Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

18 ZÜRICH UNDREGION Freitag, 15. November 2019


Schwule sind die Attacken leid

In der Stadt Zürich sol len Hassverbrechen gege n Homosexuelle statistisch erfasst werden


FABIANBAUMGARTNER


Manchmal gebe es nichts anderes, als den
Kopf einzuziehen und davonzurennen.
Das sagte der FDP-Politiker Marcel Mül-
ler am Mittwochabend im Zürcher Ge-
meinderat.Wegen seiner Homosexuali-
täthabees schonmehrfach verbale Atta-
cken auf ihn gegeben. Für Müller ist es ein
Frust:«Ich bin es leid, mir in dieser Stadt
Beschimpfungen anhören zu müssen und
mich nicht dagegen wehren zukönnen.»
Hintergrund für dasVotum bildeten
mehrere Angriffe gegen Lesben, Schwule,
Bisexuelle,Transmenschen oder Inter-
sexuelle (LGBTI), die in den letzten
Monaten für Schlagzeilen sorgten. Im Mai
etwa griffen mehrere junge Männer am
Lochergut einen Aktionsstand an. ImJuni
wurde nach der Zurich Pride ein schwu-
lesPärchen attackiert, und im September
wurden zwei Schwule auf dem Hirschen-
platz verprügelt. Die Begründung für den
Übergriff? «Weil ihr schwul seid.»
Verlässliche Zahlen zu solchen Über-
griffen gibt es bis jetzt jedoch nicht. Dies,
weil Übergriffe aufgrund der sexuellen
Orientierung bis anhin von derPolizei
statistisch nicht separat erfasst werden.
Das soll sich nun ändern. In einemVor-
stoss forderten die beiden SP-Gemeinde-
rätePatrick Hadi Huber und Simone
Brander den Stadtrat zum Handeln auf.
Konkret soll er prüfen,wieVorfällemit
LGBTI-feindlichem Charakter erfasst
und zu Analysezwecken in einem Be-
richt zusammengefasst werdenkönnten.
Ausserdem wollen die beiden Ge-
meinderäte mit ihremPostulat erreichen,
dassPolizisten bereits bei derAusbildung
für dasThemasensibilisiert werden. Zu-
dem soll sich der Stadtrat dafür einsetzen,
dass auch die kantonalen Behörden eine
entsprechende Statistik erheben.


Falscher Ort fürDiskussion?


Tr otzFortschritten im Kampf für die
Rechte der LGBTI-Community bleibe
ein langerWeg bis zur tatsächlichen
Gleichstellung,sagtePatrick Hadi Huber
imParlament. «Es gibt in unserer Stadt
eine Zunahme vonVorfällen, welche sich
gegen eine ganz bestimmte Gruppe rich-
ten.»Wenn man sie nicht erfasse, bleibe
bei den Betroffenen ein diffuses Gefühl
zurück, welches sich einzig auf Einzel-
ereignisse stütze. Miteiner Erfassung er-
mögliche man es auch, gezielt auf sol-
che Attacken zureagieren. Und Simone
Brander erzählte, wie sie auch schon mit
einem Messer bedroht worden sei, weil
sie mit einerFrau unterwegs gewesen sei.
Im Gemeinderat waren sich mitAus-
nahme derSVP alle darüber einig, dass es
eine solide statistische Grundlage braucht,


um das Problem in Zukunft besser an-
gehen zukönnen. DerSVP-Gemeinde-
rat RogerBartholdi verurteilte zwar die
Angriffe auf Homosexuelle. «JederVo r-
fall muss zurRechenschaft gezogen wer-
den.Dagibt es nichts zu diskutieren.Da
muss sich derRechtsstaat durchsetzen.»
Doch der Gemeinderat sei der falsche
Ort für die Diskussion. Diese müsse auf
Kantons- beziehungsweise Bundesebene
stattfinden. Und Stefan Urech (svp.) be-
fand,es sei heuchlerisch, wenn man zwar
Angriffe auf Homosexuelle erfassen
wolle,aber gleichzeitig nicht bereit sei,
die Nationalität der Täter zu nennen.
Diese Bemerkungen sorgten bei den
anderenParteienfürUnmut.Sven So-
bernheim (glp.) bezeichnete die Begrün-
dung derSVP als fadenscheinig. Die Stadt
verfüge schliesslich über ein eigenesPoli-
zeikorps und betreibe zusammen mit dem
Kanton auch einePolizeischule. Deshalb
sei es genau der richtige Ort für diese
Diskussionen. Und Marcel Bührig (gp.)
erklärte, man müsse eine faktenbasierte
Grundlageschaffen. «Dazu gehört auch,
die Nationalität der Täter zu erfassen und
dies danach wissenschaftlich zu untersu-
chen. Es soll allesregistriert werden, was
helfen kann, solcheTaten zu verhindern.»

Andreas Egli (fdp.) wiederum sagte,
er sei schockiert, dass es solche Angriffe
in Zürich überhaupt gebe. Es sei des-
halb richtig, wenn man dieVorfälle er-
fasse undTr ansparenz herstelle. «Es gilt
hier ein Zeichen zu setzen.» In der Sta-
tistik werde auch die Nationalität aufge-
nommen.«Wir wollen, dasskorrekt er-
fasst wird, wo das Problem genau liegt.»
Das Stadtparlament überwies das
dringlichePostulat mit 98 zu 13 Stimmen.
Die Sicherheitsvorsteherin KarinRykart
hatte sich zuvor bereit erklärt, denAuf-
trag entgegenzunehmen.Sie erwähnte
dabei, dass Angriffe gegen Homosexu-
elle schon heute bei derAusbildung ein
Thema seien.Ausserdem weise ein inter-
nes Merkblatt darauf hin, solcheVer-
brechen anzuzeigen. Man mache sich
nun aber Überlegungen, wie man diese
Delikte auch separat erfassenkönne.

Regierungsrat gegen Statistik


Im Gegensatz zum Stadtrat zeigte sich der
Regierungsrat nicht bereit, Attacken auf-
grund der sexuellen Orientierung sepa-
ratzu erfassen. ZurThematikgeäussert
hatte er sich EndeAugust. Die drei Kan-
tonsrätinnen Leandra Columberg (sp.),

Laura Huonker (al.) und Hannah Pfalz-
graf (sp.) hatten von derRegierungAnt-
worten betreffendGewalt gegen Homo-
sexuelle, deren statistische Erfassung und
zu Präventionsmassnahmen verlangt.
DieFälle würden nicht statistisch er-
fasst, schrieb derRegierungsrat damals
in seiner Antwort. Aber man habe die
Polizeirapporte im Kanton untersucht.
Demnach seien 20 17 und 20 18 in weni-
ger als zehnFällen LGBTI-Feindlich-
keit als Grund für eine Gewalttat ange-
geben worden. 20 19 liege die Zahl bisher
bei fünfFällen. Zwar sei die tatsächliche
Zahl derTaten wohl höher. Eine genauere
statistische Erfassung sei aber nicht sinn-
voll:Erstens sei diese aufwendig, zweitens
aus Gründen desDatenschutzes heikel.
Anzeichen für eine Häufung der entspre-
chenden Straftaten gebe eskeine.
Die Antwort sorgte für Kritik. Der
Regierungsrat nehme die Gewalt gegen
LGBTI-Menschen nicht ernst, sagte Pink-
Cross-Geschäftsleiter Roman Heggli
gegenüber der NZZ.«Voneinem fort-
schrittlichen Kanton würde ich erwarten,
dass man das Problem erkennt und etwas
dagegen unternimmt.»Das sei, trotz vie-
len schönenWorten, aus der Antwort
nicht herauszulesen.

Trauerfeier in Zürichfür die Opfer des Anschlags auf einenLGBTI-Nachtklub in Orlando imJuni 2016. ENNIO LEANZA / KEYSTONE

OBERGERICHT


Kesb-Beistandschaft nach Beschwerde aufgehoben


Die Mutter eines hirngeschädigten Patienten ist mit dem Weiterzug eines Urteils erfolgreich


TOM FELBER


Ein 33-jähriger drogenabhängiger Mann
erlitt imFebruar 20 19 durch einen Kreis-
laufstillstand einen schweren irrepara-
blen Hirnschaden. Seither befindet er
sich im Zustand einesWachkomas. Die
Atmung erfolgt über Kanülen, die Ernäh-
rung über eine Sonde. Er ist verheiratet,
lebt aber seitzwei Jahren von seinerFrau
getrennt. Seine ehemaligePartnerin und
seine Mutter waren sich über die weitere
medizinische Behandlung völlig uneinig.
EinePatientenverfügung hatte der Mann
nichtgetroffen.Für die Ärzte waren auch
dieVertretungsverhältnisse unklar.
In einem solchenFall muss dieKesb
die vertretungsberechtigtePerson be-
stimmen oder eineVertretungsbeistand-
schaft errichten. DieKesb hörte die bei-
den sich uneinigenFrauen an und setzte
dann im März 20 19 eineVertretungs-
beistandschaft ein. Sie ernannte einen
Rechtsanwalt zum Beistand und erteilte
ihm denAuftrag, fortan über medizini-


sche Massnahmen zu entscheiden. Die
Mutter war damit nicht einverstanden
und beantragte beim Bezirksrat Bülach,
sie sei an der Stelle desRechtsanwalts
einzusetzen. Der Bezirksrat wies die Be-
schwerde aber imJuli ab, worauf die Mut-
ter beim Obergericht dieAufhebung des
Urteils und sinngemässihreEinsetzung
als Beiständin verlangte.

Instabile Lebenssituation


Die II. Zivilkammer des Obergerichts
hat nun ihr schriftliches Urteil dazu ver-
öffentlicht. Die Richter haben die Be-
schwerde der Mutter gutgeheissen und
sie dazu bestimmt, fortan ihren Sohn bei
medizinischen Massnahmen im Sinne
von Art. 377 ZGB als berechtigtePerson
zu vertreten.DieVertretungsbeistand-
schaft desRechtsanwaltswird mit sofor-
tigerWirkung aufgehoben.
In seinem Urteil hatte der Bezirks-
rat eine gelebte Beziehung zwischen den
seit langem getrennt lebenden Ehegatten

verneint und damit festgehalten, dass die
Gattin nicht berechtigt sei, denPatien-
ten gesetzlich zu vertreten, was von ihr
auch unangefochten blieb. Der Bezirks-
rat verneinte aber auch einegesetzliche
Vertretungsbefugnis der Mutter. Er hielt
imWesentlichen fest, dass die Hilfestel-
lung der Mutter gegenüber ihrem Sohn
vorFebruar 20 19 nicht den Umfang des
«von der Lehregeforderten» umfassen-
den Beistands erreicht habe.
Sie habe zum Beispiel nicht gewusst,
wo sich ihr Sohn aufgehalten habe, nach-
dem er imJanuar 20 19 seineWohnung
verloren habe. Und sie habe es aufgrund
ihrer finanziellenVerhältnisse verneint,
für den Sohn eineWohnung zu mieten, die
dieser hätte untervermietenkönnen, steht
im Entscheid. Der Sohn sei auch nicht
über Pläne der Mutter für die Zeitnach
Weihnachten 20 18 bisAnfangFebruar
2019 informiert gewesen.
Die Mutter verwies in ihrer Be-
schwerde auf die wegen der Drogen-
abhängigkeit instabile Lebenssituation

ihres Sohnes. Nach dessenTrennung von
seinerPartnerin habe sie ihn aber in Be-
zug auf alle elementaren Bedürfnisse wie
Geld fürÖV-Abos und für sein Handy,
mit Essen, Kleidung, einemDach über
demKopf und Zuneigung unterstützt. Sie
habe zudem eine vertrauensvolle Bezie-
hung geführt. Der Bezirksrat zeige nicht
auf, welche weitere Hilfestellung erfor-
derlich gewesen wäre. Eines weiteren Bei-
standes habe der Sohn vor der Urteils-
unfähigkeit ja auch nicht bedurft. Zudem
besuche sie ihren Sohnheuteregelmässig
im Pflegezentrum und Spital und besorge
für ihn auch das Notwendige an Kleidung
undToilettenartikeln.

«GelebteVertrauensbeziehung»


Das Obergericht hält fest, dass die Bezie-
hung der Mutter zu ihrem erwachsenen,
alleine lebenden Sohn seit dessenTr en-
nung von der Ehefrau engerals üblich
gewesen sei. Eine gelebte nahe verwandt-
schaftlicheVertrauensbeziehung habe da-

her schon vor dem Eintrittder Urteils-
unfähigkeit bestanden.Ausgewiesen sei
auch,dass sie sich seit dem Eintritt der
Urteilsunfähigkeit um ihren Sohn küm-
mere, und zwar in jenen Belangen, die für
dieVertretung in medizinischenFragen
wesentlich seien: Sie besuche ihnregel-
mässig und wisse, wie es um ihn stehe.
Ihr gesetzlichesRecht aufVertretung
ihres Sohnes bei medizinischen Mass-
nahmen bestehe daher, sofern nicht eine
andere,in der Stufenfolge von Art. 378
ZGB vorrangigePerson zur gesetzlichen
Vertretung befugt sei und diese Befug-
nis auch ausübe. Das sei nicht derFall.
Somit sei dieMuttergesetzlich vertre-
tungsberechtigt.Stichhaltige Anhalts-
punkte dafür, dass dadurch die Interes-
sen des Sohnes gefährdet oder nicht mehr
gewahrt wären, habe der Bezirksrat in sei-
nem Urteil nicht erkannt.Daher sei die
Beschwerde gutzuheissen.

Urteil PQ190053 vom 4. 10.2019, nochnicht
rechtskräftig.

Juso gehen wegen


Noser-Inserat vor


Bundesgericht


Zürcher Jungsozialisten sind mit
Stimmrechtsbeschwerde ab geblitzt

JOHANNA WEDL

Als «absolut inakzeptabel» hat Nathan
Donno, Co-Präsident der Stadtzürcher
Jungsozialisten (Juso), einInserat kriti-
siert, das am 2. November im«Tages-An-
zeiger» erschienen ist.Darin sprechen
sich dreiRegierungsrätinnen und zwei
Regierungsräte dafür aus, im zweiten
Wahlgang bei den Zürcher Ständerats-
wahlen vom17.November dem freisinni-
gen KandidatenRuedi Noser die Stimme
zu geben.Donno ist vor allem sauerauf-
gestossen,dass sichauch der Sozialdemo-
krat MarioFehr für Noser ausgesprochen
hatte. DieJusoreichten schliesslich eine
Stimmrechtsbeschwerde ein und verlang-
ten darin, die betreffendenRegierungs-
ratsmitglieder zu rügen.
DerRegierungsrat tritt nichtauf die
Einsprache ein, wie er in einer Mitteilung
vom Donnerstag schreibt. Beim Inserat
handleessich eindeutig nicht um eine of-
fizielleVerlautbarung. Das sei auf den ers-
ten Blick erkennbar. So fehlten etwa ein
magistrales Logo oder ein entsprechen-
der Schriftzug. Das Inserat sei schlicht
und einfachWahlwerbung von fünf Ein-
zelpersonen, betont derRegierungsrat.
DieJuso wollen die Angelegenheit
damit aber nicht auf sich beruhen las-
sen. Dieser Entscheid sei unverständlich
und demokratiepolitisch heikel. «Es ist

schade,dass die fünf Mitglieder offen-
sichtlich nicht einsehen, dass sie einen
Fehler gemacht haben», schreiben die
Juso in einem Communiqué vom Don-
nerstag. Das Inserat müsse von einer un-
abhängigen Instanz überprüft werden.
Deshalb ziehe man die Beschwerde vor
Bundesgericht.Das begrüssen die Grü-
nen.Auch sie sind der Ansicht,die Exe-
kutive habesich in die öffentliche Mei-
nungsbildung eingemischt.Das sei in-
akzeptabel,sehr befremdlich und zeuge
davon, dass das demokratischeFinger-
spitzengefühl fehle. Die Grünen verlan-
gen zudem, dass sich dieRegierung noch
vor demWahlsonntag auch dafür aus-
spricht, dass man mit der Grünen-Kandi-
datin MarionnaSchlatter als Ständerätin
ebenfalls gut zusammenarbeiten würde.

Nathan Donno
Co-Präsident
PD der StadtzürcherJuso
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