Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 15. November 2019


ELENA ANOSOVA / MAPS

FOTO-TABLEAU

Leben am Rand


der Gegenwart 5/


DieseAufnahme isträtselhaft und ähnlich verstörend
wie das, was sich in ihr ausdrückt. Es ist ein Bild des
Übergangs – nicht nur, weil es an Neujahr entstand.
Es vermittelt auch eineAhnung vom Zeitenbruch,
den dieJäger undFischer in der sibirischenTaiga
erleben. Der gefrorene Elchkopf wird zumAuftauen
umstandslos direkt aufsTischtuch gelegt; offenbar gilt
dieserTeil desTiers als Delikatesse und traditionelles
Neujahrsessen. Bizarrkontrastiert die geschundene
Kreatur mit den schwülstigenRosen ringsum; das
Tischtuch suggeriert festliche Spitze, wo nur Plastik
ist. Das genau kalkulierte Spannungsverhältnis, das
sich aus der harmonischen Bildkomposition und der
Widersprüchlichkeit ihrer Elemente ergibt, lässt
etwas von Elena AnosovasWerdegang erahnen: Sie
hat ursprünglichKunst studiert und war zunächst als
Malerin tätig. IhreAufnahmen entstehen jeweils nach
einerAuseinandersetzung mit demThema, die
Wochen oder Monate in Anspruch nehmen kann:
Dank dieser langen Zeit des Beobachtens und
Kommunizierens, sagt sie, beginne sie zu begreifen,
was bestimmte Anlässe, Handlungen oder Orte für
die Menschen bedeuteten, mit denen sie sich befasse.

Klimawende


Für tragfähige Lösungen

Gastkommentar
von PIERRE MEYRAT

Die Annehmlichkeiten der heutigen Zivilisation
sind der immer besserenNutzung von Energie zu
verdanken. Ohne Energie wären die heutigen Er-
rungenschaften undenkbar. Dass dabei die fossile
Energie eineVorreiterrolle gespielt hat und immer
noch spielt,war ihrerVerfügbarkeit zu verhältnis-
mässig geringen und verkraftbarenKosten zu ver-
danken.Der gestiegeneWohlstand und die gleich-
zeitig massiv gestiegeneWeltbevölkerung haben
nun in den letztenJahrzehnten zu einem Engpass
bei denRessourcen der Erde geführt.Das derzeit
aktuellste Problem der öffentlichen Debatte ist
dieVermehrungderTreibhausgase und deren Ein-
fluss auf die Entwicklung des Klimas.
Jede Massnahme, das Klima im heutigen oder
gar in einem vorindustriellen Zustand zu erhal-
ten,muss also darin bestehen,fossile Energien zu
tragbaren Kosten durch andere Energieträger zu
ersetzen, um damit den CO 2 -Ausstoss zuredu-
zieren. Als Alternative zu fossilen Brennstoffen
kommt jedoch ausschliesslich elektrische Ener-
gie infrage, die in der Schweiz heute erst rund
25 P rozent abdeckt (15 ProzentWasserkraft, 10
ProzentKernkraft, 1 ProzentWind- und Solar-
energie). Dasheisst, es müssen rund 75 Prozent
der verbrauchten Energie durch Elektrizität er-
setzt werden. Dieser Kraftakt erfordert mehr als
nur Visionen, wenn man derWirtschaft und den
Errungenschaften der Zivilisation nicht ernst-
haften Schaden zufügen will. Mit Demonstra-
tionen und Schlagworten lässt sich das Problem
nicht lösen. Klar ist, dass «netto null CO 2 » mit
den erforderlichen Einschränkungen,Vorschrif-
ten und Energiesteuernnicht nur den einzelnen
Bürgern sehr weh tun kann (die Gelbwesten in
Frankreich sind nur ein kleinerVorgeschmack),
sondern auch Industrie undWirtschaft gewaltig
ins Stottern bringen kann. Zu vieleVorschläge
zur Lösung des Problems sindRechnungen, die
ohne denWirt gemacht wurden, da übers Ganze
gesehen schlicht und einfach die nötige elektri-
sche Energie fehlt.
Eine oft vorgeschlagene «Lösung» besteht
darin,das entstandene CO 2 wieder aus der Luft zu
ent fernen. AusAbgasen von fossilen Kraftwerken
lässt sich das CO 2 zwar noch mit überschaubarem
Aufwand entfernen. Besser istaber wohl der mit-
telfristige Ersatz solcher Kraftwerke. Für die Ent-
fernung von CO 2 aus der Luft (mit einem An-
teil von nur 0,04 Prozent!) gibt es ein paarwenig
aussichtsreicheVersuche, die ausKostengründen
kaum zur Problemlösung beitragenkönnen.Jede
dieser Massnahmen brauchtaber Energie. Nicht
gelöst ist auch das Problem der Speicherung bzw.
der definitiven Entfernung des CO 2 aus der Um-
welt.Versuche, das CO 2 in d en Boden zu pressen,

laufen seitJahrzehnten mit durchwachsenem Er-
folg, dürften jedoch wegen der Risiken von der
Bevölkerung kaum akzeptiert werden.
Eine weitere oft als Lösung propagierte
Methode besteht darin, das aus Luft oder Abga-
sen separierte CO 2 zusammen mit aus Elektro-
lyse (mittels Strom ausWasser) erzeugtemWas-
serstoff zu einem synthetischen Brennstoff zu ver-
arbeiten, dessenVerbrennung damit CO 2 -neutral
bliebe. Meldungen über Kleinstversuche gibt es
zuh auf, «Power-to-X» nennt sich diesesVerfah-
ren.Die Crux steckt imWort «Power»:Chemische
Verbindungen lassen sich heute fast problemlos
zerlegen und in andere umsetzen. Der Prozess er-
fordert aber grundsätzlich mehr Energie, als man
bei der Nutzung zurückgewinnt, sonst wäre ja das
Perpetuum mobile erfunden.
Der effizienteste Ersatz von fossilen Brenn-
stoffen dürfte die untiefe Geothermie sein. Mit-
telsWärmepumpen ist es möglich,Wärme aus
dem rund 10-grädigen Erdreich «hochzupumpen»
und für Niedrigtemperaturanwendungen zu ver-
wenden.AberWärmepumpen haben einen phy-
sikalisch beschränktenWirkungsgrad (60bis 75
Prozent) und brauchen deshalb viel zusätzlichen
Strom.Sie eignen sich für Bodenheizungen in
Neubauten (mitWärmedämmung), weniger aber
fürAltbauten und gar nicht für industrielle Hoch-
temperaturanwendungen.
Praktisch greifbar als neueTechnologie ist hier
vorläufig erst die E-Mobilität.Wenn man vorerst
von den Problemen vonReichweite undKosten
der Fahrzeuge absieht, bleibt auch hier das Pro-
blem des CO 2 -Abdrucks derBatterieherstellung.
Auch dieFrage, wie denn der Strombedarf für die
E-Mobilität gedeckt werden soll, wenn E-Autos
zum Standard werden, bleibt offen.Fossile Treib-
stoffe decken heute rund 35 Prozent des Gesamt-
energiebedarfs. Das ist weit mehr, als wir heute
mit elektrischer Energie herstellenkönnen!
Politiker tendieren dazu, populäre und nicht
immer zielführende Massnahmen zu propagie-
ren. DieWissenschaft ist deshalb aufgerufen, nicht
nur die klimarelevantenFolgen desTreibhausgas-
gehalts unserer Atmosphäre zu beschwören, son-
dern auch physikalische und energetische Zusam-
menhänge klar darzulegen und mögliche, effiziente
und wirtschaftlich tragbare Massnahmen zu des-
sen Verringerung auszuarbeiten, welche verant-
wortungsbewusstenPolitikern alsFahrplan in die
nächste Zukunft dienenkönnen.Bis jetzt fehlt jede
klar eVorstellung, woher die benötigte elektrische
Energiekommensoll zum Ersatz des CO 2 , insbe-
sondere wenn CO 2 -freieKernkraftwerke als Über-
gangslösung auch noch verhindert werden sollen.

Pierre Meyratist Ele ktroingenieur und war CEO des ers-
ten privaten europäischen Satellitenbetreibers, SES
(Astra).

Schuldenbremse


Unverständliche Kritik

der OECD

Gastkommentar
von FRANK MARTY


Folgender Sachverhalt:EinJahreseinkommen von
100000Franken;eine genaue Budgetplanung, die
dafür sorgt, dass alleAusgaben bezahlt werden
können und amJahresende dieRechnung gerade
aufgeht;Schulden machen ist verboten,von früher
besteht noch immer ein Schuldenberg, der nicht
mehr wachsen darf. Die Sache funktioniert gut.
EndeJahr bleibt in derRegel ein kleinerRest-
betrag, 1000 Franken, ein Budgetprozent.Das
geht in den Schuldenabbau. Im Endergebnis: eine
schwarzeNull. Ein Haushalt, der seineFinanzen
derart gut planen und Einnahmen undAusgaben
fast punktgenau abstimmen kann – Chapeau!,
würde man meinen (dasThema Sparen spielt für
das Beispielkeine Rolle).
Nun aberkommt derFinanzberater. Er spricht
von Optimierung und verpassten Chancen. Die
1000Frankenkönnten für Besseres als den Schul-
denabbau eingesetzt werden. Zum Beispiel für
Investitionen, für neue Projekte. Und so wird es
flugs beschlossen.Das Haushaltsbudget wird um
die 1000Franken von nun an aufgestockt,die Mit-
tel werden verteilt, am Anfang herrschtFreude,
bald aber ist dieAufstockung vergessen, eine
schwarzeNull resultiert noch immer, aber für den
Schuldenabbau fehlt von nun an das Geld.
Der Haushalt ist jenerdes Bundes, der Finanz-
(oder besser: Politik-)berater ist die OECD. In
ihrem jüngstenLänderbericht zur Schweiz kriti-
siert diese Organisation die Schuldenbremse. Im
Fokus stehen u. a. die sogenannten Kreditreste,
Mittel im Umfang von etwa 800 Millionen (ein
Prozent des Bundeshaushalts), die budgetiert,
aber regelmässig nicht ausgegeben werden.Durch
eine Anpassung der Schuldenbremsekönnten die
Mittel ins Budget eingebaut und die zulässigen
Ausgaben um diesen Betrag erhöht werden. Ab-
gesehen von derFrage,obdie Verfassungsgrund-
lage der Schuldenbremse eine solcheAnpassung
zuliesse:Was würde damit gewonnen?
Wenig. Erstens baut der Bund mit nicht ver-
wendeten Mitteln Schulden ab, was ihmgutgetan
hat und weiterhin guttun wird. Zwar ist die Bun-
desverschuldung signifikant geringer als bei Ein-
führung der Schuldenbremse vor15 Jahren, aber
mit knapp 100 MilliardenFranken noch immer
beachtlich. Der Schuldenabbau führt zu Einspa-
rungen beim Schuldendienst und macht Mittel
frei, die dauerhaft für andereAufgaben verwen-
det werdenkönnen. Eine Anpassung der Schul-
denbremse würde die Möglichkeiten für den wei-
teren Schuldenabbau beschneiden.


Zweitens wäre zu fragen, was beim Bund mit
den zusätzlichen Mitteln getan würde.Die OECD
sprichtvon mehr «öffentlichen Investitionen» und
nennt beispielhaft neueFördermassnahmen in
den Bereichen externe Kinderbetreuung, Gleich-
berechtigung und Humankapital.Dass mandas in
Bundesbern gleich sehen würde, scheint fraglich.
So wird um dieKinderbetreuung bekanntlich ge-
rade wieder ein heftiger ideologischer Kampf ge-
führt. Andererseits zeigt aber die Krippenfinan-
zierung (wo der Bund seitJahren entgegen allen
föderalistischen Grundsätzen «befristete»An-
schubhilfen leistet), dass, wo ein politischerWille
ist, auch das Geld fliesst, und zwar ganz imRah-
men der Schuldenbremse.
Drittens wäre auch das Staatsverständnis der
OECD zu hinterfragen.Wenn die OECD zu tiefe
staatliche Investitionen beklagt, wäre darauf hin-
zuweisen, dass dieRolle des Privatsektors hierzu-
lande in verschiedenen Bereichen deutlich stär-
ker ist als anderswo. Ein Beispiel ist der Bereich
Forschung und Entwicklung, wo Privatinvestitio-
nen überwiegen.Auch in der Altersvorsorge oder
der Berufsbildung hat der Staat noch immer nicht
dasselbe Gewicht wie vielfach imAusland.Dass
darum weniger «investiert» würde, ist alles andere
als ersichtlich, eher trifft das Gegenteil zu.
WeitereArgumente wären anzuführen. Etwa,
dass eine einprozentige Budgetunterschreitung
keine Katastrophe darstellt, sondern eben eine
Punktlandung. Oder dass Budgetunterschreitun-
gen sinnvollsind,weil dadurchein finanzieller
Spielraum geschaffen werden kann, der manch-
mal ganz nützlich ist (z.B. im nächstenJahr,
wenn es gilt, die AHV-Steuer-Vorlage umzuset-
zen). Eine Grafik im OECD-Bericht sagt letzt-
lich alles. Sie zeigt die Entwicklung der Staats-
verschuldung in der OECD imDurchschnitt
der Staaten und in der Schweiz seit1995. Bis
2005 stiegdie Staatsverschuldung der Schweiz
im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (Schul-
denquote) zehnJahre lang stark an und übertraf
am Ende mit über 60 Prozent sogar den OECD-
Mittelwert. 2006 wurde die Schuldenbremse voll
eingeführt. Seither sinkt dieVerschuldung der
Schweiz, in der OECD ist sie gestiegen, alsFolge
der Finanz- undWirtschaftskrise sogar markant.
Heute liegt die Schweizer Schuldenquote mit 40
Prozent gerade noch auf der Hälfte des OECD-
Werts. Man darf fragen:Was bringt die OECD
dazu, in dieser Situation ausgerechnet die Schul-
denbremse zu kritisieren?

FrankMartyist Leiter Fina nzen und Steu ern sowie Mit-
glied der Geschäftsleitung von Economiesuisse.
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