Süddeutsche Zeitung - 27.11.2019

(ff) #1
von katrin blawat

M


anchmal kommt ein Geistesblitz
ganz unscheinbar daher. Etwa als
ein Stück verbogener Draht: Auf
den ersten Blick hätte man leicht überse-
hen können, welch gedankliche Leistung
dahinter steckte. Denn dank seiner Bie-
gung funktionierte der Draht als Fleisch-
Angel. Erfunden hatte das Werkzeug Bet-
ty, und wäre sie ein Mensch gewesen, so
hätte sie sich anschließend wohl mit einer
Menge Papierkram für die Patentanmel-
dung herumschlagen müssen. Doch Betty
war eine Neukaledonische Krähe, von de-
ren Tüftel-Künsten ein Team um den Ox-
ford-Zoologen Alex Kacelnik 2002 im Fach-
magazinScienceberichtete.
Viel ist seitdem geschrieben und ge-
staunt worden über Betty. Doch ohne die
Leistung der Krähe schmälern zu wollen:
Auch andere, weniger im Rampenlicht ste-
hende Vertreter vieler verschiedener Tier-
arten betätigen sich als Erfinder. Sie entwi-
ckeln neue Werkzeuge, Techniken, Spiele,
Ernährungsgewohnheiten oder Kommuni-
kationsweisen. Von innovationsfreudigen
Flötenvögeln zum Beispiel dürften die we-
nigsten Menschen schon einmal etwas ge-
hört haben. Und doch liefern diese australi-
schen Singvögel in einer aktuellen Studie
wertvolle Hinweise, wenn Biologen fragen:
Was zeichnet einen tierischen Erfinder
aus? Lässt sich so etwas wie ein Psycho-
gramm eines Tüftlers erstellen? Warum
entwickelt der eine Flötenvogel mit viel Ge-
schick bislang unerprobte Techniken, um
einen Futterbehälter zu öffnen, während ei-


nem anderen offenbar nichts Neues dazu
einfällt? Eine auf den ersten Blick überra-
schende Rolle spielt dabei unter anderem
die Lebenssituation, wie Benjamin Ashton
von der University of Bristol und seine Kol-
legen im Fachblatt Animal Behaviour
schreiben.
Demnach entscheidet die Gruppengrö-
ße mit über den Erfindergeist der Vögel.
Mit vielen Artgenossen zusammenzule-
ben, macht kreativ im Lösen von Proble-
men. Die Forscher teilten ihre Versuchstie-
re in Gruppen ein, die zwischen zwei und
elf Mitglieder umfassten. Dies entspricht
auch den natürlichen Lebensbedingungen
der Vögel. Die Tiere konnten herumprobie-
ren, wie sich eine Futterkiste mittels zwei-
er Hebel öffnen lässt. In den größeren

Gruppen dauerte es jeweils nur kurz, bis
ein Vogel durch eine neuartige Herange-
hensweise das Problem löste. Erwies sich
eine Innovation als erfolgreich, setzte sich
diese in den größeren Verbänden zudem
schneller durch als in den kleinen Grup-
pen. Zu vergleichbaren Ergebnissen waren
andere Forscher bereits in Versuchen mit
Spatzen gekommen.
Erledigt ist das Thema damit aber noch
lange nicht. Wenn Biologen bei Vögeln, Fi-
schen, Ratten, Affen und Hyänen nach den
Wurzeln des Erfindergeistes fahnden,
dann tun sie das aus einer grundsätzlichen

Annahme heraus. Neues zu entwickeln
kann sehr hilfreich dabei sein, mit verän-
derten Bedingungen zurechtzukommen,
egal ob diese die Ernährung, das Klima
oder die soziale Situation betreffen. Nie-
mand weiß das besser als Homo sapiens,
der es auch dank seiner Erfindungsfreude
weit gebracht hat – und andererseits ler-
nen musste, dass nicht automatisch jede
Innovation gut und hilfreich ist. So
kommt, wer nach den Daniel Düsentriebs
des Tierreichs fahndet, damit auch der Ant-
wort näher, was den Menschen derart krea-
tiv in seinen Lösungsansätzen hat werden
lassen.
Einer Hypothese zufolge steckt bereits
in einem Sprichwort ein Großteil der Ant-
wort. „Not macht erfinderisch“ – diese
Volksweisheit wird tatsächlich von einigen
Studien an Tieren unterstützt. So zeigten
sich in einem Experiment mit Guppys vor
allem hungrige Fische findig darin, an
schwer erreichbares Futter zu gelangen.
Der Theorie zufolge sollten sich besonders
jene, denen es an Ressourcen wie gutem
Futter oder Schlafplätzen mangelt, an
neue Ideen wagen. Schließlich können sie
nur gewinnen und haben wenig zu verlie-
ren, wenn sie ausgetretene Pfade verlas-
sen. Doch was plausibel klingt, bestätigt
sich in Studien nicht uneingeschränkt. Ka-
puzineraffen, Orang-Utans und Schimpan-
sen zum Beispiel werden in der Not nicht
auffallend erfinderisch.
Womöglich gedeihen Innovationen
manchmal ganz im Gegenteil besonders
gut, wenn ein Tier genug hat: ausreichend
Zeit und Energie, um etwa mit dem Schloss

einer Futterkiste herumzuspielen. Neues
ausprobieren kann vor allem, wer sich
nicht rund um die Uhr mit Futtersuche, Wa-
cheschieben und Revierverteidigung auf-
reiben muss, sondern derartige Verpflich-
tungen auch mal an Artgenossen delegie-
ren kann. Vielleicht liegt dieses Prinzip
auch den Ergebnissen der Flötenvogel-Stu-
die zugrunde. Unstrittig ist immerhin,
dass viele Faktoren zusammenspielen
müssen, damit ein Tier zum Tüftler wird.

Wie erfinderisch etwa ein erwachsener
Guppy ist, hängt zum Beispiel auch von sei-
nem Geschlecht und seiner Körpergröße
ab: Als besonders innovationsfreudig gel-
ten weibliche und kleine Fische.
Und dann kommt es natürlich auf die in-
neren Werte an, also auf die Persönlich-
keit. Der geborene Erfinder hat wenig
Angst vor Neuem und ist eher friedfertig
als aggressiv. Letzteres geht häufig, das ha-
ben Studien mit Ratten, Meisen und Haus-
schweinen gezeigt, mit einer Vorliebe für
starre Routinen, nur schwach ausgepräg-
tem Erkundungsverhalten und einer ge-
wissen Stumpfheit gegenüber Umweltver-
änderungen einher. Das alles sind nicht
eben die besten Voraussetzungen, um auf
neue Ideen zu kommen und sie auch umzu-
setzen.
Was dagegen sehr dabei hilft, innovativ
zu sein, lässt sich von Tüpfelhyänen ler-

nen. Unter ihnen stechen vor allem jene In-
dividuen als Erfinder hervor, die Neues
nicht nur interessiert untersuchen, son-
dern dabei auch auf besonders vielfältige
Weise vorgehen. Wie eng diese Diversität
im Erkundungsverhalten mit dem Erfin-
dungsreichtum der Hyänen zusammen-
hängt, haben Biologen der Michigan State
University im FachmagazinProceedings B
beschrieben. Auch in dieser Studie wurden
den Tieren Ideen abverlangt, wie sich eine
mit Futter gefüllte Kiste mithilfe von He-
beln öffnen ließ.
Es liegt nahe, die Tüftler unter den Hyä-
nen, Guppys oder Flötenvögeln für ihren
Einfallsreichtum zu bewundern. Was aber
ist mit denen, die andere die Arbeit ma-
chen lassen, sich deren Erfindungen je-
doch abgucken und diese dann selbst nut-
zen? Sind sie nicht – zumindest in ihrer
Welt ohne Patentschutz und Lizenzgebüh-
ren – im Grunde die klügeren Köpfe? Je-
denfalls beherrschen sie das soziale Ler-
nen, wie Biologen das Abkupfern von
Ideen nennen. Wie schnell und wie gründ-
lich dies geschehen kann, zeigte sich in den
1950er-Jahren am Beispiel einer Gruppe
Makaken in Japan. Nach allem, was be-
kannt ist, kam dort das junge Affenweib-
chen Imo einst als Erste ihrer Art auf die
Idee, Süßkartoffeln vor dem Verzehr mit
Flusswasser abzuwaschen (Imo ist das ja-
panische Wort für Kartoffel). Schon kurz
darauf taten es ihr alle anderen Gruppen-
mitglieder nach. Das Neue wurde so zur
Routine – und Imo zur Influencerin in ei-
ner Zeit, in der es diesen Begriff noch gar
nicht gab.

Es folgt eine kurze persönliche Klima-
bilanz eineseinzigen kleinen Vormittags,
an der sich andere mal ein Beispiel neh-
men könnten. Also, die Fahrt zur Arbeit?
Natürlich mit dem Fahrrad, vorbei an den
Schlangen aus den viel zu dicken und viel
zu durstigen Monsterautos, die täglich die
Stadt verstopfen. Ein Coffee to go im
plastikbeschichteten Wegwerfbecher vor
Dienstbeginn kam nicht infrage, natürlich
nicht, geht ja gar nicht. Mittags in der Kan-
tine fiel die Wahl dann selbstverständlich
auf das vegetarische Gericht, obwohl das
mal wieder ein entsetzlich langweiliger
Pampf aus Kartoffeln, Kohl, Karotten und
anderem kaputtgekochten Gemüse war.
Das Zeug schmeckte, als würde der Koch
einem bei jedem Bissen ein lautes „Fuck
you!“ zurufen. Aber wenn es der Rettung
der Welt dient, bitte, dann lässt sich auch
das ertragen. Eine solche Liste aus persön-
lichen (Pseudo-)Taten zum Schutz von Um-
welt und Klima ließe sich jederzeit anferti-
gen und fast beliebig verlängern. Und egal
wie sinnlos, selbstgerecht und überzogen
diese dann ist, am Ende steht die wohltuen-
de Haltung: Man selbst leistet mal wieder
mehr als die meisten anderen. Wenn nur
alle so gute und anständige Menschen
wären, dann wäre viel gewonnen!

Natürlich ist das Quatsch, aber eben
weitverbreiteter, allzu menschlicher
Quatsch. Gerade nämlich berichtet der Psy-
chologe Magnus Bergquist im Fachjournal
Basic and Applied Social Psychology, dass
die meisten Menschen ihr umweltbewuss-
tes Verhalten im Vergleich zu anderen grob
überschätzen. Die Mehrheit findet also,
dass sie vernünftiger und umweltbewuss-
ter handelt als die Mehrheit.
Der Wissenschaftler der schwedischen
Universität Göteborg befragte für seine Stu-
die mehrere Tausend Probanden aus
Schweden, den USA, Großbritannien und
Indien. In einer der Stichproben gaben
75,3 Prozent der Befragten an, ihr Ver-
halten sei umweltbewusster als das des
Durchschnitts ihres Heimatlandes. Beson-
ders überzeugt waren die befragten Inder,
von denen 85,7 Prozent glaubten, sie han-
delten im Verhältnis zu ihren Landsleuten
besonders ökobewusst. Aber wenn fast alle
besser als der Durchschnitt sind, ergibt das
natürlich schon rechnerisch ein Problem.
Aber was folgt aus dieser Form der öko-
logischen Hybris? Der Gedanke liegt nahe,
dass man sich tatsächlich weniger um die
Umwelt sorgt und sich eher zum Beispiel
eine Kreuzfahrt oder einen Langstrecken-
flug gönnt, wenn man sich sonst für einen
Klimawohltäter hält. Die zusätzliche Analy-
se der Daten von knapp 500 Probanden
habe dafür keinen Hinweis ergeben, berich-
tet Bergquist. Die Studienteilnehmer em-
pfanden weiterhin die Verpflichtung, sich
im Sinne der Umwelt zu verhalten – auch
wenn sie sich selbst zuvor einen kleinen
Öko-Heiligenschein attestiert hatten.
Der Effekt hinter der Umwelt-Hybris ist
in der Psychologie wohlbekannt: Das Phä-
nomen nennt sich „Better-than-Average
Effect“ und wurde bereits in vielen Lebens-
bereichen beobachtet. Gerade haben
Psychologen um Ethan Zell von der Uni-
versity of North Carolina eine umfangrei-
che Meta-Analyse vorgelegt, die im Fach-
journalPsychological Bulletinpubliziert
wird. Demnach ist der Effekt eines der am
besten belegten Phänomene aus der Psy-
chologie. Die meisten Menschen halten
sich zum Beispiel für überdurchschnittlich
gute Autofahrer, für überdurchschnittlich
intelligent, gut aussehend, ehrlich oder
fleißig. Zum einen fallen einem natürlich
besonders leicht Momente ein, in denen
man sich entsprechend verhalten hat, was
das Urteil prägt. Zum anderen schmeichelt
es der Seele und macht das Leben leichter
ertragbar, wenn man ein positives Selbst-
bild pflegt. sebastian herrmann

Ein Sprichwort sagt: „Not macht
erfinderisch“. Aber stimmt das
wirklich?

Kleine, weibliche Guppys
sind innovativer als
große, männliche Fische

Der Vogel mit der Angelrute


Nicht nur Menschen haben Geistesblitze, sondern auch Krähen, Schimpansen und Hyänen. Die individuellen Unterschiede


innerhalb einer Art sind allerdings sehr groß. Was macht ein Tier zum Erfinder?


Wir


Öko-Helden


Fast jeder Mensch überschätzt,
wie umweltbewusst er handelt

Fast alle halten sich für
außergewöhnliche Personen,
das schmeichelt der Seele

Neukaledonische Krähen sind bekannt für ihren Erfindergeist. Diese hier benutzt ein Stöckchen, um Futter aus einem Hohlraum zu bekommen. FOTO:RON TOFT, DPA


14 HBG (^) WISSEN Mittwoch,27. November 2019, Nr. 274 DEFGH
Mietwahnsinn, Wohnungsnot,
Obdachlosigkeit – München als Testfall
für eine (un)soziale Republik.
Lehrkräfte, Pflegekräfte, Verkäufer, Polizistinnen und alle anderen, die nicht üppig verdienen, ohne die aber eine
Stadt wie München nicht funktionierten würde, haben es immer schwerer. Die Mieten steigen, bezahlbare Wohnun-
gen sind Mangelware. Warum ist es so schwer, dem Mietwahnsinn Einhalt zu gebieten? Wie erleben obdachlose
und bedürftige Menschen die Stadt? Welche Lösungen kann es geben? Die SZ-Journalistinnen Anna Hoben und
Pia Ratzesberger erzählen, auf welche Missstände sie bei ihren Recherchen in München stoßen. Karin Lohr von der
Straßenzeitung BISS berichtet über die Hilfe zur Selbsthilfe für obdachlose und bedürftige Menschen.
Montag, 9. Dezember 2019 | 19.00 Uhr | Eintritt frei (eine Anmeldung ist nicht erforderlich)
Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig, Rosenheimer Str. 5, München
Weitere Informationen auf:
sz-veranstaltungen.de
Ein Angebot der Süddeutsche Zeitung GmbH · Hultschiner Str. 8 · 81677 München
In Kooperation mit:
WERKSTAT T
GESPRÄCH

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