Handelsblatt - 27.11.2019

(Barré) #1

Fulya Cayir München, Düsseldorf


M


artin Müller* hat
schon länger das
Gefühl, dass etwas
mit ihm nicht in
Ordnung ist. Doch
erst als der 51-Jährige aus Niedersach-
sen eine Trennung durchmacht,
merkt er, dass er professionelle Hilfe
braucht. Bevor er einen Arzt auf-
sucht, macht er das, was auch rund
1,5 Millionen Menschen pro Monat in
Deutschland machen. Müller startet
seine digitale Suchmaschine und
tippt Folgendes ein: „Habe ich eine
Depression?“
Mentale Krankheiten sind immer
noch ein Tabuthema in der Gesell-
schaft. Viele Menschen, die an psy-
chischen Störungen leiden, teilen ih-
re Probleme nicht ihrem Umfeld mit.
Deshalb suchen sie eigenständig
nach Lösungen. „Selbst der Gang
zum Hausarzt, der die Überweisung
zu einem Psychotherapeuten ausstel-
len soll, fällt den meisten schwer“,
sagt Felix Frauendorf. Der studierte
Betriebswirt ist Co-Gründer des Start-
ups und der gleichnamigen App
Moodpath. Ihr Vorteil für Nutzer sei
eine deutlich niedrigere Hemm-
schwelle, weil sie zunächst für sich
herausfinden könnten, ob sie an ei-
ner Depression erkrankt seien.

100 000 Gesundheits-Apps


Smartphones sind schon lange stän-
dige Begleiter der Menschen und ent-
wickeln sich mehr und mehr zum all-
täglichen digitalen Berater. Auch
wenn es um die Gesundheit geht,
können Nutzer auf mobile Anwen-
dungen zurückgreifen. Moodpath ist
nach Angaben der Stiftung Warentest
eine von mittlerweile 100 000 Ge-
sundheits-Apps auf dem Markt. „Da
selbst psychisch Erkrankte bezie-
hungsweise depressive Menschen re-
gelmäßig und intensiv ihre Smartpho-
nes nutzen, kam es zu der Idee, eine
App für diese Patienten zu entwi-
ckeln“, erklärt Frauendorf.
Moodpath hat das sogenannte
Stimmungstagebuch digitalisiert, das
jeder Patient im Rahmen einer De-
pressionstherapie führen muss. Nut-
zer der App bekommen auf Wunsch
nach Ablauf von 14 Tagen „eine fun-
dierte Einschätzung“ als PDF-Datei.
Mit dieser Datei, in der die Felder für
persönliche Daten freistehen – denn
Moodpath garantiert absolute Anony-
mität –, können die Nutzer dann je
nach Einschätzung zu einem Thera-
peuten gehen. Darüber hinaus bietet
die App Text- und Audio-Inhalte, die
eine potenzielle Therapie ergänzen
und unterstützen sollen. Dazu gehö-
ren beispielsweise Achtsamkeits-
übungen oder Informationstexte
zum Krankheitsbild Depression.
Ähnlich funktionieren auch Dut-
zende weitere Apps auf dem Markt.
Deprexis 24 und Selfapy sind bei-
spielsweise genauso wie Moodpath
als Medizinprodukte CE-zertifiziert
und bieten unter anderem Achtsam-
keitsübungen, das digitalisierte Stim-
mungstagebuch oder den Test zur
Überprüfung einer möglichen psy-
chischen Krankheit an.
Die Deutsche Psychotherapeuten-
Vereinigung ist nach Angaben der
Bundesvorsitzenden Barbara Lubisch
Gesundheits-Apps gegenüber aufge-
schlossen, sofern ein Therapeut oder
ein Arzt die Nutzung anordnet. Aller-
dings sieht sie einige Anwendungsbe-
reiche von Moodpath kritisch: „Es
wäre fatal, wenn Moodpath einem
Schwerdepressivem mit diesem ‚Ärz-
tebrief ‘ bescheinigt, dass mit ihm al-
les in Ordnung ist“, mahnt Lubisch
und ergänzt: „Die Berufsordnung der

Psychotherapeuten sagt aus gutem
Grund, dass eine Diagnose nur im
persönlichen Kontakt erfolgen darf.“
Frauendorf kann die Kritik nachvoll-
ziehen, aber verspricht: „Wir versu-
chen, dieses Risiko natürlich zu mini-
mieren, indem wir kontinuierlich Va-
lidierungsstudien mit angesehenen
Forschungs- und Kooperationspart-
nern durchführen.“
Offiziell distanziert sich Co-Grün-
der Frauendorf auch davon, dass
Moodpath Diagnosen erstellt. Ob fun-
dierte Einschätzung oder Diagnose:
Letztlich erscheint die Differenzie-
rung für Laien wie Wortklauberei.
Fest steht, dass Moodpath den Nut-
zern eine sogenannte unbegleitete
Selbsthilfe anbietet. Im Umkehr-
schluss heißt das: Moodpath allein ist
nicht ausreichend, wenn ein an De-
pression erkrankter Mensch Hilfe
sucht. Im nächsten Schritt braucht
der Erkrankte eine psychotherapeuti-

sche Behandlung. Auch dafür gibt es
eine digitale Lösung: die Onlineplatt-
form MindDoc. Sie bietet Patienten
Psychotherapie in Form von einer Vi-
deochat-Behandlung an. MindDoc ist
seit 2017 ein eigenständiger Ge-
schäftsbereich der Schön-Klinik-
Gruppe mit Sitz in München. Seit
dem ersten Oktober arbeiten Mood-
path und MindDoc unter dem Hol-
dingdach der Schön-Klinik zusam-
men.
Müller ist seit Mai Patient im Mind-
Doc-Programm und hat wöchentlich
eine Sitzung, bei der er seine Thera-
peutin nur auf dem Bildschirm sieht.
„Mir war wichtig, dass die Behand-
lung möglichst schnell beginnt. Für
einen herkömmlichen Therapieplatz
hätte ich fast ein ganzes Jahr warten
müssen“, sagt Müller. Auf die Online-
therapie hat der 51-Jährige nach eige-
nen Angaben nur drei Wochen ge-
wartet.

Ganz ohne physischen Kontakt
geht es aber nicht. Denn wer per Vi-
deochat behandelt werden will, muss
zunächst zu einem der rund 120
Standorte, um das Erstgespräch bei
Psychotherapeuten mit Kassenzulas-
sung in Deutschland zu führen. Das
ist gesetzlich vorgeschrieben. Diese
Psychotherapeuten kooperieren mit
MindDoc per Vertragsvereinbarung.
Die Kooperationspartner entschei-
den letztlich, ob der Patient für die
Videochat-Behandlung geeignet ist.
„Diese Therapeuten tragen ein gewis-
ses Maß an Verantwortung, bevor die
Patienten an meiner Videotherapie
teilnehmen“, sagt Stefanie Tucha. Sie
ist eine von insgesamt mehr als 50
Therapeuten bei MindDoc.
Die Bundesvorsitzende der Deut-
schen Psychotherapeuten-Vereini-
gung hat bei der Vorgehensweise von
MindDoc allerdings „Fragezeichen im
Kopf“. „Ein Gespräch ist zwar besser
als nichts. In der regulären ambulan-
ten Versorgung gibt es aber drei sol-
cher Erstgespräche, bis eine Indikati-
on gestellt wird“, erklärt Lubisch.
Wenn ein Patient das erste Mal in ei-
ne Praxis komme, habe der Psycho-
therapeut mehr Zeit, sich einen ers-
ten Eindruck zu verschaffen. Bei irri-
tierenden Antworten oder Verhalten
gebe es so die Gelegenheit, Missver-
ständnisse zu klären. „Bei der On-
linetherapie fallen die persönliche
Begrüßung wie Händedruck weg. Ich
habe weniger Eindrücke des Patien-
ten – insofern ist die Situation etwas
anders als in der regulären Thera-
pie“, findet auch Tucha.
Hinzu kommt, dass der Patient sei-
ne Videochat-Behandlung nicht
zwangsläufig mit derselben Person
haben muss, die mit ihm das Erstge-
spräch geführt hat. Im Fall von Mar-
tin Müller gab es anfangs ein großes
Missverständnis, wie er sagt. „Dass
mir im Videochat nicht der Mensch
gegenübersaß, bei dem ich auch per-
sönlich den ersten Termin hatte, hat
mich zunächst sehr irritiert“, erin-
nert sich der 51-Jährige. Dieser Thera-
peutenwechsel erfolgt laut Lubisch
jedoch auch manchmal im Regelfall
in der herkömmlichen Behandlung.

Buchstäbliche Distanz


Lubisch hat dennoch Zweifel am Ge-
schäftsmodell von MindDoc: „Wenn
Patienten in Sitzungen plötzlich
anfangen zu weinen – das passiert
häufig –, ist diese Situation zwischen
Patient und Therapeut über den Vi-
deochat extrem distanziert. Da liegen
buchstäblich mehrere Kilometer
zwischen ihnen“, sagt die Bundesvor-
sitzende der Deutschen Psychothera-
peuten-Vereinigung.
Alexander Kopp behandelt eben-
falls MindDoc-Patienten per Video-
chat. „Wir haben nicht den An-
spruch, die analoge Therapie zu er-
setzen“, entgegnet er der Kritik.
MindDoc biete eher ein zusätzliches
Angebot für Menschen, die aus vielen
Gründen keine analoge Therapie
wahrnehmen können oder wollen.
Die psychosomatische Behandlung
beschreiben Florian Moser, der die
E-Mental-Health-Plattform bei Mind-
Doc leitet, und Frauendorf als eine
Art Stufenmodell: Die erste Stufe wä-
re die Google-Suche des potenziell
psychisch Erkrankten. Im nächsten
Schritt kämen Gesundheits-Apps wie
Moodpath ins Spiel, die unter ande-
rem die Psycho-Edukation des Nut-
zers gewährleisten und eine erste
Einschätzung des Gesundheitszu-
stands liefern. Wenn der Patient sein
Erstgespräch gehabt hat und eine Di-
agnose feststeht, könne MindDoc

Gesundheits-Apps


Psychotherapie


via Smartphone


Da selbst schwer depressive Menschen aktive


Smartphonenutzer sind, bieten digitale


Behandlungsformen via Apps viele Vorteile.


Dennoch mahnen Experten zur Vorsicht.


Depression: Dutzende
Apps richten sich an
Menschen mit psy-
chischen Problemen.

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Digitale Revolution
MITTWOCH, 27. NOVEMBER 2019, NR. 229

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