Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 15. November 2019


Das Migros-Gebäude hat


einen Konstruktionsfehler


Zwischen der Zürcher Migros-Zentrale und der regionalen Genossenschaft Neuenburg-Freiburg


schwelt ein Konflikt, der die Schwächen der Konzernstruktur deutlich zutage treten lässt.


Er fusst auch auf einem falschen Verständnis von Firmendemokratie. Von Sergio Aio lfi


Man stelle sich vor: DieFührung eines Grosskon-
zerns mit über 100 000Angestelltenverdächtigt
den Leiter einerTochterfirma, sich unrechtmässig
verhalten zu haben. EinWhistleblower hat Alarm
geschlagen, und es gibt Dokumente, die zu belegen
scheinen, dass sich der Manager der ungetreuen
Geschäftsführung schuldig gemacht hat.Wie würde
dieFirmenführungreagieren? Sie wird wohl Straf-
anzeige gegen den mutmasslichen Missetäter er-
statten und ihn fristlos entlassen – Unschuldsver-
mutung hin oder her. Er wäre seinenJob los, lange
bevor ein Richter sich mit demFall befasst hat.
In der Grossgenossenschaft Migros, die sich der-
zeit mit eben einemsolchenFall zu beschäftigen
hat,ist der Handlungsablauf etwas anders. DerTat-
verdächtige istDamien Piller, Präsident der kleinen
regionalen Migros-Genossenschaft Neuenburg-
Freiburg (GMNF). Er wird von derKonzernfüh-
rung,dem Migros-Genossenschafts-Bund(MGB),
beschuldigt, beimBau von zwei neuenFilialen im
KantonFreiburg in einem Interessenkonflikt ge-
standen und eigenen oder ihm nahestehendenFir-
menAufträge zugeschanzt zu haben. Ein zweiter
Vorwurf lautet, dass Migros unter Pillers Ägide den
besagtenFirmen Gelder zukommen liess, für die
keine Gegenleistungen getätigt worden waren; der
Umfang dieser ungeklärtenTr ansaktionen beläuft
sich auf 1,7 MillionenFranken.


Eine zerrüttete Beziehung


Seit Bekanntwerden desFalls hat die Migros-Lei-
tung einiges getan: Sie hat eine Untersuchung
gegen Piller durchführen lassen und AnfangJuli
2019 eine Strafanzeige gegen ihn eingereicht. Seit-
her bekämpfen sich die beiden Seiten mit Haken
und Ösen, das Arbeitsverhältnis zwischen dem
regionalen Präsidenten und der Zürcher Zentrale
ist längst zerrüttet – aber Piller ist immer noch im


Amt. DerFall, der beijedem anderen Grosskon-
zern wohl längst erledigt wäre, zieht sich bei Migros
endlos in dieLänge und fügt dem sonst untadeligen
Firmenimage Schaden zu.
Dass ein solcherKonflikt überhaupt möglich ist,
hat mit der speziellen Unternehmensorganisation
von Migros zu tun. Die Struktur der Grossgenos-
senschaft ist gewissermassen auf denKopf gestellt:
Die Zentrale, der MGB, steht nicht an der Spitze
der Hierarchie, sondern ist den zehnregionalen
Genossenschaften (eine davon die GMNF) unter-
stellt. DieRegionengeniesseneinen hohenGradan
Autonomie, und folglich ist die Zentrale auch nicht
befugt, einen unliebsamenRegionalpräsidenten mit
einem einfachen Machtwort zu entlassen.Dazu be-
darfes einer Urabstimmung derregionalen Genos-
senschafter. In Neuenburg-Freiburg ist ein solches
Verfahren unlängst in dieWege geleitet worden; die
124000 GMNF-Mitgliedersindan die Urne geru-
fen worden und haben bis zum16.November Zeit,
zu entscheiden, ob sie den Präsidenten und mit ihm
die ganzeVerwaltung (Verwaltungsrat) mit soforti-
gerWirkung absetzen wollen.
Mit etwasWohlwollen liesse sich die Corpo-
rate Governance von Migros als Musterbeispiel
einer basisdemokratischen Organisation bezeich-
nen. Ursula Nold, die neue MGB-Präsidentin, hat
2014 in einem Meinungsstück in der NZZ eben
diese «demokratische Mitsprache der Mitglieder»
als Alleinstellungsmerkmal der Genossenschaf-
ten gepriesen und meinte ausserdem, damit liessen
sich dieVerfehlungen, die bei börsenkotiertenFir-
men gang und gäbe seien, vermeiden. Sie verwies
auf die Genossenschaften, «deren Image durch Be-
trugsfälle bisher kaum belastet worden» ist. Mittler-
weile ist man etwas klüger.
Das basisdemokratische Modell hat offenkundig
Mängel. Die Schwierigkeit, einen internenKonflikt
in kurzer Zeit zu lösen, ist nur einer davon. Gravie-
render dürfte sein, dass die «checks and balances»,

die dasFunktionieren einer Demokratie normaler-
weise gewährleisten, imFall von Migros mangelhaft
ausgebildet sind.Und dasbleibt nicht ohneFolgen
für das Machtgefüge imKonzern.

Demokratie à la «Dutti»


Schöpfer der Organisationsstruktur war derFir-
mengründer GottliebDuttweiler, der 1941 verfügte,
dass «dieVerantwortlichendirekt dem Souverän,
der Gesamtheit der Mitglieder, unterstehen» sol-
len. Angewandt auf eineregionale Genossenschaft
wie die GMNF bedeutet dies, dass die Masse der
Mitglieder über dieWahl und die Abberufung der
Verwaltungeinschliesslich ihres Präsidenten zu
entscheiden hat.Darauskönnte man schliessen,
das Unternehmen funktioniere nach volksdemo-
kratischen Prinzipien und die Macht werde von
derBasis ausgeübt.Das Governance-Modell von
Migros ist allerdings nicht das einerrepräsentativen
Demokratie (mit derWahl von Mandatsträgern, die
legitimiert sind, denWählerwillen umzusetzen),
sondern entspricht derVariante «direkte Mitglie-
derdemokratie».Und diesehat zurFolge,dass es
in derVerwaltungzueinerMachtballungkommt,
die das gesunde Mass übersteigt.Das Gremium
hat gegenüber der unüberblickbaren und unorga-
nisierten Menge der Genossenschafter einen riesi-
gen Informationsvorsprung und ist denWählenden
auchkeineRechenschaft schuldig. DieseForm von
Demokratie führt zu einer Schwächung derBasis,
was durchaus im SinneDuttweilers war. 1968 hielt
er in der damaligen Migros-Zeitung«Wir Brücken-
bauer» fest: «Zu viel Demokratie hemmt die Ge-
schäftsleitung in ihren Entscheidungen.»
Die unzureichendeKontrolle durch dieBasis,
der hohe Grad anAutonomie derregionalen Ge-
nossenschaften innerhalb der Migros-Gruppe, die
fehlende Möglichkeit der Einflussnahme durch die
Zürcher Zentrale – all das führt zu Bedingungen,
unter denen sogenannteRegionalfürsten gut ge-
deihen. Und es scheint (bei aller Unschuldsvermu-
tung), dass Präsident Piller, GMNF-Präsident seit
geschlagenen 23Jahren, den von seinemFürsten-
tum gewährtenFreiraum weidlich genutzt hat.
Das umständliche und mit juristischen Schar-
mützeln undWinkelzügen verbundene Absetzungs-
verfahren, das dem Migros-Image alles andere als
zuträglich ist, zeigt, dass die Organisationsregeln
desKonzerns nicht für solcheFälle gedacht sind; sie
sind auf Schönwetter ausgerichtet. Die MGB-Präsi-
dentin Ursula Nold hatte im genannten NZZ-Bei-
trag vor fünfJahren den Ernst derLage durchaus
erkannt; sie hatte darauf hingewiesen, dass die Ge-
nossenschaften mit ihren (imVergleich zu Aktien-
gesellschaften) mangelhaft ausgebildetenKontroll-
undAufsichtsmöglichkeiten einen wesentlichen
Makel haben. Und sie hatte für eine Corporate
Governance plädiert, die hilft, «krassenVerfehlun-
gen undReputationsschäden vorzubeugen».

Nolds Nagelprobe


Nun ist der Schaden angerichtet, und Ursula Nold,
die ihren Beitrag 20 14 noch in ihrer Funktion als
Präsidentin der MGB-Delegiertenversammlung
(einerArtvonParlament) verfasst hatte,wirdjetzt
als MGB-Präsidentin, also alsVorsitzende desVer-
waltungsrats, Ideen präsentieren müssen, wie wei-
tere «krasseVerfehlungen undReputationsschä-
den» zu vermeiden sind. Die Migros-Führung ist
in den vergangenenJahrenkeineswegs untätig ge-
blieben und hat eineReihe von organisatorischen
Reformen in dieWege geleitet. Sowurde eine Com-
pliance-Stelle geschaffen, die dem MGB untersteht;
man hat einenVerhaltenskodex für alle Mitarbei-
tenden eingeführt und eine Hinweisgeberstelle
(Whistleblower)eingerichtet, der manFehlverhal-
ten melden kann. Zudem hat man beschlossen, die
Amtszeit vonVerwaltungsratsmitgliedern auf sech-
zehnJahre zu beschränken (was besser ist als gar
nichts), und es sindRegeln zurVermeidung von
Interessenkonflikten erlassen worden.
Die Crux derKonstruktion des Migros-Kon-
zerns ist und bleibt jedoch der hohe Grad anAuto-
nomie, den dieregionalen Genossenschaften ge-
niessen.Daran wird sich nichts ändern, solange die
zehnRegionalfürsten nicht in eine Beschränkung
ihrer Selbständigkeit einwilligen, und das werden
sie ohne Not kaum tun.
Auch wenn der Spielraum gering ist, müsste
die Migros-Zentrale die Corporate-Governance-
Regeln wenigstens so gestalten, dass sich weitere
Fälle à la GMNF vermeiden lassen. Dieses Anlie-
gen ist umso dringlicher, als mit der Einrichtung
einer Whistleblower-Stelle die Wahrscheinlich-
keit gestiegen ist, dass allfälligeVerfehlungen von
Lokalfürsten tatsächlich ansTageslichtkommen.
Sollen nach neuenVorfällen weitereReputations-
schäden vermieden werden, müsste der MGB die
Befugnis haben, gegen die Missetäter vorzugehen,
ohne in ein endloses Impeachment-Verfahren ver-
strickt zu werden. Und zurDurchsetzung der Cor-
porate-Governance-Regeln müsste die Zentrale
einen direktenDurchgriffauf dieregionalen Ge-
nossenschaften haben – jetzt, da sich das Problem
des Lokalfürstentums in erschreckender Deutlich-
keit offenbart hat, wäre der Zeitpunkt für einera-
dikale Neuerung ideal.

Die Crux der


Konstruktion des


Migros-Konzerns


ist und bleibt der hohe


Grad an Autonomie,


den die regionalen


Genossenschaften


geniessen.

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