Handelsblatt - 27.11.2019

(Barré) #1

Internet Governance Forum


Merkel warnt vor Splinternet


Digitale Mauern von


Nationalstaaten drohen das


Internet zu zersplittern. Ein


Forum in Berlin diskutiert


über globale Regeln.


Torsten Riecke Berlin


A


bschottung ist kein Ausdruck
von digitaler Souveränität.“
Mit dieser Botschaft hat Bun-

deskanzlerin Angela Merkel gestern


in Berlin das Internet Governance Fo-


rum (IGF) der Vereinten Nationen


(UN) eröffnet. Merkel wandte sich da-


mit gegen nationalistische Tenden-


zen bei der Regulierung des Internets


und warnte zugleich vor einer „Zer-


splitterung“ (Splinternet). Das würde


die Idee des Internets ad absurdum


führen, sagte die Kanzlerin.


Das IGF findet zum ersten Mal in


Deutschland statt. Mehr als 5 000


Teilnehmer aus 163 Ländern diskutie-


ren noch bis zum Ende der Woche


darüber, welche Spielregeln künftig


im Internet gelten sollen. Das Forum


versteht sich als Plattform für den


Austausch von Informationen und


Argumenten. International bindende


Beschlüsse können auf den mehr als


100 Veranstaltungen nicht gefasst


werden. Der Einfluss des IGF auf na-


tionale Regulierungen der Digitalwelt


ist deshalb gering.


Im Mittelpunkt des Treffens steht


die zunehmende Fragmentierung


des Internets. Verantwortlich dafür


sind vor allem nationale Regierun-


gen, die das Internet für ihre macht-


politischen Ziele missbrauchen wol-


len. UN-Generalsekretär António Gu-


terres sprach von der Gefahr einer


„digitalen, sozialen und politischen


Spaltung“, wobei die politische die


gefährlichste sei. „Es werden neue


virtuelle Mauern errichtet, die Men-


schen voneinander fernhalten sollen


und zu Rissen zwischen den politi-


schen Systemen führen können“, sag-


te der Portugiese. Bereits am Montag


hatte Siemens-Chef Joe Kaeser vor ei-


nem „Decoupling“ gewarnt, also vor


der Aufteilung des Internets in unter-


schiedliche politische Technologie-


sphären.


„Vor allem China und Russland ver-


langen, dass Regierungen eine größe-


re Rolle bei der Internet Governance


spielen“, schreiben Wade Hoxtell


und David Nonhoff in einer Studie


der Konrad-Adenauer-Stiftung für das


IGF-Treffen. Bislang werden die Spiel-


regeln in Kooperation von Zivilgesell-


schaft, Technologie-Experten, der


Privatwirtschaft und staatlichen Stel-


len gesetzt. Dieser sogenannte „Mul-


ti-Stakeholder“-Ansatz wird durch


die zunehmende Politisierung des In-


ternets bedroht. Merkel und Guterres


wandten sich gegen diese Entwick-


lung und forderten, dass neben Re-


gierungen auch die Wirtschaft und


Bürger über die Spielregeln im Netz


mitbestimmen sollten. „Diese Diskus-


sion können wir nur gemeinsam füh-


ren“, sagte Merkel und warb für ei-


nen multilateralen Ansatz.


Die Kanzlerin kritisierte die Versu-


che „von nicht-demokratischen Staa-


ten“, sich vom globalen Internet ab-


zuschotten. Den dortigen Regierun-


gen sei das freie Internet „ein Dorn


im Auge“. Gemeint sein dürften da-


mit vor allem China und Russland.


China betreibt seit Langem eine digi-


tale „Firewall“, um politisch uner-


wünschte Inhalte von den chinesi-


schen Bürgern fernzuhalten. So wer-
den westliche Internetdienste wie
Google und Twitter in China blo-
ckiert. In Russland ist kürzlich das
„Gesetz zum souveränen Internet“ in
Kraft getreten, nach dem ausländi-
sche Internetknoten für den Aus-
tausch von Daten durch inländische
und staatlich kontrollierte Knoten er-
setzen werden sollen. Dadurch soll es

möglich werden, Datenströme zu
lenken und unerwünschte Inhalte
auszufiltern. Begründet wurde das
Gesetzeswerk mit der Gefahr von Cy-
berattacken und dem angeblichen Ri-
siko, Russland könne vom westlich
kontrollierten Internet abgeschnitten
werden.
Aber auch westliche Regierungen
nehmen verstärkt Einfluss auf das In-

ternet: Beispiele dafür sind die Da-
tenschutz-Grundverordnung und das
Urheberrecht der EU sowie das Netz-
werkdurchsetzungsgesetz in Deutsch-
land. Hier geht es darum, die Privat-
sphäre der Nutzer zu schützen oder
den Missbrauch des Internets durch
Hasskriminalität zu begrenzen. „Wir
reden noch zu wenig darüber, was
wir nicht wollen“, sagte Merkel.

   











 




  





Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 27. NOVEMBER 2019, NR. 229


9


Anzeige
Free download pdf