Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 WIRTSCHAFT 27


Den Rentensystemen droht die Zersetzung


Die private Organisation Group of Thirty zeichnet ein düsteres Bild vonder Tragfähigkeit der Altersvorsorgesysteme


WERNER ENZ


Ein Expertengremium der Group of
Thirty (G-30), in dessenAusschuss auch
Philipp Hildebrand und AxelWeber sit-
zen, hat die in den vergangenenJahr-
zehnten entstandenenRentensysteme
durchleuchtet.Wird der Status quo,da-
mit vor allem dasabgegebene Leistungs-
versprechen, insJahr 2050 extrapoliert,
ergibt sich für 21Länder, die zurzeit für
90% der weltweitenWirtschaftsleistung
und 60% der Bevölkerung stehen,ein
ernüchternder Befund: Ohne grössere
Korrekturen, sei es eine Erhöhung des
Rentenalters oderauch eineAbsenkung
der Rentenleistungen, werden dieSys-
teme bis insJahr 2050 wohl bis zur Un-
kenntlichkeit zersetzt werden.Es ergeht
denn auch der Appell der G-30 – einer
privaten Organisation führenderVertre-
ter derFinanzwirtschaft – an dieRegie-
rungen, Schritt für SchrittAnpassungen
vorzunehmen.


Steigende Lebenserwartung


Für die Schweiz werdenkeine detaillier-
tenPrognosenvorgelegt,aberletztlichist
das Land denselben Kräften ausgesetzt
wieandere re ifeIndustrienationen.Esist
bestensbekannt,dassdieAHVbeieinem


fixenRentenalter von 65 schon bald in
eine Schieflage geraten wird, weil weni-
gerArbeitskräfte (imAlter von 20 bis 65
Jahren) für mehr Senioren werden auf-
kommen müssen; da die laufendenRen-
ten direkt in der Umlage durch laufende
Lohnabgaben finanziert werden, ist die
AHV vom Alterungsprozess der Gesell-
schaft sehr stark betroff en. Alleine auf
eine Steigerung der Arbeitsprodukti-
vität zu setzen, ist gefährlich, denn dies
wird gemäss den Erwartungen der G-30-
Experten zur Stabilisierung nicht ausrei-
chen.Seit einigenJahren seien, erstens,
die jährlichen Produktivitätsgewinne
in den Industrieländernenttäuschend
schwach ausgefallen. Und zweitens wür-
den mit mehrWohlstand auch die An-
sprüche derRentner steigen.
Für die dankeiner starken Immigra-
tion vergleichsweise junge Industrie-
nation USA giltFolgendes:Im Jahr 1950
wurden auf 100 Arbeitende (20 bis 64
Jahre) 14 Rentner gezählt. Im Jahr 20 00
waren es schon 21,und imJahr 2050 wer-
den es schätzungsweise 40Rentner sein.
Ein 65-jähriger Amerikaner hatte 1950
eineLebenserwartungvon14 Jahren–im
Jahr 2050 werden 67-jährigeAmerikaner
imDurchschnittetwa90 Jahrealtwerden.
Der Alterungsprozess schreitet voran,
auch wenn jüngst die Lebenserwartung

für Amerikaner mittleren Alters mit ge-
ringen Einkommen undgrossen Sucht-
problemen etwas gesunken ist.

Möglichst früh beginnen


Wird an den bestehendenRentensyste-
menin21Ländern(u. a.denUSA,China,
Indien, Indonesien sowie den europäi-
schenLändernDänemark,Deutschland,
Frankreich,Italien, Spanien und Schwe-
den) nichts geändert, wird sich bis ins
Jahr 2050 eine enorme Lücke zwischen
abgegebenenVersprechen und vorhan-
denenFinanzmitteln auftun. Die G-30
errechnen mit15 800 Mrd. inheutigen
DollarseineZahl,dievonderamerikani-
schenWirtschaftsleistung (in einemJahr
rund19 000 Mrd. $) nicht allzu stark ab-
weicht. Es geht somit um gewaltige
Finanzlücken, wobei von denAutoren
derStudienochangefügtwird,mangehe
hierbeivonoptimistischenErwartungen
fürdasReal-unddasLohnwachstumwie
auchfürdieAnlagerenditenaus.Dasjet-
zige System ist mit anderenWorten in
den meistenLändern überhaupt nicht
nachhaltigfinanziert.
Die Rezepte zur Entschärfung der
Lage sindrasch zur Hand:ein steigendes
Rentenalter,Arbeiten nach Erreichen
des Rentenalters, grössereSparanstren-

gungen während des Erwerbslebens,ein
höheres Steueraufkommen und schliess-
lich auch die Bereitschaft, im Alter mit
einer kleinerenRente auszukommen.
Sehr effektiv wäre es, wenndas Renten-
al ter beispielsweise in den 21 erwähn-
ten Nationen auf 70 erhöht würde (vgl.
Grafik); damitkönnte die Lücke unge-
fähr zur Hälfte geschlossen werden, was
hoffen lässt.Länger arbeiten und ten-
denziell weniger lang eineRente bezie-
hen ist wohl die unausweichlicheWahl.
Jedenfalls empfiehlt die G-30,Refor-
men möglichst frühzeitig in Angriff zu
nehmen, weil dann die Eingriffe weni-
ger drastisch ausfallen und eher die Zu-
stimmung der Bevölkerung finden.
Viel Lob wird Schweden oderDäne-
mark gespendet, die dasRentenalter
unter Berücksichtigung derWirtschafts-
entwicklung und der Altersstruktur lau-
fend leicht (nach oben) anpassen und
damit einenDauerstreit um sozialpoli-
tisc he Eingriffe vermeiden.Dänemark
etwa gleiste vor mehr als zehnJahren
Reformen auf: Anreize für längeres
Arbeiten wurden eingeführt und die Be-
dingungen für die vorzeitigePensionie-
rung verschärft.Weiter wurde dasRen-
tenalter stufenweise von 65 auf 67 ange-
hoben.DieDänen hätten mit ihrem gra-
duellenAnsatz nachhaltigeFortschritte

verzeichnet und seien auf die Herausfor-
derung eingestimmt, auch länger als bis
ins Alter 70 zu arbeiten. Die Schweiz ist
derweilunverändert mit einem starren
AHV-Alter von 65Jahren für Männer
und 64Jahren fürFrauenkonfrontiert.

Der Populist ist oft ein Verliere r –

und sein Wähler ebenso

Der schwedische Ökonom Torsten Persson erläutert im Gespräch das Wesen radikale r Politiker


THOMAS FUSTER


Hillary Clinton sprach in ihrem erfolg-
losenWahlkampf einst von einem«bas-
ket of deplorables», von einem «Korb
voller Bedauernswerter». Sie meinte da-
mit jene Menschen, die von Abstiegs-
ängsten geplagt sind und ihr Heil bei
DonaldTrump suchen.In der Öffentlich-
keit kam dieseVerallgemeinerung gar
nicht gut an, vonVerhöhnung und Arro-
ganz war dieRede. Dennoch,komplett
daneben lag Clinton nicht.Denn zu den
Wählern von populistischenPolitikern
gehören tatsächlich überdurchschnittlich
vieleVerliererdes ökonomischenWan-
dels. Das gilt inzwischen als Binsenwahr-
heit und ist durch di verse Studien belegt.
Für TorstenPersson greift dies aber
zu kurz.Der schwedische Ökonom inter-
essiert sich nicht nur für die Nachfrage-
seite desPopulismus, also für dieWäh-
le r. Er will auch die Angebotsseite bes-
ser verstehen, das heisst die in populis-
tischenParteien engagiertenPolitiker.
Zusammen mit einem internationalen
ForscherteamhateralleinSchwedenge-


wähltenPolitikerzwischen2002und20 14
analysiert.Schweden eignet sich deshalb
als Forschungslabor, weil dort dierechts-
nationalen Schwedendemokraten (SD)
von einer marginalen Bewegung zur
drittstärksten Kraft aufgestiegen sind,
mit einemWähleranteil von knapp18%.
DerenPolitiker profilieren sich – ideal-
typisch für vielePopulisten – mit Kritik
an der Migration und am Establishment
sowi e mit einemkonservativen Gesell-
schaftsideal.
Das Ergebnis der aufwendigen Ana-
lyse erläutertPersson bei einem Ge-
spräch in Zürich. Es zeigt sich, dass of-
fenbar nicht nur dieWähler der SD zu
grossenTeilen aus Bevölkerungsgrup-
pen stammen, derenrelativer ökonomi-


scher Status sich in den vergangenenJah-
ren verschlechtert hat.Dasselbe gilt auch
für die Politiker der populistischenPar-
tei. Mit anderenWorten: Die wirtschaft-
lich und sozial «abgehängten» Bevölke-
rungsteile unterstützen die SD nicht nur
an denWahlurnen; sie sind es auch, die
sich derPartei als Mitglieder anschlies-
sen und als Kandidierende ein Amt an-
streben. Bei Letzteren handelt es sich
fast ausschliesslich um Neueinsteiger, die
zuvor noch nie in einerPartei waren;Par-
teienwechsel zur SD sind extrem selten.

Ärmerund unglücklicher


Wie kommtPersson zu diesemResul-
tat? Er hat die schwedische Bevölke-
rung unterteilt in sogenannte Insider, die
einer festen Arbeit nachgehen, und in
Outsider, die arbeitslos sindoder sich in
eineminstabilen Beschäftigungsverhält-
nisbefinden.DieersteGruppewurdezu-
dem weiter untergliedert in sichere und
verletzliche Insider.Verletzliche Insider
sind Menschen, die aufgrund ihres Be-
rufs einem grösseren Risiko ausgesetzt
sind, dass ihreArbeitdereinstdurch die
Automatisierung oder den Strukturwan-
del hinfällig wird.Die Big-Data-Analyse
zeigtnun,dasssowohldieWähleralsauch
diePolitikerderSDübermässigvertreten
sin dbei den Outsidernund bei den ver-
letzlichen Insidern.Vereinfacht gesagt:
Übervertreten sind dieVerlierer.
LautPerssonkanndasResultatpositiv
undnegativgewertetwerden.«Positivist,
dass eine Gruppe, die bisher in derPoli-
tikkaumvertretenwar,nunbesserreprä-
sentiert wird.» Die SD erfülle insofern
eine traditionelleFunktion von neuen
Parteien in Demokratien und trage zur
Inklusion bei. Negativ schlägtzu Buche,
dass PolitikerderSDgeringereFähigkei-
ten aufweisen alsPolitiker andererPar-
teien.Das gilt nicht nur mit Blick auf die
berufliche Erfahrung und das Bildungs-
niveau. Gemessen wurden auch wei-
che Faktoren wie die Motivation oder
das sozialeVertrauen. Glaubt man zu-
demderGlücksforschung,wonachMen-
schen in Beziehungen und mit Kindern
glücklichersind,dürftendieSD-Politiker
auch unglücklichersein, da Singles und
Kinderloseüberdurchschnittlich vertre-
ten sind.Nunkönnte man zur Ehrenret-
tungderpopulistischenPolitikereinwen-

den,das ökonomische Handicap sei viel-
leicht auch damit zu erklären,dass diese
Politikeraus ärmlicherenVerhältnissen
stammen – mit der familiären Herkunft
als o. Wie Persson zeigt, trifft dies aber
nicht zu.Vergleicht man die wirtschaft-
lichenVerhältnisse der Eltern, ist zwi-
schenPolitikern der SD undPolitikern
andererParteien kaum ein Unterschied
feststellbar. Das heisst: Beide Gruppen
verfügten über denselben sozialen Hin-
tergrund, über die gleichen Startvoraus-
setzungen.DochwährendesdiePolitiker
andererParteien zu einem überdurch-
schnittlich hohen Einkommen brach-
ten, verlief die Karriere der SD-Vertre-
ter weniger erfolgreich,sie kamen kaum
vom Fleck.
NatürlichlassensichdieResultateaus
Schwedennichtohneweiteresaufandere
Länder übertragen.Zudem ist offenkun-

dig, dass sich unter populistischenPoli-
tikern auch ökonomisch erfolgreiche
und wohlhabende Zeitgenossen fin-
den; DonaldTrump ist das bekannteste
Beispiel. «Unsere Studie legt aber den
Schlussnahe,dassaufderNachfrage-und
de rAngebotsseite desPopulismus ähn-
liche Kräfte wirken»,sagt Persson.

Migrationist nichtHauptgrund


Damit sich diese Kräfte entfalten,
braucht es aber äussere Ereignisse. Sol-
che Auslöser führen dazu, dass man sich
mit derVerliererseite identifiziertund
die «Outgroups» für die eigene Unbill
verantwortlich macht, etwa das Esta-
blishment oder die Zuwanderer, die
den Einheimischen aus dieserPerspek-
tive nicht nur dieJobs wegnehmen, son-
dern auch potenziellePartner.

Laut Persson ist derAufstieg der
Schwedendemokraten nicht primär mit
einer zu lockeren Einwanderungspolitik
zu erklären. Soerlebte diePartei schon
vor der Flüchtlingskrise von 2015 einen
starkenAuftrieb. Als wichtiger wertet
der Ökonom zwei andere Auslöser, die
das Leben vieler Menschen veränderten.
Ers tens einReformprogramm der zwi-
schen 2006 und 2014 regierenden Mit-
te-rechts-Koalition,das markante Sen-
kungen von Steuern undAusgaben zur
Folge hatte. Dies verschlechterte die
Lage von Outsidern, die von Sozialpro-
grammen abhängig waren. Zweitens die
Finanzkrise von 2008, welche dieVer-
unsicherung der «verletzlichen Insider»
und derenAngst vor einemArbeitsplatz-
verlust erhöhte. Beide Ereignisse führ-
ten dazu, dass aus wirtschaftlichenVer-
lierern politische Gewinner wurden.

In Schweden sindWählervon Populisten und diese selbst öfter arbeits- und kinderlos als derDurchschnitt. SOREN ANDERSSON / AP

Torsten Persson
UNIVERSIT Ökonom

ÄT STOCKHOLM
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