in die Kuppel, deren „Resonanzpunkte“
als Davidsterne gemalt waren, die sich bei
Kontakt in gelbe Judensterne verwandel-
ten und obertonreiche Brummlaute auf
einem analogen Saiteninstrument produ-
zierten. Die Steuerung der Klangerzeu-
gung durch Handbewegungen vor einer
Kamera ist aber nichts anderes als die
Kopie des 1920 erfundenen elektromag-
netischen Instruments Theremin, das man


  • ganz immersionsfrei – ebenfalls mit der
    Hand in der Luft spielt.
    Blieb das lange Schlagzeugsolo mit ange-
    steuerten Soundeffekten von Andrea Belfi,
    das vom Leipziger WISP-Kollektiv auf die
    Surroundlautsprecher des Plantetariums
    so übertragen wurde, dass ein wandernder
    Raumklang entstand. Das war zwar kompo-
    sitorisch auch nur die freundliche Version
    von uralten Experimenten der Neuen
    Musik. Aber das spielerisch rhythmische
    Umgehen mit Soundeffekten und Echo-
    schleifen lieferte immerhin die einzige un-
    terhaltsame Live-Performance unter dem
    Sternendom. Eine neue Marketingformel
    wie „Immersion“ braucht es für diese pop-
    pige Spielart elektronischer E-Musik so
    wenig wie für alles andere, was in Bochum
    zu erleben war.
    Was also anfangen mit solch hohlen
    Umetikettierungen, die man früher „alter
    Wein in neuen Schläuchen“ nannte? Muss
    eine angeblich um Präzision bemühte
    Sprache im Kunstdiskurs wirklich immer
    wieder neue Begriffe ohne Inhalt erfinden,
    die so belastbar sind wie eine Seifenblase?
    Bis heute hat die aufgeblähte Immersions-
    sphäre jedenfalls keine neuen Optionen
    für die Kunst hervorgebracht, die nicht
    auch ohne diese Verbalbegleitung ent-
    standen wären. Nennen wir die Dinge doch
    wieder beim Namen. till briegleb


Bei der amerikanischen Popsängerin
MelissaViviane Jefferson aliasLizzo
läuft es gerade ganz hervorragend:
reihenweise ausverkaufte Konzerte und
vergangene Woche acht Grammy-Nomi-
nierungen, darunter auch die in den
vier wichtigsten Kategorien „Album des
Jahres“, „Aufnahme des Jahres“, „Song
des Jahres“ und „Bester neuer Künst-
ler“. Wer bislang noch nichts von ihr
mitbekommen hat, sollte sich schleu-
nigst ihren Auftritt bei den American
Music Awards ansehen, die in der Nacht
zum Montag verliehen wurden. Dort
hat Lizzo zwar nichts gewonnen, aber
die Performance des Abends abgelie-
fert. Wer ihr dabei zuhört, welche groß-
raumfüllende Extrapower sie in die
ohnehin mächtige Absage „Take your
ass home“ aus ihrem Song „Jerome“
packen kann, versteht ein bisschen
besser, warum Lizzo in diesem Jahr zu
einem neuen Pop-Idol für Empower-
ment und Selbstliebe aufgestiegen ist.


Der britische Sänger und Songwriter
Jack Peñateveröffentlicht nach zehn
Jahren Pause sein drittes Album „After
You“ (XL Recordings) und am meisten
freut sich Superstar Adele darüber. Sie
gestand Peñate auf Instagram auch
gleich ihre „wahre und unsterbliche
Liebe“. Sie habe ihren Plattenvertrag
wegen dieses Mannes bekommen,
schreibt sie. „Er hat mich mit auf Tour
genommen, als sich noch keiner für
mich interessiert hat.“ Wer sich aufge-
wärmt von so viel Vorschussliebe Peña-
tes neues Album anhört, wird aber ent-
täuscht. Tausende Songs soll der Brite
während seiner Auszeit geschrieben
haben und das hört man „After You“
leider an. Es ist ganz schönes Pop-Kud-
delmuddel. Das wäre nun nicht weiter
schlimm, wenn es einem nicht ein biss-
chen arg kalkuliert vorkäme. Der unter-
kühlte Opener „Prayer“ borgt sich Erwe-
ckungsgefühle aus dem Gospel, in „Loa-
ded Gun“ werden schwachbrüstig die
Beatlesrecycelt, „Round And Round“
wischt zu Beginn mit arabesken Sound-
Schlieren, versinkt dann in muffigen
Trip-Hop-Beats, nur um zum textlich
vergleichsweise schlichten Refrain
(„Round and round and round we go“)
alles wieder zusammenzuschmeißen.
Oh, die Einsamkeit, die Vergänglichkeit!
Die Welt ist kalt, Peñates Themen sind
düster, seine Stimme dringlich. Und
trotzdem kommt
man nicht über den
Verdacht hinweg,
dass hier einer nur
imitiert. Und zwar
Robert Smith von
The Cure, circa
„Disintegration“.


Einer kommt zurück, ein anderer geht.
„Born 2 Rap“ (Entertainment One/5th
Amendment/Prolific Records) ist angeb-
lich das Abschiedsalbum des amerikani-
schen Rappers Jayceon Terrell Taylor,
besser bekannt alsThe Game, und wie
es sich für eine Farewell-Fete gehört,
hat er sich einige illustre Gäste eingela-
den. Die Platte beginnt mit Ed Sheerans
Akustikgitarre, was dann folgt, ist ein
Roadmovie durch den Rap der Westküs-
te in Überlänge. Es wird den alten Vorbil-
dern gehuldigt (Dr. Dre) und die Erbfol-
ge klar gemacht: Chance The Rapper
und Future sollen ins von Taylor ge-
räumte Spotlight treten, Nicki Minaj
und Cardi B dürfen nur für Telefonsex
herhalten. Das rollt dann doch zu unre-
flektiert und selbstreferenziell über die
altbekannten Straßen von L.A., um
wirklich interessant zu sein. „What is
Hip-Hop these days“, fragt Taylor gleich
zu Beginn. Die Antwort steckt in „Born
2 Rap“ und wird
ihm trotzdem nicht
gefallen. Es sind die
Feature-Gäste 21
Savage und Ander-
son Paak, die den
nötigen Schwung in
Party bringen.


Wenn die Sache mit der Klimakrise
böse ausgeht, und dafür spricht leider
gerade einiges, wird man sich an „Day
Music“ (Staatsakt/Zebralution), das
Debütalbum des Berliner Instrumental-
projektsGlobus, als ein Artefakt aus
einer Zeit kurz vor dem großen Welten-
brand erinnern. Ein herrliches kleines
Album, das in acht Synthesizer-Miniatu-
ren den Planeten umkreist und dabei
ganz ohne Naturromantik auskommt.
Eine höchst artifizielle Platte, die jedoch
niemals künstlich, sondern immer orga-
nisch klingt. Irgendwo zwischenTange-
rine Dreamund der
pulsregulierenden
Relaxtheit von
Brian Enos frühen
Ambient-Werken.
Vielleicht wird aber
ja doch noch alles
gut.


Zum Abschluss noch ein Hinweis auf
das Musikvideo zu „Virile“, dem neuen
Song des amerikanischen Musikers
Moses Sumney. Hin und her geworfen
zwischen einem Klapperschlangen-
Schlagzeug, scharfkantigen Streichern
und einem aggressiven Gitarrenriff
tanzt Sumney darin erst ekstatisch
durch ein Schlachthaus samt Rinder-
hälften und Altarraum, und hetzt dann
von einem Schwarm Marienkäfer gejagt
durch weite Landschaften. „You wanna
fit right in / Amp up the masculine“.
Einen besseren Song über das Monster
Männlichkeit, das einem eine Form
aufzwingen will, in die man nicht passt,
hat in diesem Jahr keiner geschrieben.
julian dörr


10 HF2 (^) FEUILLETON Mittwoch,27. November 2019, Nr. 274 DEFGH
Inmitten der „Sensefactory“ ruht sich ein Besucher ratlos in einer immersiven
Begriffsblase aus. FOTO: DANIEL SADROWSKI
Das Ganze
sprengen
Pete Townshend, der einzige
Denker des Rock, hat nachgedacht
Hohle Umetikettierungen,
die man früher „alter Wein
in neuen Schläuchen“ nannte
Ein Begriff sucht einen Inhalt
Immersive Kunst. Klingt beeindruckend. Jetzt fragt das nächste Festival, was das eigentlich sein soll
Seit Lila und Lenù auf dem Umweg über
vierBücher der italienischen Bestseller-
autorin Elena Ferrante in die Welt gekom-
men sind, werden sie geliebt, bedauert,
verachtet von Millionen Lesern und Lese-
rinnen. Ihre Fans begleiten sie von Neapel
bis Turin, durch Schule, Ausbildung, Ehe-
schließungen, Affären, Arbeitskämpfe, In-
trigen, häusliche Gewalt, Mordanschläge,
Geburten, Todesfälle, Entführungen und
Intrigen. Ferrantes Tetralogie über zwei
geniale Freundinnen gehört laut BBC mitt-
lerweile zu den 20 besten Romanen der
vergangenen zwei Jahrzehnte, die Autorin
selbst, die unter Pseudonym geschrieben
hatte, wurde 2016 vomTime Magazinezu
den hundert einflussreichsten Menschen
auf der Welt gezählt.
Wie so oft bei Best-und Longsellern wer-
den aus den Büchern Adaptionen; Lila und
Lenù verlassen das Papier, die Imaginati-
on und damit ihr wildes, lautes, stinken-
des, brutales, ärmliches Mafia-Umfeld,
ihre bis zur Fratzenhaftigkeit karikierten
Macho-Männer, ihre widerlichen Aus-
beuter-Chefs, ihre lieblosen Mütter. Sie
werden Figuren in Fernsehsendungen, in
Theaterstücken. Fiktional-dreidimensio-
nal, aber der Fantasie entzogen.
An der TV-Serie „Meine geniale Freun-
din“, die der US-Sender HBO und die italie-
nische Rai gemeinsam produziert und in
diesem Sommer auf die Fernsehschirme
gebracht haben, hatte Ferrante mitge-
wirkt. Die Kritiken waren durchwachsen:
tolle Hauptdarstellerinnen, kulissenhafte
Einbettung, Sepia statt Authentizität. Gut
gemeint, nicht überzeugend gemacht.
In Großbritannien indes lief, etwas ab
vom Schuss, schon seit 2017 eine auf zwei
Abende aufgeteilte Adaption für das Thea-
ter. Regisseurin April De Angelis und Pro-
duzentin Melly Still hatten es für das Rose
Theatre in Kingston an der Themse, einer
malerischen Kleinstadt im Südwesten Lon-
dons, aufbereitet. Nun ist die Produktion
ans National Theatre in die Hauptstadt ge-
wechselt, und selbst wer sich die vier Bü-
cher nie zumuten wollte oder sie nicht mal
sonderlich mochte, wird hier über insge-
samt fünf Stunden hinweg fesselndes,
aufreibendes, atemloses, technisch und
atmosphärisch perfekt durchchoreogra-
fiertes, hochemotionales Theater sehen.
Im Zentrum der Geschichte von „Liebe,
Gewalt, Ehrgeiz und Selbstzerstörung“,
wie das National Theatre sie bewirbt, ste-
hen selbstredend Lila und Lenù, Catherine
McCormack und Niamh Cusak. Aber der
gesamte Cast, fast unentwegt auf der Büh-
ne in einer Szenerie aus nicht viel mehr als
zwei verschiebbaren Betontreppen, die
mal Strandpromenade, mal neapolitani-
scher Hinterhof, mal Intellektuellen-Mai-
sonette darstellen, macht einen Höllenjob.
Da wird getanzt, gesungen, geturnt,
geschrien, geweint, gemordet, gevögelt,
vergewaltigt, verraten und verführt, alles
hautnah und direkt, und doch kunstvoll
weit weg. Theater kann, Theater muss
genau das. cathrin kahlweit
Der ganze Abend
ist ein Tribut an die
Tanzgötter
Martha Grahams „Lamentation“ wird verschattet von Todesgewissheit. FOTO:GERT WEIGELT
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT
POPKOLUMNE SCHAUPLATZ LONDON
Geniale
Freundinnen

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