Süddeutsche Zeitung - 27.11.2019

(ff) #1
von stefan kornelius

J


ean-Claude Juncker wäre vermut-
lich geschmeichelt, wenn man ihn
als letzten Europäer bezeichnete. Na-
türlich ist Juncker nicht der letzte Europä-
er, jede Generation bringt Politiker her-
vor, die im Geflecht der Institutionen auf-
gehen und für die Idee des Staatenverbun-
des brennen. Wenn aber Juncker am En-
de dieser Woche die Bühne verlässt, dann
endet eine europäische Zeitrechnung, die
nun schon mehr als eine Generation dau-
ert und in die Kohl-Kanzlerschaft und die
Phase der deutschen Vereinigung zurück-
reicht. Insofern ist Juncker der letzte
Europäer Kohl’scher Art.
18 Jahre lang war Juncker Premiermi-
nister, davon acht Jahre auch Vorsitzen-
der der Euro-Gruppe. Fünf Jahre lang
führte er die EU-Kommission, und weil
er aus Luxemburg kommt, brachte er die
wichtigsten Tugenden mit, über die ein
europäischer Politiker verfügen muss: Er
ist kompromissfähig und vergisst nicht,
wie dieses Europa und vor allem seine
mächtigen Mitspieler aus der Perspekti-
ve der kleinen Staaten wirken.
Juncker kennt die bedrückende Ge-
schichte Europas. Nationalismus ist ei-
nem Luxemburger wesensfremd, er
kennt das selbstverliebte Desinteresse
der großen Nachbarn Deutschland und
Frankreich und bewegt sich geschmeidig
dazwischen. Wer zu Hause Politik wie in
der Kleinstadt betreibt, der weiß auch,
wie Netzwerke in der EU funktionieren.
Europa als sehr persönliches Beziehungs-
geflecht – das ist Junckers Vorstellung.
Dem Mann muss man nicht sagen,
dass Europa aus 28 Nationalstaaten be-
steht und die Kommission eine dienende
Funktion hat. Gelernt hat er das in seinen
Regierungsjahren im Europäischen Rat,
den er viel lieber als die Kommission hät-
te führen wollen. So kam es aber nicht,
weshalb Juncker den Verwaltungsappa-

rat in eine „politische Kommission“ oder
gar in eine „Kommission der letzten Chan-
ce“ umbenannte. Das klang ein bisschen
dramatischer, als es am Ende war, spielt
aber auf den Mangel an Vertrauen an, un-
ter dem die Kommission litt. Juncker
konnte das Problem verringern, indem er
den Aktionsradius des Apparats be-
schnitt, der sich etwa an der Zahl der Ver-
ordnungen bemessen lässt. Spätestens
seit der Griechenland-Krise war klar,
dass die Entscheidungshoheit bei den Re-
gierungschefs im Rat liegt.

Ihre letzte Chance musste die Kommis-
sion glücklicherweise noch immer nicht
ergreifen, allerdings waren auch die Jun-
cker-Jahre der Abwehr gewidmet: Der
Brexit, die Rechtsstaatsverletzungen im
Osten, die Migrationskrise – Europa
muss permanent Fliehkräften entgegen-
wirken und zieht sich so den Vorwurf zu,
träg zu sein. Dabei ist Beharrung in hoch-
beweglichen Zeiten manchmal auch
schon ein Erfolg.
Kein Erfolg ist indes, dass dieses wirt-
schaftlich so starke Europa kein Selbstbe-
wusstsein entwickelt hat in einer sich neu
polarisierenden Welt. China und die USA,
aber auch Russland haben es noch immer
zu leicht mit der EU und spielen die 28 ge-
geneinander aus. Die künftige Kommissi-
onspräsidentin wird das nur aufhalten
können, wenn sie tut, was die anderen im
Rat scheuen: Europa als selbstbewussten
außenpolitischen Akteur zu präsentie-
ren. Der Rat wird der Kommissionspräsi-
dentin den Auftrag dazu nicht herabrei-
chen – sie muss ihn sich schon nehmen.
Juncker war dann zu sehr auf das Binnen-
klima bedacht, als dass er diese Konfron-
tation eingegangen wäre.

von peter münch

F


ür die Beteiligten war es vermutlich
das ganz normale Procedere. „Do ut
des“ nennt das der Lateiner (ich ge-
be, damit du gibst), und der Österreicher
spricht von Freunderlwirtschaft und Pos-
tenschacher. In diesem Fall war ein Pos-
ten zu besetzen bei der teilstaatlichen Casi-
nos Austria AG (Casag). Eine ÖVP-Politike-
rin wurde zur Generaldirektorin ernannt,
und die Regierungspartner von der FPÖ
schickten einen der ihren als Finanzvor-
stand ins Rennen. Peter Sidlo fehlte zwar
offenkundig die Qualifikation, aber er be-
kam den Job. Bingo, die Strippenzieher
verschickten Dankadressen und fröhliche
Emojis. Doch mit Verspätung ist plötzlich
die Aufregung groß: Die Staatsanwälte er-
mitteln wegen Korruption, das Parlament
ist am Dienstag zu einer Sondersitzung zu-
sammengekommen. Die Casinos-Austria-
Affäre schlägt Wellen, die tatsächlich Ös-
terreich verändern könnten.
Sprengkraft hat dieser Fall aus ver-
schiedenen Gründen. Zum einen, weil die
Ermittler dem Verdacht nachgehen, dass
es im Gegenzug für die Bestallung des
FPÖ-Politikers um zusätzliche Spiellizen-
zen vom Staat für den an der Casag betei-
ligten Glücksspielkonzern Novomatic
ging. Überdies ist dieser Postenschacher
nicht wie üblich im Dunst der Hinterzim-
mer verblieben, sondern ist gut dokumen-
tiert durch sichergestellte Chat-Protokol-
le, in denen sich unter anderem der frühe-
re FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Chris-
tian Strache und der Ex-ÖVP-Finanzmi-
nister Hartwig Löger austauschen. Und
nicht zuletzt herrscht gerade ein günsti-
ges Ermittlungsklima für den Fall, weil
seit Anfang Juni in Wien eine überparteili-
che Expertenregierung amtiert.
Was sich da auftut in der Casinos-Aus-
tria-Affäre ist allerdings alles andere als
neu in Österreich. Zum geflügelten Wort
ist ein Ausspruch des damaligen Bundes-

präsidenten Rudolf Kirchschläger gewor-
den, der schon anno 1980 das „Trockenle-
gen von Sümpfen und sauren Wiesen“ ge-
fordert hatte. Die Verfilzung von Parteien
und Konzernen, ein System des Gebens
und Nehmens, wird seit jeher als eine zur
Alpenrepublik gehörende politische Folk-
lore betrachtet. Über Jahrzehnte haben
sich die Regierungsparteien ÖVP und SPÖ
das Land untereinander aufgeteilt. Die
FPÖ, die in der Opposition immer beson-
ders laut dagegen agitierte, war als Regie-
rungspartei dann stets besonders plump
auf ihre eigenen Pfründe bedacht.

So ist die Justiz heute immer noch mit
der Aufarbeitung der Vorfälle aus der ers-
ten schwarz-blauen Regierungszeit von
2000 bis 2005 beschäftigt – und nun
kommt gleich schon eine neue Causa aus
der gerade beendeten zweiten Phase von
ÖVP und FPÖ dazu. Die Mühlen mahlen al-
so langsam. Umso wichtiger ist es, den He-
bel nun bei einer grundlegenden Verände-
rung der politischen Kultur anzusetzen.
Eine Chance dazu liegt in den Koaliti-
onsgesprächen zwischen ÖVP und Grü-
nen. Zwar wirft die Casinos-Austria-Affä-
re auch auf diese Verhandlungen einen
Schatten. Denn zu klären bleibt die Frage,
was Sebastian Kurz als Kanzler von diesen
Vorgängen wusste, in die sein Partei-
freund und Finanzminister Löger invol-
viert war. Die Grünen jedoch haben sich of-
fenbar keine Scheuklappen angelegt. Sie
fordern schonungslose Aufklärung und ei-
nen neuen Regierungsstil. Ein Neuanfang
kann nur gelingen, wenn sich die nächste
Regierung schon im Koalitionsvertrag
klar zur Transparenz und zum Ende von
Freunderlwirtschaft und Postenschacher
bekennt.

Ihr Satz „Wir wähnten uns sicher“ hat das
Potenzial, zum geflügelten Wort zu wer-
den in diesen Tagen. Nach dem wohl spek-
takulärsten Raub in einem deutschen Mu-
seum war es an Marion Ackermann, vor
Kameras und Mikrofonen irgendwie die
Fassade zu wahren – nachdem die Video-
bilder gezeigt hatten, wie Einbrecher mit
Feuer, Flex und Axt die Sicherheitstech-
nik überwunden hatten. Die Generaldirek-
torin der Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden verzichtete auf Schuldzuweisun-
gen, beispielsweise gegenüber ihrem Vor-
gänger, der die Sicherheitslage prahle-
risch mit Fort Knox verglichen hatte.
Stattdessen wies Marion Ackermann le-
bensklug darauf hin, dass es eben „keine
hundertprozentige Sicherheit gibt“, und
erklärte geduldig, was den Juwelenschatz
des Barockherrschers August des Starken
auszeichnet; nicht ohne fast augen-
zwinkernd darauf hinzuweisen, dass der
Schmuck zu dessen Lebzeiten offen aus-
lag, inmitten von raffinierten Spiegeln,
die sein Funkeln noch vervielfachten.
Auch wenn die Hüterin der Schatzkam-
mer Sachsens nicht viel mit Gemmologie
zu tun hatte, als sie vor drei Jahren die Lei-
tung der Staatlichen Kunstsammlungen
übernahm, so könnte es unter ihren Kolle-
gen kaum einen geben, der so überzeu-
gend gleichermaßen betroffen wie beson-
nen auftreten kann.
Die im Jahr 1965 in Göttingen gebore-
ne Marion Ackermann lebte als Kind auch
in Ankara und ging als Kunsthistorikerin
zunächst nach München, wo sie an der
Akademie lehrte und im Lenbachhaus ar-
beitete. Sie gilt als Ausnahmetalent, seit
sie im Jahr 2003 als bis dahin jüngste Di-
rektorin Deutschlands in Stuttgart beru-
fen wurde, wo sie die Städtische Galerie in

ein beachtetes Museum verwandelte.
Schon sechs Jahre später wechselte sie an
die Kunstsammlungen Nordrhein-West-
falen, eine der schönsten und reichsten
Kollektionen der Moderne und Nach-
kriegskunst hierzulande. Dort schien sie
in ihrem Element zu sein, hatte sie doch
über Wassily Kandinskys biografische
und theoretische Schriften promoviert.
Doch Marion Ackermanns Ziel waren
nicht nur Blockbuster-Ausstellungen zu
den bekannten Meistern. Sie bemühte
sich um eine Erweiterung des Kanons,
zeigte und kaufte gezielt die Kunst von
Frauen und besetzte ihr Team divers.

Das muss den Dresdner Kulturbe-
hörden aufgefallen sein, die der dem 20.
und 21. Jahrhundert verpflichteten Acker-
mann im Jahr 2016 einen Museumsver-
bund anvertrauten, dem in Deutschland
nur Berlin und München auf Augenhöhe
begegnen können: Insgesamt 14 Häuser
gehören dazu, darunter sind auch die
Sammlungen des Residenzschlosses und
des Zwingers, Albertinum, Rüstkammer,
Japanisches Palais und – eben auch – das
Grüne Gewölbe, in dem die Juwelen ver-
wahrt waren. Bei der Berufung litten die
Museen allerdings an Besucherschwund,
nachdem Bilder von Pegida-Demonstrati-
onen und rassistischen Ausschreitungen
in Dresden Touristen vergraulten.
In dieser Situation predigte die interna-
tional vernetzte Kuratorin nicht nur Welt-
offenheit und Dialogbereitschaft. Noch
bevor sie ein Symposium zur Museums-
kultur einberief, setzte sie sich in einen
Kleinbus und besuchte sächsische Hand-
werker, Weber, Uhrenbauer oder Werk-
stätten für Blaudruck. Zudem verlangte
sie von ihren Kollegen, sich der Kunst-
geschichte der DDR-Zeit „mit frischem
Blick“ zuzuwenden, ließ ostdeutsches De-
sign erforschen und besetzte die Stelle ei-
nes Archivars mit einem Kurator, der in
Brasilien gerade von der rechtsgerichte-
ten Regierung gefeuert worden war.
Politisch hat Marion Ackermanns seit-
her viele Angriffe überstehen müssen.
Doch ganz gleich, ob der Verlust der Juwe-
len sich in ein- oder zweistelligen Millio-
nensummen beziffern lassen wird – ihr
diplomatisches Geschick wird jetzt erst
wirklich auf die Probe gestellt werden.
Für die auf Ewigkeit angelegte Institution
Museum ist ein solcher Verlust das größte
Trauma. catrin lorch

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCHDEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
Karin Kampwerth, Stefan Simon
ARTDIRECTOR:Christian Tönsmann; Stefan Dimitrov
BILD:Jörg Buschmann
CHEFS VOM DIENST: Fabian Heckenberger, Michael König
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sind verantwortliche Redakteure im Sinne des Gesetzes über
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FRANKFURT:Susanne Höll, Kleiner Hirschgraben 8,
60311 Frankfurt,Tel. (0 69) 2 99 92 70
HAMBURG:Peter Burghardt, Poststr. 25,
20354 Hamburg, Tel. (0 40) 46 88 31-
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76135 Karlsruhe, Tel. (07 21) 84 41 28
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Zamdorfer Straße 40, 81677 München

EUROPA

Der Letzte seiner Art


ÖSTERREICH

Geben und viel nehmen


sz-zeichnung: pepschgottscheber

D


er Preis der Versäumnisse hat in
der Theorie der Klimapolitik
längst seinen festen Platz. Grob
kalkuliert hatte das der britische Ökonom
Lord Nicholas Stern schon 2006; die Bot-
schaft war recht einfach: Wer sich mit
dem Klimaschutz Zeit lässt, der wird
später einmal doppelt und dreifach drauf-
zahlen. Es mag teuer sein, die Treibhaus-
gase aus Industrie, Verkehr und Alltag zu
verbannen. Aber viel teurer kommt es, das
nicht zu tun. Dafür sorgen die Schäden
der Erderhitzung.
Die traurige Praxis, im November 2019:
Das UN-Umweltprogramm stellt fest, dass
sich die Staatengemeinschaft von ihren Kli-
mazielen entfernt, statt sich anzunähern.


Die Emissionen sind nicht gesunken, son-
dern gestiegen. Und die Bundesregierung
legt einen Lagebericht zum Klimawandel
vor, der alle Berechnungen Sterns bestä-
tigt: Die Kosten steigen Jahr für Jahr – ob
zur Kompensation von Ernteausfällen, im
Gesundheitswesen oder in der Katastro-
phenvorsorge. Willkommen in den ersten
Ausläufern des Klimawandels.
Es mag noch Chancen geben, den
schlimmsten Folgen zu entgehen. Aber
mit jedem Jahr, in dem die Emissionen
nicht sinken, wird die Klimawende nur
noch schwieriger. Gelingt sie nicht recht-
zeitig, wäre das ein Versagen planetaren
Ausmaßes. Leider wird es Zeit, sich darauf
einzustellen. michael bauchmüller

S


o billig war die Weltrettung noch nie:
Mit diesen Worten wirbt Luisa Neu-
bauer, Sprecherin von Fridays for Fu-
ture, für eine kostenpflichtige „Bürger*in-
nenversammlung“ im Berliner Olympia-
stadion. Für 29,95 Euro versprechen die
Veranstalter ein „einzigartiges Event“. Da-
von distanzieren sich nun selbst Anhän-
ger der Klimabewegung. Die Kritik lautet:
Wer politische Teilhabe vom Geldbeutel
abhängig mache, schließe weniger privile-
gierte Menschen aus.
Immerhin wirft die Veranstaltung ein
Schlaglicht auf ein Problem, das auch
andere Initiativen und nicht zuletzt die
Parteien kennen. Denn der Zugang zu poli-
tischer Teilhabe ist nicht für alle gleich.


Geld, Zeit, Bildung und Netzwerke spielen
eine große Rolle. In vielen Initiativen etwa
ist das Bildungsbürgertum überproportio-
nal vertreten, Leute mit gutem Einkom-
men, Kontakten und Erfahrung darin, ih-
ren Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Die alleinerziehende Mutter mit prekä-
rem Job hingegen findet schwer noch Zeit
und Energie für politisches Engagement.
Neue Bewegungen, vor allem solche
mit einem basisdemokratischem An-
spruch, müssen sich daher immer fragen:
Wie können wir möglichst viele Leute
erreichen und mitnehmen? Auf eine politi-
sche Veranstaltung ein Preisetikett von
29,95 Euro zu kleben, ist definitiv der fal-
sche Weg. hannah beitzer

I


n Justiz und Politik scheinen einige
genug zu haben von einer Zivilgesell-
schaft, die nervt. Das zeigte sich be-
reits beim Urteil des Bundesfinanzhofs ge-
gen Attac, mit einer extrem engherzigen
Auslegung des Begriffs der Gemeinnützig-
keit. Dies lässt bestimmte, nicht finanz-
kräftige Stimmen im Diskurs verstum-
men. Auch die geplante Neuregelung der
Gemeinnützigkeit aus dem Finanzminis-
terium von Olaf Scholz dürfte dazu beitra-
gen. Wer politisch mitdiskutieren will, so
lässt sich dieser Entwurf zusammenfas-
sen, der soll halt in eine Partei eintreten.
Wenn ein Konzern für seine Meinung
werben möchte, zum Beispiel mit Anzei-
genkampagnen gegen das Rentenpaket


oder den Mindestlohn, dann sagt der
Staat: bitte, gern. Das Unternehmen kann
jeden Cent als Werbekosten von der Steu-
er absetzen. Wenn ein Verein, der keinen
Profit generiert, dasselbe tun möchte,
prüft der Staat knauserig die Gemein-
nützigkeit. Und künftig noch knauseriger:
Nur wenn die politische Betätigung „weit
in den Hintergrund tritt“, so will es der
Minister, gibt es Steuererleichterungen.
Das könnte viele Vereine kaltstellen,
die bisher in der Politik intervenieren. Die
Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Re-
gimes, die soeben ihren Status der Ge-
meinnützigkeit in Berlin verloren hat, wä-
re dann nicht das letzte, sondern nur eines
von bald vielen Opfern. ronen steinke

E


inmal angenommen, jemand
hätte vor gut einem Jahr eine
Weltreise angetreten und wäre
erst zum Leipziger CDU-Partei-
tag in der vergangenen Woche
zurückgekehrt: Er würde sein Land kaum
wiedererkannt haben, jedenfalls nicht am
Zustand der Union. Die CDU, lange eine ef-
fiziente Machtmaschine, stottert orientie-
rungslos, inhaltsleer und mit ungeklärten
Führungsfragen vor sich hin. Die CSU hin-
gegen überrascht als stabiler Motor einer
insgesamt instabilen Koalition. Dabei war
es die CSU, die die Bundesregierung und
die Unionsgemeinschaft im Sommer 2018
fast zur Implosion gebracht hat – getrie-
ben von der Panik vor einer für sie desas-
trös endenden bayerischen Landtags-
wahl. Und dann auch noch das: Ausgerech-
net der Mann, der die Spaltung der Union
in besonderem Maße riskiert hat, gilt
plötzlich als deren Heilsbringer.


Ein Grußwort von Markus Söder hat ge-
reicht, um das politische Deutschland in
Wallung zu versetzen. Das sagt viel aus
über die Lage der Union, aber noch mehr
über die Aufgeregtheit, mit der auf Dinge
reagiert wird, die nüchterne Einordnung
verlangen. Söder hielt in Leipzig eine gute
Rede, dieselbe, die er auch in Bayern seit
Monaten immer wieder hält. Er sprach
schwungvoll und witzig, allein das unter-
scheidet ihn markant von Angela Merkel
und Annegret Kramp-Karrenbauer. Ihn
deshalb aber gleich zum Rockstar der Kon-
servativen oder zur Reinkarnation Barack
Obamas auszurufen, wie das selbst seriö-
se Medien nur halb-ironisch tun, passt zu
einer latenten Grunderregung, die nur
noch Superlative kennt.
Dass Söder inzwischen als Kanzlerkan-
didat der Union genannt wird, hat er weni-
ger sich selbst als der Schwäche der CDU
zu verdanken. Ja, der CSU-Chef und bay-
erische Ministerpräsident macht seit ei-
nem Jahr vieles richtig. Er hat seine schar-
fe Rhetorik abgelegt wie einen alten Man-
tel. Er erkennt Stimmungen in der Bevöl-
kerung und setzt sie sogar gegen Vorbehal-
te in seiner Partei in Politik um, wie zum
Beispiel das Volksbegehren für mehr Ar-
tenschutz. Er hat ein milliardenteures Zu-
kunftsprogramm gestartet, mit dem Bay-
ern weltweit bestehen will. Er hat im Bund
eine Einigung bei der Grundrente forciert,
die soziale Härten abfedern soll.
Söder will ein Ministerpräsident für al-
le sein und nicht mehr nur für CSU-Hardli-
ner. Er hat in seiner kurzen Regierungs-
zeit angedeutet, dass Deutschland mit die-


sem Pragmatiker der Macht im Kanzler-
amt womöglich nicht dem Untergang ge-
weiht wäre, so wie es manch einer auch
für Bayern prophezeit hatte. Und doch
müsste ein Wunder geschehen, sollte er
bei der nächsten Bundestagswahl als Spit-
zenkandidat die Union anführen.
Zwei CSU-Vorsitzende griffen bislang
nach der Kanzlerschaft. Sie waren beide
von Statur und Erfahrung her weiter, als
Söder es wohl jemals sein wird. Franz Jo-
sef Strauß und Edmund Stoiber traten an,
weil die CDU es gestattete – und mit teils
mäßigen Aussichten gegen Kanzler der
SPD. Helmut Kohl wird froh gewesen sein,
dass er sich 1980 durch eine vermutlich
zweite Niederlage gegen Helmut Schmidt
nicht für immer beschädigt hatte. Angela
Merkel galt 2002 als zu schwach, um Ger-
hard Schröder herauszufordern.
Auch heute trauen weite Teile der CDU
ihrer Vorsitzenden nicht zu, die Macht zu
sichern. Anders als bei Merkel und Stoiber
gibt es aber genügend Bewerber, die ihre
Ambitionen schwer verhehlen können. All
jene in der CDU, die derzeit um die Gunst
des Kandidatenmachers Söder buhlen,
werden ihn bekämpfen, sollte er ihnen in
die Quere kommen. Ehe ein CSU-Chef mit
erst 52 Jahren das Kanzleramt blockiert,
lassen sie lieber Kramp-Karrenbauer in
die Schlacht ziehen – auch auf die Gefahr
einer Niederlage hin.
Als späterer Generalsekretär Stoibers
hat Söder verinnerlicht, wie schwer ein
CSU-Mann bundesweit zu vermitteln ist.
Strauß und Stoiber verloren im Norden
und Westen; und heute ist selbst der Sü-
den für die Union keine Bastion mehr, wie
Baden-Württemberg zeigt. Zudem hat Sö-
der seine Macht in Bayern gerade erst ge-
festigt, die Doppelrolle als Parteichef und
Ministerpräsident gefällt ihm immer
mehr. Eine Niederlage im Bund würde al-
les gefährden: seine eigene Position wie
den Anspruch der CSU, in Bayern wieder
die absolute Mehrheit zu erringen. Die-
sem Ziel ordnet die Partei alles unter.
Auch müsste Söder selbst als Kanzler ei-
ner schwarz-grünen Regierung schmerz-
hafte Kompromisse machen. So paradox
es klingt: Komfortabler für die CSU wäre
ein linkes Bündnis in Berlin. Bei der Land-
tagswahl 2023 muss Söder dann bewei-
sen, dass er seine Partei zwischen Grünen
und AfD zu neuer Stärke führen kann.
Zehntausende Menschen zogen vor ei-
nem Jahr gegen Söder auf die Straße. Er
wurde als Vampir verspottet, als Hetzer ge-
scholten. Er weiß also, wie schnell sich der
Ruf eines Politikers bei den Wählern än-
dern kann. Söder vernimmt daher die heu-
tigen Lockrufe zwar gern. Aber er wird
schlau genug sein, ihnen nicht zu folgen –
nicht in dieser Phase seiner Karriere in
Bayern, da er noch viel zu verlieren hat.

Wenn sich lange Risse durch
den Ackerboden ziehen, das
Vieh nichts mehr zum Gra-
sen findet, dann greifen viele
Völker zu alternativen Metho-
den, um Regen heraufzubeschwören: Mit
Federn und Tierfellen wird getanzt –
oder aber man wählt eine Praxis, die weni-
ger Rhythmusgefühl erfordert. In Jorda-
nien rief der Minister für islamische
Angelegenheiten, Mohammad Khalaileh,
zum landesweiten Regengebet auf. Das
Land leidet unter extremer Wasserarmut
und Trockenheit. Das sogenannte Salat
Al-Istisqa’ hat eine lange Tradition,
schon der Prophet Mohammed soll es ge-
betet haben. Die Herangehensweise ist
immer dieselbe: In zwei Gebetseinheiten
werden bestimmte Suren aus dem Koran
rezitiert, anschließend hält der Imam ei-
ne Predigt, vorzugsweise im Freien. Laut
einer Überlieferung aus der berühmten
Hadith-Sammlung Sahih al-Buchari soll
es nach einem Regengebet mal so stark
geschüttet haben („bei Allah, und wir sa-
hen die Sonne eine Woche lang nicht“),
dass der Prophet gebeten wurde, für ein
Ende zu beten. Da erhob der Gesandte Al-
lahs seine Hände und sagte: „Oh Allah un-
ser Gott, lass es um uns, nicht über uns
regnen. Oh Allah unser Gott, lass es auf
Höhen, Rinnen, Täler und Pflanzenge-
wächs regnen.“ Und tatsächlich: Es hörte
auf zu regnen. In Jordanien will man gera-
de einfach nur, dass es anfängt. dura

4 HF2 (^) MEINUNG Mittwoch,27. November 2019, Nr. 274 DEFGH
FOTO: MONIKA SKOLIMOWSKA/DPA
KLIMASCHUTZ


Theorie und Praxis


FRIDAYS FOR FUTURE

Engagement ist unbezahlbar


GEMEINNÜTZIGKEIT

Kleinkariert


MARKUS SÖDER


Wer zu früh kommt


von wolfgang wittl


AKTUELLES LEXIKON


Regengebet


PROFIL


Marion


Ackermann


Beklaute Hüterin
von Sachsens
Schatzkammer

Juncker hat vieles richtig
gemacht. Einen entscheidenden
Konflikt aber scheute er

Die Justiz arbeitet immer noch
die Skandale der ersten
Regierung aus ÖVP und FPÖ auf

Der CSU-Chef weiß: Die CDU


braucht ihn als Kanzlermacher,


will ihn aber nicht als Kanzler

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