Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 ZÜRICH UNDREGION 19


Verdichten ohne Wohnhoch häuser


Anwohner der Grubenackerstrasse in Zürich Nord haben ihr Gegenmodell zur umstrittenen städtischen Hochhaussiedlung we iterentwicke lt


ADI KÄLIN


So etwas hat man im Zürcher Gemeinde-
rat kaum je erlebt:Als er am 3.Juli über
die geplante Hochhaussiedlung an der
Thurgauerstrasse in Zürich Nord dis-
kutierte, kam es zu turbulenten Sze-
nen, unverhofftenWechseln vom einen
zum andernLager und zu einerRück-
weisung derVorlage in dieKommission.
Auf dem Areal will die Stadt mit ganz
grosserKelle anrühren:Auf einer Flä-
che von etwa 65000 Quadratmetern sol-
len 700 gemeinnützigeWohnungen und
200Alterswohnungen entstehen– unter
anderem in fünfWohnhochhäusern, die
bis 70 Meter in den Himmelragen sollen.


«Wie in den sechziger Jahren»


Die Meinungen zu dieser Überbauung,
die auf einer Planung von Meili/Peter
beruht, gingen weit auseinander. Da ent-
stehe ein «Megablock», meinte einSVP-
Sprecher im Gemeinderat, die AL fand,
es werde nicht sozialverträglich verdich-
tet, und eineVertreterin der Grünen er-
innerte das Ganze an anonyme Gross-
überbauungen der sechzigerJahre. Von
Beginn an hatte sich auch im Gruben-
ackerquartierWiderstand gebildet; die
Bewohner der Einfamilienhäuser fürch-
teten,vondengewaltigenBaumassen,die
da entstehen sollten,erdrückt zu werden.
Die Nachbarn beliessen es aber nicht
beim Protest, sondern wurden aktiv: Sie
gründeten denVerein IG Grubenacker,
später eine Genossenschaft und nahmen
mit demrenommierten StadtplanerJürg
SulzerKontakt auf, der ihnen Gegen-
modelle skizzierte. Sulzer hat als Stadt-
planer in Bern gearbeitet und wurde an-
schliessend Professor für Stadtumbau
und Stadtforschung an der TU Dresden.
WährendsichdieGemeinderäteinder
Kommission weiter mit den Plänen be-
schäftigen und sich wie immer bemühen,
nichts nach aussen dringen zu lassen,sind
auch die Anwohner nicht untätig geblie-
ben.EsgabbeispielsweiseGesprächemit
der Stadt,die von Christian Häberli,dem
Co-Präsidenten der IG Grubenacker, als
durchauskonstruktiv beurteilt werden.
Er glaubt, dass einige Ideen aus dem
Quartier aufgenommen würden, auch


wenn sich am Ende die städtische Pla-
nung durchsetzensollt e.
Jürg Sulzer hat seine Ideen ebenfalls
weiterentwickelt und inVisualisierun-
gen anschaulicher gemacht.Das «Stadt-
quartierWohnhöfe Grubenacker», wie er
es nennt, baut auf bestehenden Struktu-
renmit alten Flurwegen oder markanten
Bäumen auf – im Gegensatz zur stadträt-
lichen Planung, die wie ein Ufo im Quar-
tier landen will und eine Siedlungsinsel
entstehen lässt, wie es schon einige gibt
imbenachbartenLeutschenbachquartier.
Sulzerverzichtet auf dieWohntürme,
dennoch bringt er in seiner Überbauung
ziemlich genau gleich vieleWohnungen
unter.Auch Park und Schulhaus, die vom
Gemeinderatseparatbeschlossenworden
sind, passen perfekt zu SulzersWohn-
höfen.Anders als die Stadt setzt Sulzer
aber auf Blockrandbebauungen, klein-
teiligere Strukturen und will darauf ver-
zichten, den ganzen Boden zuzubauen.
Gegen dieThurgauerstrasse hin sollen
seineHäusersieben-biszehnstöckigwer-
den, gegen die bestehende Siedlung an
der Grubenackerstrasse hin fünfstöckig.

«Mehr als wohnen» alsVorbild


Die Eigentümer der dortigen Einfami-
lienhäuser wissen, dass sich auch ihr
Quartier verändern wird. Denkbar ist,
dass sich einige Besitzer zusammentun,
vielleicht eine kleinere Genossenschaft
gründen–und in der Art der städtischen
Siedlung weiterbauen. Überhaupt fände
es Sulzer besser, wenn schon innerhalb
des heutigen Planungsperimeters nicht
einfach ein paar Grossgenossenschaften
bauen würden, sondern viele kleinere,
vielleicht auch private Unternehmer, die
eine Parzelle von der Stadt übernehmen
könnten. DerWettbewerb,der so ent-
stünde, würde die Qualitätheben.Da-
von istJürg Sulzer überzeugt. Bei der IG
Grubenacker sieht man es ähnlich: Ge-
wissermassendasReferenzobjektfürihre
Ideen ist die genossenschaftliche Sied-
lung «mehr als wohnen», die sich in der
Nähe befindet.Auch dort ist jedes Haus
von andern Architekten entworfen wor-
den;dieÜberbauungwirktdadurchorga-
nischer, als sei sie wie andereTeile der
Stadt, allmählichgewachsen.

«Blockrand ist eine


intelligente Bauform»


Hochhäuser sind für Verdichtung unnötig, sagt Jürg Sulzer


Herr Sulzer, warum stellen Sie sich gegen
Hochhäuser,wie sie dieStadt an derThur-
gauerstrasse erstellen will?
Die innereVerdichtung ist eine ganz zen-
trale politische und gesellschaftlicheAuf-
gabe.Wirkönnenhieraberaufzeigen,dass
dies nicht zwangsläufig mit einer anony-
men Hochhausbebauungrealisiert wer-
den muss. Mit Blockrandbebauung und


den Wohnhöfen,wie wir sie vorschlagen,
kann man eine gleich hohe Dichte fürs
Wohnen erreichen, eine städtische, eine
urbane Dichte. Diese horizontaleVer-
dichtung bietet viel bessere stadträumli-
che Qualitäten, als dies eine Hochhaus-
siedlung tut.


Blockrandbebauungen sind vor allem im



  1. und im beginnenden 20.Jahrhundert
    erstelltworden. Ist das noch ein aktuel-
    les Modell?
    Die Kritikkenne ich natürlich. Ich habe
    ja das nationaleForschungsprogramm


«Neue urbane Qualität» geleitet.Im Syn-
theseberichtstandauch,dassmandieVer-
dichtung vorantreiben müsse. Menschen-
gerechte Verdichtung sollte auf Gebor-
genheit achten, was in unseremLand mit
Hochhäusern nicht sinnvoll ist.Bei Büro-
hochhäusern spielt daskeine Rolle, aber
im BereichWohnenkönntenwir wieder
einmal zeigen, dassVerdichtung sehr gut
ohne Hochhäuser auskommt. Blockrand
ist ebennicht veraltet,sondern eine intel-
ligente, über 300Jahre verwendeteBau-
undWohnform – was man am Beispiel
Turin sehr gut zeigen kann.Da ist auch
immer stark verdichtet worden.

Ist es wichtig,dass man die altenWegeund
Strukturen in die Planung einbezieht?
Wir müssen amVorhandenen anknüp-
fen und nicht etwas völlig Neues erfin-
den.Das schafft Identität.Die Leute ver-
lieren etwas, aber sie finden sich dank
Verbindungen zum Bestehenden wie-
der zurecht, beispielsweise mit den Dia-
gonalwegen, die ich vorgeschlagen habe.
Die Höfe bieten dieVoraussetzung für
gemeinschaftlichesWohnen nach unter-
schiedlichenVorstellungenvonPrivatheit
und Öffentlichkeit.Wichtig ist zudem die
Adressbildung:JedesHausstehtaneinem
SträsschenoderWegundhatseineeigene
Adresse.Auch das schafft Identität, die
wir im Zeitalter von Globalisierung im
Städtebau besonders gestalten sollten.
Interview:Adi Kälin

Jürg Sulzer
Städtebauprofessor
PD TU Dresden

Auffallendander Konzeption vonJürg Sulzer sind dieWohnhöfe. JÜRG SULZER. VISUALISIERUNGLISA LOOSER, 3DRENDER.CH

Die von Sulzer vorgeschlagenen Gebäude bilden ein Gegenstückzuden Geschäftshäusern. JÜRG SULZER. VISUALISIERUNG LISA LOOSER, 3DRENDER.CH

QUELLE: STADT ZÜRICH NZZ Visuals/cke.

Planung der Stadt Zürich für das ArealThurgauerstrasseWest


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Bahnli

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Park

Schulhaus

Höhe des Gebäudes
30 Meter

60 Meter 30 Meter

60 Meter

70 Meter

Hallenstadion
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