Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

28 WIRTSCHAFT Freitag, 15. November 2019


Kirgistan hängt an Chinas seidenem Faden


Zentalasien sol l Teil der neue n Seidenstrasse sein, doch die Vorbehalte und Widerstände geg enüber Peking sind in der Region gross


GERALDHOSP, OSCH


Mitten im Berg prangt ein weit auf-
gerissenesAuge. Zumindest sieht es
so aus, als starre dieFassade aus Be-
ton und Glas des Historischen Muse-
ums aus dem Suleiman-Too heraus,
um in dieFerne zublicken. Üblicher-
weise ist es jedoch der Bergin Kirgistan,
um den sich die 30 00 Ja hre alte Han-
delsstadt Osch erstreckt, der mit gros-
senAugen angeschaut wird. Im zentral-
asiatischen Staat gilt der Suleiman-Too
als heilig. Zu Zeiten der Seidenstrasse,
der altenVerbindungsrouten zwischen
China und Europa, diente der schroffe
Berg alsWegweiser für die Handels-
reisenden. Hochragt dieFelswand aus
der Ebene des fruchtbaren Fergana-Tals
heraus, in dem Kirgistan mit den Nach-
barn Usbekistan undTadschikistan ver-
woben ist. Manche sehen im Berg bei
Osch gar den steinernenTurm, den der
Geograf und Astronom Claudius Pto-
lemäus in der Antike als Mitte der Sei-
denstrasse beschrieb.


Regionaler Umschlagplatz


Rund 20 Kilometer von Osch ent-
fernt liegt Karasuu. Der Markt in der
Stadt, die an der usbekisch-kirgisischen
Grenze liegt, ist heute bedeutender als
der Handelsplatz Osch. Nach dem Zer-
fall der Sowjetunion entwickelte sichder
Basar von Karasuu neben dem Dordoi-
Markt in der Hauptstadt Bischkek zu
einem Drehkreuz für denregionalen
und den internationalen Handel. Kirgi-
stan war und ist vor allem ein Umschlag-
platz für chinesischeWaren auf dem
Weg nach Zentralasien undRussland.
Menschen,Waren und Gerüche drän-
gen sich einem auf, wenn man in die en-
genKorridore des Marktes von Kara-
suu eintaucht. Zu einem grossenTeil
besteht der Handelsplatz aus aufein-
andergestapelten Schiffscontainern, die
Spalier stehen. Im unteren Container ist
derVerkaufsraum, im oberen dasLager.
Anzüge, Socken, Schuhe, Taschen, Tep-
piche, Kleiderstoffe, traditionelle kirgi-
sische Hüte, Smartphones, Küchenzu-
behör und Elektrogeräte stapeln sich in
ewig langen Gängen.Daneben bieten
Händler auch Schweinefüsse, Granat-
äpfel,Bananen, Äpfel,Koriander oder
Dill an ihren Ständen feil.
Kirgistan wird gerne die Schweiz
Zentralasiens genannt. Dies liegt nicht
nur an der eindrucksvollen Bergwelt,
sondern auch daran, dass dasLand im
Vergleich mit seinen Nachbarn alsre-
lativ demokratisch gilt, auch wennKor-
ruption weit verbreitet ist.Was jedoch
gar nicht nach der Schweiz klingt, ist der
geringeWohlstand. Eines der grössten
Exportgüter desLandes sind Arbeits-
migranten.Rund ein Drittel des Brutto-
inlandprodukts besteht ausRücküber-
weisungen von Kirgisen, die imAusland,
vor allem inRussland,arbeiten. Eine in-
dustrielleBasis imLand fehlt.
Der Gebirgsstaat mit einerBevölke-
rung von rund6Mio. wird zudem von
der GoldmineKumtor geprägt, die für
etwa17% der Staatseinnahmen sorgt.
Kumtor istauchein Grund dafür, dass
die Schweiz ein Haupthandelspartner
Kirgistansist. Kirgisisches Goldwirdzu
einem grossenTeil in SchweizerRaffine-
rien weiterverarbeitet, wobei das Han-
delsvolumen Schwankungen unterliegt.
Ebenso bedeutend war lange Zeit
wegen der niedrigenAussenzölle und
einfacher Einfuhrbestimmungen die
Rolle Kirgistans alsTr ansitland für chi-
nesischeWaren, wie der Markt in Ka-
rasuu zeigt.Das Handelsgeschäft hat
jedoch gelitten. Die Beziehungen zwi-
schen Kirgistan und Usbekistan waren
immer schonkonfliktgeladen. ImJahr
2010 wurde die Grenze für längere Zeit
geschlossen, zumal in Osch Unruhen
zwischen der kirgisischen und der usbe-
kischen Bevölkerung ausgebrochen
waren. Es gibt zudem Berichte, dass
usbekische Händler vermehrt direkt
Waren aus China importieren. Hasan
Karrar von derLahore University of
Management Sciences, ein Experte für
die Basarökonomie, geht davon aus,


dass Karasuu immer noch eine wichtige
Drehscheibe für den Süden Kirgistans
ist. Die Bedeutung für den Handel mit
den anderenLändern habe jedoch ab-
genommen.
Vor vierJahren trat Kirgistan zu-
dem der EurasischenWirtschaftsunion
bei, der ausserdemRussland,Weissruss-
land, Kasachstan und Armenien ange-
hören.Das Klagen in denBasaren war
zunächst gross, weil der Beitritt zu höhe-
ren Aussenzöllen führte, die vor allem
auf russischen Zöllen basieren. Dadurch
wurde derTr ansithandel grundsätzlich
teurer. Der Handel litt insgesamt, auch
derjenige mit den anderenLändern der
Wirtschaftsunion. Die Gründe dafür
lagen in der geringenWettbewerbsfähig-
keit Kirgistans, aber auch in derWirt-
schaftsschwächeRusslands zu jener Zeit
und in einemKonflikt mit dem Nach-
barn Kasachstan.

Investition indie Infrastruktur


Mit mehroder weniger sanftem Druck
hatRusslandKirgistan davon über-
zeugt, derWirtschaftsunion beizutreten.
Ein Motiv Bischkeks dafür war auch
der ständig wachsende Einfluss Chinas.
Ohnehin versuchen sämtliche zentral-
asiatischen Staaten, sich in der Bezie-
hung mitPeking und Moskau zurechtzu-
finden.Vorläufig brachte die Eurasische

Wirtschaftsunion für das zentralasiati-
scheLandkeine Lockerung derBande
mitPeking.Auch Karrarkonntekeinen
Rückgang des Handels an denBasaren
wegen derWirtschaftsunion feststellen.
Nach einer Schwächephase hat der Han-
del mit Chinagemäss den offiziellen kir-
gisischenDaten wieder zugelegt, vor ei-
nigenJa hren überholte das Reich der
MitteRussland bei den Importen.
ChinasInteresse an Kirgistan geht
aber über denreinen Handelsfluss hin-
aus. Der Startschuss zu einer neuen Be-
ziehung fand imJahr 2013 statt, als Chinas
Staatschef Xi Jinping die Belt-and-Road-
Initiative imRahmen einesTr effens der
Schanghaier Organisation für Zusam-
menarbeit (SCO) in Bischkek vorstellte.
Zur SCO gehören derzeit nebenRussland
und China auch Indien undPakistan so-
wie die Staaten Zentralasiens ohneTurk-
menistan.Kirgistan stimmte bereitsda-
mals einer strategischenPartnerschaft zu,
die imJuni 20 18 vom kirgisischen Präsi-
denten Sooronbai Scheenbekow und von
Xi bekräftigt wurde. Mit der neuen Sei-
denstrasse will Peking neue Handelswege
nach Europa und Afrika und in Asien
bauen.Dafür sind Milliardeninvestitio-
nen in Strassen, Schienenwege, Häfen und
andere Infrastrukturprojekte vorgesehen.
Und wenn das arme Kirgistan eines be-
nötigen kann, dann sind dies Investitio-
nen in die Infrastruktur.

Das Gebirgsland würde dadurch wie
schon zur Zeit der alten Seidenstrasse
zu einerTr ansitroute zwischen Ost und
West. Mit demAusbauvon Strassen
und Zügen würdeauch Kirgistan besser
an dieWeltwirtschaft angebunden.Der-
zeit wird an einerVerbindungsstrasse
zwischen Bischkek und Osch gebaut.
Ein wichtiges Projekt stellt eine Zug-
verbindung von Kashgar im äussersten
Westen der chinesischen Provinz Xin-
jiang über Kirgistan nach Usbekistan
dar, was auch eine weitere Anbindung
anTurkmenistan, Iran und dieTürkei

bedeuten würde. Pläne für eine solche
Bahnlinie gab es jedoch schon vor der
Belt-and-Road-Initiative.
China ist nichtnur Kirgistansgrösster
Handelspartner, sondern auch einer der
grössten Gläubiger.Rund die Hälfte der
kirgisischen Staatsverschuldung liegt
in chinesischen Händen.Dabei ist die
Export-Import-Bank Chinas ein wich-
tiger Akteur. ImRahmen der neuen
Seidenstrasse verschuldet sich Bisch-
kek beiPeking. Die chinesischePolitik
steht weltweit in der Kritik, dass ärmere
Länderinfinanzielle und politische Ab-
hängigkeit gedrängt würden. Die Öko-
nomen Sebastian Horn, CarmenRein-
hart und ChristophTr ebesch schreiben
zudem in einer Studie,dass ein Gross-
teil der chinesischen Kredite nicht in
den Statistiken der internationalen
Organisationen auftauche und deshalb
versteckt sei. Kirgistan gehört dabei zu
denLändern, die, gemessen an derWirt-
schaftsaktivität, bei den Chinesen am
meisten in der Kreide stehen.

KomplizierteNachbarschaft


Der Gefahr der Abhängigkeit ist man
sich in Bischkek bewusst. Die Schulden-
aufnahme imAusland hat in denvergan-
genenJahren abgenommen, die Schul-
densind häufig langfristig, wasLuft bei
der Rückzahlung verschafft. Zudem
verfolgt Kirgistan im Unterschied zum
NachbarnTadschikistankeine Prestige-
projekte.
Vielmehr mussten sich die verschie-
denenRegierungen in der Öffentlich-
keit dafürrechtfertigen, mit China zu-
sammenzuarbeiten. Antichinesische Ge-
fühlesind weitverbreitet. ImJa nuar kam
es zu heftigen nationalistischen Protes-
ten in Bischkek, bei denen die Demon-
stranten forderten, gegen Chinesen im
Land vorzugehen.Viele Kirgisen füh-
len sich benachteiligt, weil bei den Belt-
and-Road-Projekten vor allem chinesi-
sche Unternehmen und Arbeiter zum
Zugekommen.
FürUnmut in der Bevölkerung sor-
gen auch die sogenannten Umerzie-
hungslager in der chinesischen Provinz
Xinjiang, die an Kirgistan grenzt.Peking
rechtfertigt die Gefängnisse für mehrals
1Mio. Uiguren und andere muslimische
Volksgruppen, zu denen auch ethnische
Kirgisen gehören, mit der Bekämpfung
von islamistischemTerror. Vonoffiziel-
ler kirgisischer Seite wird dieser Um-
stand jedoch bestritten.
Dass chinesische Investitionen zu
politischenVerwerfungen führen, zeigte
zudem die Sanierung des städtischen
Heizkraftwerks in Bischkek. Ein chine-
sisches Unternehmen hatte mit Krediten
aus China die Kraft-Wärme-Kopplungs-
Anlage modernisiert.Das Werk fiel aber
kurz danach, imJanuar 2018, aus und
liess die Bevölkerung in der Hauptstadt
frieren. DerRegierung und dem chinesi-
schen Unternehmen wurdeKorruption
vorgeworfen. Es kam zurVerhaftung
zweier frühererRegierungschefs.
DieVorbehalte undWiderstände
gegenüber China sind in Kirgistan
gross. Gleichzeitig bieten die chinesi-
schen Investitionen undWaren dem
armenLand eine wirtschaftlichePer-
spektive. Ob die neue Seidenstrasse die
Länder verbinden wird, muss sich erst
noch zeigen.

Aufdem Markt von Karasuuwerden auchFrüchte,Gebäck und Fleischspiesse für den Hungerzwischendurchangeboten. GERALD HOSP

BlickvomBerg Suleiman-Too auf die 3000 Jahre alte Handelsstadt Osch. GERALD HOSP

500 Kilometer NZZ Visuals/lea.

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