Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 WIRTSCHAFT 23


Die Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» würde


den Wohnungsma rkt fundamental umkrempelnSEITE 25


Der Populist und sein Wähler gleic hen sich –


beide sind oft wirtschaftlich Bena chteiligteSEITE 27


Der Plan für die Ära nach Vincenz


Die Raiffeisenbanken wollen die zuvor verlorene Kontrolle über die Zentrale in St. Gallen zurückgewinnen


Die Delegierten der


Raiffeisenbanken werden an


diesem Samstag neue Strukturen


für ihre St. GallerTochter und


Dienstleistungszentrale


beschliessen. DieLaissez-faire-


Zeiten sind endgültig vorbei.


ERMESGALLAROTTI


AmWochenende beginnt für dieRaiff-
eisengruppe endgültig eine neue Zeit-
rechnung. Denn mit an Sicherheit gren-
zenderWahrscheinlichkeit werden die
Delegierten der 229Raiffeisenbanken
das Projekt «Reform 21» an ihrer aus-
serordentlichen Delegiertenversamm-
lung in Zürich-Oerlikon verabschie-
den und die Neuerungen in den Sta-
tuten verankern. Die Delegierten hat-
ten die Reformvorhaben bereits im
Juni, an einemWorkshop imVorfeld
der ordentlichen Delegiertenversamm-
lung in Crans-Montana, in einerReihe
vonKonsultativabstimmungen mitJa-
Anteilen von gut drei Vierteln an-
genommen. In den zurückliegenden
Monaten hatten dieRaiffeisenbanken
an regionalen Versammlungen noch
einmal die Möglichkeit, Stellung zu den
geplantenReformen zu nehmen und
Verbesserungsvorschläge vorzubringen.
Offiziell hatRaiffeisen die finaleVer-
sion der Umbaupläne aber noch nicht
kommuniziert.


Abseits derÖffentlichkeit


Um die volleKontrolle über ihreToch-
tergesellschaftRaiffeisen Schweiz, den
ehemaligen St. GallerKommandobun-
ker von PierinVincenz, zurückzugewin-
nen und zu festigen, haben dieRaiff-
eisenbanken bereits Geschäftsleitung
undVerwaltungsrat personell neu be-
se tzt. Nun folgt,abgeschottet von der
Öffentlichkeit, die Verabschiedung
einer neuen Eignerstrategie, die das
organisatorisch-institutionelleFunda-
ment der «neuen»Raiffeisen Schweiz
zementieren soll. Sie sieht unter ande-
rem vor, dass künftig jedeRaiffeisen-
bank, unabhängig von ihrer Grösse,
mit einemVertreter an der Delegier-
tenversammlung (DV), die ab nächs-
tesJahr in Generalversammlung um-


benannt wird, vertreten sein soll. Die-
ses genossenschaftliche Prinzip – eine
Bank, eine Stimme – gilt heute nicht.
Die derzeit 229Raiffeisenbanken ent-
senden164 Delegierte an dieDVder
St. Galler Zentrale.
ZumThemenkreisEignerstrategie
gehört auch die Neuordnung der städ-
tischen Niederlassungen vonRaiffeisen
Schweiz. Derzeit unterhält die St. Galler
Zentrale eigeneTochtergesellschaften in
einerReihe grosser Städte. Das wollen
dieRaiffeisenbanken ändern. Denn zum
einenkonkurrenzieren diese Niederlas-
sungen dieRaiffeisenbanken und damit
letztlich ihre Muttergesellschaften. Zum
andern wurden sie, als Aktiengesell-
schaftenkonstituiert,in derVergan-
genheit von St. Gallen als Kapitalquel-
len genutzt, um einen grösseren Manö-
vrierraum für eigene Projekte zu gewin-
nen.Das sollkorrigiert werden.

Noch unklar ist,wie die Nieder-
lassungenkonkret aus derRaiffeisen
Schweiz herausgelöst werden sollen.
Arbeitsgruppen sind derzeit damit be-
schäftigt, Lösungsvorschläge auszu-
arbeiten, die an der Generalversamm-
lung im nächsten Sommer vorgestellt
werden sollen. Einfach wird es nicht. Ein
ersterVersuch, dieBaslerNiederlassung
vonRaiffeisen Schweiz anRaiffeisen-
banken in derRegion zu veräussern, ist
gescheitert. Der geforderte Kaufpreis
von weit über1Mrd.Fr. hat sich als ab-
schreckend erwiesen, dieTr ansaktion
kam nicht zustande.

Zwei neueGremien


Neben der Eignerstrategie werden die
Delegierten auchüber zwei neugeschaf-
fene Organe zu befinden haben. Beide
Gremien verfolgen das Ziel, den Infor-

mationsaustausch zwischen der St. Gal-
ler Zentrale und denRaiffeisenbanken
in derPeripherie zu intensivieren. Oder
anders gesagt: Die 229Banken wollen
sicherstellen, dass sie in St. Gallen ge-
hört und ernst genommen werden.Das
erste Gremium, der sogenannte RB-Rat,
versteht sich, namentlich in strategisch-
politischenFragen, als Sparringpart-
ner desVerwaltungsrats vonRaiffeisen
Schweiz. Er wird von den 21Raiffeisen-
Regionalverbänden beschickt, umfasst
rund 20 Mitglieder und ersetzt die aus
der Not geborene, statutarisch nicht legi-
timierte KGRV (Koordinationsgruppe
der Regionalverbandspräsidenten).
Der RB-Rat ist alsKonsultativgremium
ohneWeisungsrechtkonzipiert, das sich
viermal proJahrmitdemVerwaltungs-
rat trifft.Wie man hört, ist dieses Gre-
mium nicht auf die ungeteilte Zustim-
mung derAufsichtsbehördeFinma ge-

stossen, die darin so etwas wie einen
Schattenverwaltungsrat sah.
Das zweite neue Gremium,Koordi-
nationFachgremien genannt, ist eine
Kopie des RB-Rats, das allerdings nicht
auf strategischer, sondern auf operati-
ver Ebene denAustausch mitRaiffeisen
Schweiz pflegen will. In diesem Gre-
mium sind sowohlVertreter der Zen-
trale als auch derRaiffeisenbanken ver-
treten, wobei Letztere in der Mehrheit
sein werden.

Zurück zu denWurzeln


Ansprechpartner dieses Organs sind,
je nachThema, die gesamte Geschäfts-
leitung der St. Galler Zentrale oderein-
zelne ihrer Geschäftsleitungsmitglieder.
Die Absicht ist klar: DieRaiffeisenban-
ken wollen sicherstellen, dass im opera-
tiven Geschäft auftauchende Probleme,
die von übergreifender Bedeutung sind,
in St. Gallen «ankommen» und dort
auch in ihrem Sinne gelöst werden.
Damit wird klar: Die Raiffeisen-
banken wollen mit «Reform21» die in
der ÄraVincenz verloreneKontrolle

über ihre St. GallerTochterRaiffeisen
Schweiz zurückgewinnen, organisato-
risch absichern und statutarisch legi-
timieren. Einenersten Schritt in diese
Richtung haben sie bereits mit der per-
sonellen Neubesetzung von Geschäfts-
leitung undVerwaltungsrat getan, nun
soll dasWerk vollendet werden. Bemer-
kenswert ist, dass dieRaiffeisenbanken
bei der Neuausrichtung ihrer Zentrale
gä nzlich aufgenossenschaftliche Prinzi-
pien und Elemente gesetzt haben. Der
Vorschlag derFinma, die Umwandlung
vonRaiffeisen Schweiz von einer Ge-
nossenschaft in eine Aktiengesellschaft
zu prüfen, istkeinThema mehr.

Künftigsoll jede Raiffeisenbankeinen Vertreter an dieDelegiertenversammlungschicken dürfen. GAËTAN BALLY / KEYSTONE

Israel kritisiert EU-Gerichtsurteil zur Herkunftsbezeichnung


Lebensmittel aus vonIsrael besetzten Gebieten müssen beim Verkauf in der EU als solche ausgewiesen werden


CHRISTOPH G. SCHMUTZ, BRÜSSEL


«Inakzeptabel» sei das Urteil des Euro-
päischen Gerichtshofes (EuGH), teilt
IsraelsAussenminister Israel Katz mit.
Er wolle die von den Richtern unter-
stützte Praxis mit den EU-Aussenminis-
tern besprechen und ihre Anwendung
verhindern. Der Befund gefährde den
Friedensprozess. Diese heftigeReaktion
wurdevon einem EuGH-Urteil ausge-
löst, wonach Lebensmittel aus den von
Israel besetzten Gebieten beim Import
in die EU eine entsprechende Her-
kunftsangabe aufweisen müssen.


Klagein Frankreich


Im November 20 16 hatte das franzö-
sische Ministerium fürWirtschaft und
Finanzen einen Erlass herausgegeben,
wonach Produkte aus den vonIsrael
besetzten Gebieten Ursprungsangaben
wie «Erzeugnis von den Golanhöhen
(israelische Siedlung)» oder «Erzeug-
nisaus demWestjordanland (israeli-


sche Siedlung)» aufweisen sollten. Im
Januar 20 17 erhoben die Organisation
juive européenne und das in einer Sied-
lung imWestjordanland beheimatete
WeinunternehmenVignoble Psagot da-
gegen Klage vor dem Staatsrat. Sie ver-
langten, das höchsteVerwaltungsgericht
Frankreichs solle den Erlass aufheben.
Er verstosse nämlich gegen die EU-
Verordnung betreffend die Informa-
tion derVerbraucher über Lebensmit-
tel von 2011. In derFolge gelangte der
Staatsrat an den EuGH.Erwollte im
Rahmen einesVorabentscheidungser-
suchens wissen, ob das EU-Recht ent-
sprechende Angaben vorschreibe oder
zumindest zulasse.
Die EU-Kommission veröffentlichte
im November 2 01 5 eine Mitteilung
dazu, in welcher die betreffendeVe r-
ordnung hinsichtlich dieserFrage aus-
gelegt wurde. Sie bestimmte, dass eben
beispielsweise Erzeugnisse aus Sied-
lungen imWestjordanland wie oben
erwähnt gekennzeichnet werden müss-
ten. Andernfalls würdenKonsumenten

getäuscht oder in die Irre geführt, was
dieLebensmittel-Informationsverord-
nung aber untersage.
Der EuGH bestätigt in seinem Urteil
dieseAuslegung. Damit dürften die Klä-
ger inFrankreich grundsätzlich unter-
liegen. Das französische Gerichthat
denkonkretenRechtsfall zwar selber zu
entscheiden, wird sich dabei aber an das
Urteil des EuGH halten müssen.
Als Begründung heisst es in einer
MitteilungdesGerichts, dassKonsu-
menten «in Bezug auf dieTatsache irre-
geführt werdenkönnten, dass der Staat
Israel in diesen Gebieten als Besatzungs-
macht und nicht als souveräne Einheit
präsent ist». Fehlten die entsprechen-
den Angaben,könnte der Käufer nicht
wissen, ob das Produkt aus einer Sied-
lung stammt,die unterVerstoss gegen
das humanitäreVölkerrechterrichtet
wurde. Die EU-Verordnung schreibe
jedoch vor, dass die Informationen auf
den Produkten denKonsumenten eine
fundierteWahl zu ermöglichen hätten.
Dabei zu berücksichtigen sind viele Ge-

biete wie Gesundheit,Wirtschaftlichkeit,
Umwelt, soziale Angelegenheiten, Ethik
undVölkerrecht.
DasisraelischeAussenministerium
warf der EU daraufhin eine Doppel-
moral vor. Es gebe schliesslich über 200
laufende Auseinandersetzungen um
Gebiete, und zukeinem anderen Kon-
flikt habe sich der EuGH geäussert.Das
Urteil sei politisch motiviert und diskri-
minierend.Auch dasUS-Aussendepar-
tement zeigte sich «zutiefst besorgt». Die
verlangte Beschriftung ermutige, erleich-
tereund fördere Boykotte, Desinvestitio-
nen und Sanktionen (BDS) gegen Israel.
Eine unter diesemKürzel bekannte, um-
strittene Gruppierung wird von Israel als
existenzielle Bedrohung aufgefasst.
Hochrangige EU-Beamte beeilten sich
darauf am Donnerstag in Brüssel, darauf
hinzuweisen, dass es sichkeineswegs um
Diskriminierung handle.Man orientiere
sich am völkerrechtlichen Status, und die-
ser sei für die besetzten Gebiete anders
als etwa für dieWestsahara oder die Krim.
Ferner gewähre die EU Israel imRah-

men des Assoziierungsabkommens von
2000 vorteilhafte Zölle. Diese gelten nicht
für Produkte aus den besetzten Gebie-
ten, weil diese als nicht aus Israel stam-
mend betrachtet werden.Vergleichbare
Diskussionen flammten beispielsweise
2012 auch in der Schweizauf.

Nur wenige Waren betroffen


Bereits zur Jahrtausendwende, nach
Abschluss des erwähnten Abkommens,
stritt sich die EU mit Israel über Ur-
sprungsnachweise. 2004 wurde der Dis-
put beigelegt. Israel sicherte zu, künf-
tig den Zollbehörden neben «Made in
Israel» die exakte Ortschaft offenzu-
legen, und für Güter aus den besetzten
Gebieten auf die vorteilhafteren Zölle
zu verzichten. DieKontrolle undUmset-
zung derVorschriften zur Beschriftung
von Produkten ist Sache der Mitglied-
staaten.2 01 8 importierte die EUWaren
imWert von 13,6 Mrd. € aus Israel.Laut
Schätzungen stammt1% davon aus den
besetzten Gebieten.

Zum Themenkreis
Eignerstrategie gehört
auch die Neuordnung
der Niederlassungen
von Raiffeisen Schweiz.
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