Martin Greive, Thomas Sigmund Berlin
I
n der Wissenschaft herrscht normalerweise
ein sachlicher Umgangston. Umso bemer-
kenswerter ist die Mail, die der Dekan der
Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der
HU Berlin, Daniel Klapper, am 18. Novem-
ber an die zwölf Abteilungsleiter des Deutschen In-
stituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schickte. Das
Dekanat werte das „Vorgehen seitens des DIW-Vor-
stands als starken Vertrauensbruch, der eine ver-
trauensvolle Zusammenarbeit mit dem DIW über
die vertragliche Ausgestaltung der Berlin School of
Economics (BSE) derzeit unmöglich macht“,
schreibt Klapper.
Der Auslöser für die Wut-Mail liegt zu diesem
Zeitpunkt fünf Tage zurück. Am 13. November hatte
das DIW Georg von Weizsäcker, der von der HU
Berlin an das Institut abgestellt ist, vor die Tür ge-
setzt. Von Weizsäcker werde sich künftig „anderen
Aufgaben widmen“, hieß es in einer Mail an die
DIW-Mitarbeiter. Die Kündigung sorgte nicht nur im
Institut für Unruhe, sondern in der gesamten Berli-
ner Wissenschaftsszene. Denn von Weizsäcker ist
nicht irgendein Ökonom. Er ist der designierte Vor-
sitzende des „Vereins für Socialpolitik“, der größten
Ökonomenvereinigung Deutschlands. Als Dekan or-
ganisierte er zudem die Doktorandenausbildung
am DIW und soll auch eine wichtige Rolle an der
neu gegründeten „Berlin School of Economics
(BSE)“ einnehmen, in der acht renommierte Insti-
tute ihre Nachwuchsprogramme gebündelt haben.
Die Personalie von Weizsäcker ist der Aufhänger,
aber nicht der einzige Grund, warum das DIW, ei-
nes der größten deutschen Wirtschaftsforschungs-
institute, derzeit in Aufruhr ist. Neben der umstrit-
tenen Personalentscheidung soll das Institut nach
Handelsblatt-Informationen auch in finanziellen
Schwierigkeiten stecken. Von bis zu einer Million
Euro Verlust ist die Rede. Zudem gibt es Diskussio-
nen über die strategische Ausrichtung. Vergange-
nen Donnerstag hat das DIW-Kuratorium, eine Art
Aufsichtsgremium, eine externe Kommission einge-
setzt, die Ausrichtung und Finanzlage des Instituts
prüfen soll. Bei all diesen Themen im Fokus: Insti-
tutschef Marcel Fratzscher, einer der bekanntesten
Ökonomen Deutschlands.
Steile Thesen des DIW-Chefs
Als Fratzscher das DIW in der Berliner Mohrenstra-
ße 2013 übernahm, ging seine Strategie, dem ord-
nungspolitischen Ökonomen-Mainstream in
Deutschland etwas entgegenzusetzen, schnell auf.
Fratzscher wurde zu einem der gefragtesten Ge-
sprächspartner für Politik und Medien. Mit der For-
derung nach höheren Investitionen trat er zu Be-
ginn seiner Amtszeit eine Debatte fast im Alleingang
los. 2014 machte ihn der damalige Wirtschaftsmi-
nister Sigmar Gabriel (SPD) zum Chef einer entspre-
chenden Regierungskommission. Fratzscher war
auf dem Ökonomen-Olymp angekommen. Wenn
ein Job bei der EZB oder der Bundesbank besetzt
werden soll, wird immer auch sein Name genannt.
Der Erfolg brachte Neider, durch manches Vorge-
hen schuf sich Fratzscher aber auch selbst Gegner,
auch im eigenen Haus. Exemplarisch dafür stehen
seine letzten Bücher: Dass Fratzscher sein Werk
„Deutschland-Illusion“ 2014 von SPD-Chef Gabriel
vorstellen ließ, sah manch einer im Institut als Zei-
chen für mangelnde Distanz zur Politik, insbeson-
dere zur SPD. Denn das Institut wird zu gut 60 Pro-
zent aus öffentlichen Mitteln finanziert, auf Bundes-
ebene ist das Wirtschaftsministerium für das DIW
zuständig, das seinerzeit von SPD-Chef Gabriel ge-
führt wurde. Auch das nächste Fratzscher-Buch
sorgte für Verstimmung, diesmal wegen der Inhal-
te. Die These, Deutschland sei eines der ungleichs-
ten Industrieländer der Welt, ist auch etlichen DIW-
Mitarbeitern zu steil.
An der Personalie von Weizsäcker bricht sich nun
Aufruhr in der
Mohrenstraße
Umstrittene Personalentscheidungen, Strategiediskussionen,
Finanzprobleme: Im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)
herrscht Unruhe. Im Mittelpunkt: Institutschef Marcel Fratzscher
DIW-Gebäude in
Berlin: Schlechte Stimmung beim
Wirtschaftsforschungsinstitut.
Andreas Pein/laif
Wirtschaft
& Politik
MITTWOCH, 27. NOVEMBER 2019, NR. 229
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