Süddeutsche Zeitung - 27.11.2019

(ff) #1

N


atürlich hat er überlegt, wie
sich dieser Tag anfühlen wird.
Letztlich wartet er seit dreiund-
dreißigeinhalb Jahren darauf.
Es gab auch Zeiten, in denen er
sich den Gedanken an die Freiheit verbo-
ten hat. Weil er ihn nicht ertragen konnte.
Manchmal kann er es selbst nicht glauben.
So viele Jahre.
Und klar, auch dieser Montag begann
wie alle Tage im Buckingham Correctional
Center in Dillwyn, Virginia. Die ächzende
Spülung der Toilette, das Geschrei der Wär-
terinnen, das Knallen der Türen. Alles hier
ist lähmend vertraut: die Zelle, das Fens-
ter, die Tür, der Metallschrank, das Etagen-
bett, die Toilette, das Waschbecken, der
Stuhl, die Indiskretion. Der Atem des Mit-
bewohners. Das ist Jens Sörings Welt seit
Jahrzehnten, das sind seine paar Quadrat-
meter Leben.
Seit 33 Jahren, 29 Wochen und 6 Tagen
sitzt der Deutsche Jens Söring im Gefäng-
nis, erst in England, seit 1990 in den USA,
als ihm am Montag mitgeteilt wird, dass
das Parole Board seiner und der Entlas-
sung seiner damaligen Freundin Elizabeth
Haysom auf Bewährung zugestimmt hat.
Gefangener 1161655 ist somit kein wirkli-
cher Gefangener mehr.
Die Entscheidung auf frühzeitige Entlas-
sung begründete der Bewährungsaus-
schuss lautWashington Postdamit, dass
beide in all den Jahren vorbildliche Gefan-
gene waren. Nach Ansicht der Parole-
Board-Mitglieder stellen weder Söring
noch Haysom eine Gefahr für die Gesell-
schaft dar, und sie seien damals sehr jung
gewesen. Außerdem säßen sie ja schon lan-
ge. Und: Die Steuerzahler sparen enorm
viel Geld. Bis jetzt ist bekannt, dass beide
an die Einwanderungsbehörde übergeben
werden. Dann wird Söring nach Deutsch-
land überführt und mit einem Wiederein-
reiseverbot in die USA belegt werden.
Wann genau, ist allerdings noch nicht klar.
Haysom, die einen kanadischen Pass hat,
wird nach Kanada gebracht werden.


Was einem durch den Kopf gehen mag
an so einem Tag?
Vielleicht der Abend im August 1984, als
sie das erste Mal vor ihm stand, die schöne,
verwegene Elizabeth Haysom, in ihrem dre-
ckigen T-Shirt. Er war sofort gefangen von
ihrer Arroganz und ihren wilden Geschich-
ten. Elizabeth, seine große Liebe, seine ein-
zige Liebe. Mit der alles anfing. Und alles
aufhörte.
Oder die Tatortbilder von Elizabeths El-
tern Nancy und Derek Haysom, wie sie im
März 1985 in ihrem Blut lagen in ihrem
Haus in Lynchburg, Virginia, die Kehlen
durchtrennt. Die Mutter im Nachtgewand
in der Küche, der Vater neben dem Kamin.
Das ganze Haus voller Blut.
Oder denkt man in so einem Moment an
die Verhaftung am 30. April 1986 in Lon-
don, als die monatelange, wilde Flucht von
ihm und Elizabeth zu Ende war? Die
beiden wurden als Christopher P. Noe und
Tara Lucy Noe in der U-Bahn in London
wegen Scheckbetrugs verhaftet.
Als Jens Söring aus dieser Welt ver-
schwand, hatten Mitterrand und Thatcher
gerade beschlossen, einen Tunnel durch
den Ärmelkanal zu bauen. In Tschernobyl
war vier Tage davor die Simulation eines
Stromausfalls in Reaktor 4 außer Kontrol-
le geraten. Die Telefone hatten Wählschei-
ben, und durch Berlin zog sich eine Mauer.
Jens Söring war damals 19 Jahre alt.
Jetzt ist er 53.
Schon vorher hatte er einen Satz ge-
schrieben, falls er auf Bewährung entlas-
sen werde, es gab Gerüchte und Gerede im
Gefängnis: „Ich danke dem Parole Board,
dass sie das Unrecht meiner Inhaftierung
für ein Verbrechen, das ich nicht begangen
habe, beendet haben.“ Er hatte eigentlich
gehofft, dass der demokratische Gouver-
neur von Virginia, Ralph Northam, ihm die
Unschuldserklärung gewährt. Das hat er
nicht getan, er respektiere aber die Ent-
scheidung des Parole Boards wie in allen
anderen Fällen auch, sagte das Büro des
Gouverneurs derWashington Post.
Nicht schuldig, das wäre Söring wichtig
gewesen, er spricht von Justizirrtum,
wenn er von seinem Fall redet. Aber offizi-
ell als nicht schuldig gilt er nicht.
Jens Söring, geboren am 1. August 1966
als ältestes Kind eines deutschen Diploma-
ten in Bangkok, aufgewachsen in Deutsch-
land und den USA, Hochbegabtenstipen-
diat der University of Virginia. Es hätte
eigentlich alles reibungslos gehen sollen in
seinem Leben. Dann aber hat er sich, so
kann man das sagen, in das falsche
Mädchen verliebt: Elizabeth Haysom.
Sie waren ein paar Monate zusammen,
da wurden ihre Eltern ermordet. Für die Po-
lizei gab es erst mal nichts, woran sie sich
hätte orientieren können: kein Motiv,
keine Verdächtigen, keine Anhaltspunkte.
Aber dann kamen die Ermittler der Toch-
ter und ihrem Freund immer näher. Eliza-
beth Haysom und Jens Söring beschlos-
sen, aus Amerika zu fliehen. Thailand,
Europa, falsche Schecks. Es war ein Aben-
teuer, fast ein Spiel, der naive Diplomaten-
sohn und die weltgewandte Tochter eines
Stahlbarons. Sie waren jede Minute zusam-
men, von der Tat kein Wort mehr. Söring
sagt, er habe ihr noch in der Mordnacht ver-


sprochen, der Polizei zu sagen, dass er es
war. Er fühlte sich, so hat er es immer
wieder erzählt, wie der Held in Charles
Dickens’ Roman „A Tale of Two Cities“, Syd-
ney Carton, der alles gab für seine große
Liebe. Er wollte das Mädchen, das er liebt,
vor dem elektrischen Stuhl retten, sagt er.
Wenn man ihn heute fragt, sagt er, dass er
das ja auch getan habe – sie wurde zu
90 Jahren verurteilt, wegen Anstiftung
zum Mord. Er glaubte, dass er diplomati-
sche Immunität habe, dass man ihn nach
Deutschland bringen würde, Jugendstra-
fe, ein paar Jahre. In seiner jugendlichen
Überheblichkeit beauftragte er keinen An-
walt. Sein Leben für das ihre.
Am 30. April 1986 wurden die beiden in
London verhaftet. Spätestens da hörte der
Spaß auf. Und schnell auch die Liebe.
Elizabeth Haysom gestand erst, dann wi-
derrief sie ihr Geständnis. Auch Jens Sö-
ring gestand, wie versprochen. Und Eliza-
beth Haysom beschuldigte nun ihn, ihre
Eltern ermordet zu haben. So begriff Jens
Söring, dass das keine Liebesgeschichte
mehr ist, und so fing er an, um sein Leben
zu kämpfen. Er widerrief sein Geständnis.

Jens Söring sagte über die Jahre, die
Jahrzehnte: Ich war es nicht.
Er erinnert sich bis heute an das nach
Kohl stinkende Gefängnis im Londoner
Stadtteil Brixton, dreieinhalb Jahre lang
kämpfte er dort gegen seine Auslieferung
in die USA, gegen die drohende Todesstra-
fe. Immer wieder erzählte er von den Ak-
ten, die er damals durchgelesen hat, von
den Bildern, die er gesehen hat, von den
verbrannten Haaren auf den Unterarmen
Hingerichteter, von den Augäpfeln, die aus

Augenhöhlen platzen. Er hatte, sagte er ein-
mal, damals immer ein Seil unter der Ma-
tratze.
Dann entschied der Europäische Ge-
richtshof, dass die Hinrichtungsart inhu-
man sei. Die Amerikaner waren empört,
verzichteten aber auf die Beantragung der
Todesstrafe. Das, so schreibt Jens Söring
vor ein paar Tagen aus dem Gefängnis, war
die erste Schlacht, die er gewonnen habe.
Am 12. Januar 1990 wurde er an die USA
ausgeliefert. Der Haysom-Mord war ein
Fall ohne Augenzeugen, die Tatwaffe wur-
de nie gefunden, es gab Ungereimtheiten,
Verfahrensfehler, einen befangenen Rich-
ter und eine Stadt, die nach Rache schrie.
Hobbyexperten, die Söring belasteten,
durften vor Gericht aussagen, echte Exper-
ten, die ihn entlasteten, hingegen nicht.
Am 4. September 1990 wurde er in Virginia
zu zweimal lebenslänglich verurteilt,
wegen des Mordes an Derek und Nancy
Haysom.
Jens Söring hat alles durchgemacht,
was man im Gefängnis durchmachen
kann: den Schock, den Selbsthass, die Wut,
die zersetzende Hoffnungslosigkeit. Hoch-
sicherheitsgefängnis, Gummigeschosse,
er hat Häftlinge gesehen, die sich komplett
mit Kot eingeschmiert haben, er kennt das
Gewimmer der Gefangenen, die sie in die-
ser Welt „Winsler“ nennen, er hatte einen
Zellennachbarn, der sich am gemeinsa-
men Etagenbett erhängt hat. Er fand Gott
und verlor ihn wieder. Es gab Phasen, in de-
nen er an Selbstmord dachte, und andere,
in denen ihn die Hoffnung trug.
2009 zum Beispiel, als klar wurde, dass
von den 42 Blutspuren am Tatort keine
ihm zugeordnet werden kann. Oder 2010,
als der damalige demokratische Gouver-
neur von Virginia, Tim Kaine, an seinem
letzten Tag im Amt entschied, dass Söring
nach Deutschland überstellt wird. Da war
er fast ein freier Mann. Aber dann be-
schloss der neue, republikanische Gouver-

neur Robert F. McDonnell an seinem ers-
ten Tag im Amt zwei Dinge. Zum einen ver-
fügte er, dass die öffentlichen Toiletten an
den Schnellstraßen in Virginia wieder ge-
öffnet werden sollen. Zum anderen wider-
rief er den Gnadenakt seines Vorgängers.
Söring und die Toiletten. Damals waren sie
in Deutschland schon vorbereitet, eine Ge-
fängniszelle in Ulm war hergerichtet. Es
stand ein Glas Nutella bereit. Aber er kam
ja nicht.
Damals sagte er: „Ich bin in der Verlän-
gerung. Ich kämpfe weiter, ich spiele wie
verrückt, aber ich bin schon lange über die
Grenze hinaus. Ich habe manchmal das Ge-
fühl, dass ich wie ein Mensch bin, der ge-
storben ist, aber die Leiche zuckt noch,
weil man elektrische Paddel draufsteckt.“
Das war im Dezember 2010. Er saß da, ge-
fasst und doch auf eine seltsame Art außer
sich. Weinen? „Ich habe damit aufgehört.“
2016 wurde bekannt, dass es ein FBI-Tä-
terprofil gibt, das von einer Täterin aus-
geht, die der Familie nahestand. Es ist bis
heute nicht auffindbar, der Autor des Pro-
fils sagte noch, beim FBI gehe nichts verlo-
ren. Im selben Jahr bestätigte das
Gerichtsmedizinische Institut in Virginia,
dass das am Tatort gefundene Blut der
Blutgruppe 0 nicht, wie immer vermutet
worden war, von Jens Söring stammt. Und
dass außerdem das Blut der Blutgruppe AB
am Tatort von einem Mann stammt, nicht
von der ermordeten Nancy Haysom, wie
man bislang annahm. Damit war klar, dass
Blutspuren von zwei bis heute unbe-
kannten Männern am Tatort identifiziert
wurden.
Jens Söring war so sicher, dass ihn das
Parole Board bei dieser zwölften Anhörung
und nach all den neuen Erkenntnissen auf
Bewährung freilassen würde, dass er das
erste Mal eine Tasche gepackt hatte. Eine
Tasche für die Freiheit. Er saß da und er-
zählte, dass er die Gefängnisjeans keine Se-
kunde länger anhaben wolle, und das Ge-

fängnishemd, hellblau, so falsch wie das
Fleisch, das sie ihnen im Gefängnis geben.
Auf dem Kärtchen an seinem Hals standen
die Daten, mit denen er seit Jahren verwal-
tet wird: 01. 08. 1966, Haarfarbe: braun.
Augen: braun. Gewicht: 170 Pfund. Größe:
5 Fuß, 11 Inches. Race: W. Sex: M.
Damals traten vor dem Parole Board am
6900 Atmore Drive in Richmond wie im-
mer mehrere Fürsprecher auf. Darunter
Chuck Reid, einer der Ermittler, der im
Jahr 1985 an dem Mordfall Haysom arbeite-
te. Er hat alle Akten durchgearbeitet und
ist seit Jahren davon überzeugt, dass Jens
Söring unschuldig ist. Außerdem die ehe-
malige stellvertretende Staatsanwältin
von Virginia, Gail Marshall, die seit 2003
sagt, dass hier der Falsche im Gefängnis
sitzt. Das Parole Board aber lehnte die Be-
währung ab.

Es sind viele, die sich über die Jahre für
die Freilassung von Jens Söring einsetzten:
Christian Wulff, Christoph Strässer, die
Kanzlerin. Aber die meisten Menschen, die
sich für Jens Sörings Freiheit einsetzten,
sind Amerikaner.
Der Schauspieler Martin Sheen zum
Beispiel und der Bestsellerautor John
Grisham, der Musikproduzent Jason Flom.
Dann ist da der republikanische Sheriff
Chip Harding, zuständig für das County
Albemarle, er schrieb im Mai 2017 einen
19-seitigen Brief an den Gouverneur von
Virginia, in dem er Punkt für Punkt die „Be-
weise“ zerlegt, die der leitende Staatsan-
walt im Söring-Prozess 1990 vorbrachte.
Der Sockenabdruck, das fehlerhafte Ge-
ständnis, das Alibi, das Motiv. Es ist ein
Brief, der gnadenlos Widersprüche und

fehlende Beweise auflistet. Am Ende des
Briefes forderte Sheriff Harding die Freilas-
sung von Jens Söring. „Fast jedes Beweis-
stück, das damals von der Staatsanwalt-
schaft angeführt wurde, war fehlerhaft,
unseriös oder wissenschaftlich wider-
sprüchlich.“ Mit besten Grüßen J.E. „Chip“
Harding.
14 Mal hat das Parole Board in den
vergangenen Jahren über Sörings Leben
entschieden. Immer kam derselbe Inter-
viewer, stellte dieselben Fragen, lehnte mit
denselben Phrasen die Bewährung ab.
Diesmal kam eine Frau, stellte andere Fra-
gen. Es sitzen neue Leute im Parole Board.
Kemba Smith Pradia zum Beispiel, die
2000, nach sechseinhalb Jahren Haft, von
Bill Clinton begnadigt wurde. Verurteilt
worden war sie zu vierundzwanzigeinhalb
Jahren. Sie weiß, was es heißt, ins Leben zu-
rückzukommen.
Es gab schon länger Hinweise, dass die
Entscheidung des Bewährungsausschus-
ses von Virginia diesmal anders ausfallen
könnte. Im Gefängnis gab es Gerede, die
Mitgefangenen stritten schon, wer Jens
Sörings Bett bekommen soll, wenn er dann
weg ist. Und Jens Söring fing an, Bilanz zu
ziehen.

Schon die Tatsache, dass er noch lebt,
sei ein Sieg, schrieb er. Ein bleicher, schlau-
meiernder Deutscher in einem US-Knast.
Aber in all den Jahren keine Regelbrüche,
gar nichts: „Ich habe meine Ehre nicht
verloren und anderen Menschen ihre Ehre
nicht genommen.“ Das, schreibt er, sei die
zweite Schlacht, die er gewonnen habe, die
Schlacht gegen die Mitgefangenen.
Und jetzt?
Er hat noch nie ein Handy benutzt,
kennt das Internet nur vom Hörensagen.
Es ist nicht so, dass er nichts mitbekom-
men hätte, er hat alles verfolgt, gelesen,
angeschaut, und vor allem: kommentiert.
Natürlich, es gab Zeiten, in denen ertrug er
es nicht fernzusehen, Werbung machte ihn
fertig, das saftige Steak, das er da sah, ech-
tes Fleisch. Er hatte seit Jahrzehnten kein
Fleisch mehr gegessen. Wie es schmeckt?
„Ich kann mich nicht erinnern“, sagte er
2010.
Oder im März 2015, als er den Film
„Conviction“ mit Hilary Swank sah. Da-
mals schrieb er einen Brief, dass er den
Film nicht hätte anschauen sollen. Er sei
danach am Ende gewesen, diese Justiz-
irrtumsgeschichten träfen ihn mitten ins
Herz, der Moment, in dem ein Richter das
Urteil kippt. „Wenn also das verdammte
System endlich formell eingesteht, dass da
etwas ganz schlimm schiefgelaufen ist.“
Was macht ein Mensch, der mehr als
33 Jahre vom Leben weggesperrt war und
jetzt wieder hineingespült wird?
Wenn man Jens Sörings Anwalt Steve
Rosenfield fragt, wie es weitergehen wird,
wenn Jens rauskommt, ist erst mal Stille
am Telefon. „Paperwork“, sagt er, haufen-
weise Formulare, Papiere, die ausgefüllt
und abgestempelt werden müssen. In der
deutschen Botschaft liegt schon ein Pass
für Söring bereit. Rosenfield stöhnt leise
am Telefon, wenn er an all die Kämpfe
denkt, die sie zusammen gekämpft haben.
„Es war eine Achterbahnfahrt“, sagt er.
Wenn man Jens Söring fragt, wie es wei-
tergehen wird, wenn er endlich in Deutsch-
land ist, schreibt er noch vor Bekanntgabe
der Parole-Board-Entscheidung aus dem
Gefängnis: „Ich werde weiter als Autor ar-
beiten.“ Sechs Bücher hat er als Häftling in
den USA veröffentlicht, drei davon wurden
ins Deutsche übersetzt. Sie sind sein Stolz,
bei einem Interview 2006 trug er sie im
Arm wie kleine Kinder. Er hat über Gott ge-
schrieben und über sein Leben. Und im-
mer wieder über das US-Strafvollzugssys-
tem. Er schreibt, wie er ist, aufmüpfig und
etwas besserwisserisch und bestens infor-
miert. Einmal haben sie ihn wochenlang
insholegesteckt, und als er rauskam, hat
er trotzdem weitergeschrieben. Dann erst
recht. Das war seine dritte Schlacht, seine li-
terarische, schreibt er. Und ja, so wie er das
sieht, habe er die letztlich auch gewonnen.
Gerade hat er seinen ersten Roman ver-
öffentlicht, er ist seit dem 18. November als
E-Book zu haben: „Son of the Promise“. Es
geht um einen Mord in einer Stadt, die
Lynchford heißt.
Auf Sörings Homepage steht seit einiger
Zeit „Was mich nicht umbringt, macht
mich stärker“, von Friedrich Nietzsche. So
fühlt er sich. Stark. Natürlich kann sich das
wieder ändern. Wer hätte nicht Angst vor
der Freiheit, vor einer Welt, die er nicht
kennt. Und noch ist er in den USA.
Am Dienstag hieß es erst, dass Jens
Söring noch im Buckingham Correctional
Center ist, später dann kam die Nachricht,
dass er der Einwanderungsbehörde über-
geben wurde. Eine Freundin, die mit ihm
sprach, erzählt, dass er ruhig war und posi-
tiv. Ohne Bitternis.
Wenn er in Deutschland ankommt,
schreibt Jens Söring, habe er endlich auch
seine vierte Schlacht gewonnen. Und dann,
und das ist das Letzte, was man von ihm
hört, bevor die Nachricht von seiner Be-
währung um die Welt geht, nach dreiund-
dreißigeinhalb Jahren im Gefängnis,
schreibt Jens Söring, der Gefangene Num-
mer 1161655: „Ich bin stolz auf mein
Leben.“

DEFGH Nr. 274, Mittwoch, 27. November 2019 (^) DIE SEITE DREI HF2 3
Er hat noch nie ein Handy
benutzt, nicht das Internet, er
wird all das erst lernen müssen


12262 Tage


Der Deutsche Jens Söring wurde in den USA für einen


Doppelmord verurteilt, den er immer bestritten hat. Seit mehr als 33 Jahren sitzt er in Haft.


Jetzt hat er erfahren, dass er bald ein freier Mann sein wird


von karin steinberger


Söring hat sich, so viel kann man


sichersagen, im Jahr 1984


in das falsche Mädchen verliebt


ILLUSTRATION: STEFAN DIMITROV

Der republikanische Sheriff
Chip Harding zerlegte dann
2017 die komplette Beweislage

Als klar wurde, dass keine der
42 Blutspuren ihm zugeordnet
werden kann, hatte er Hoffnung
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