Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 INTERNATIONAL 3


In Israel und in


Gaza schweigen


die Waffen


Die Hamashält sich
aus demKonflikt heraus

INGAROGG, JERUSALEM

ZweiTage lang heulten in den israeli-
schen Städten und Dörfern rund um
den Gazastreifen die Sirenen, Schulen
und Behörden blieben geschlossen, Er-
wachsene und Kinder flüchteten in Luft-
schutzbunker.Mehr als 450Raketen
und Granaten feuerten palästinensische
Extremisten laut der israelischen Armee
ab, wobei die meisten durch dieRake-
tenabwehr abgefangen wurden.Auch
im Gazastreifen kam das Leben weitge-
hend zum Erliegen.AusAngst vor den
israelischen Luft- und Artillerieangrif-
fen verbarrikadierten die Einwohner
sich in ihrenWohnungen und Häusern.
Schneller als von vielenerwartet
endeten die jüngsten Kampfhandlun-
gen am Donnerstag. In den frühen Mor-
genstundentrateinWaffenstillstand in
Kraft, den Ägypten und die Uno in der
Nacht vermittelt hatten. Nach Angaben
der Gesundheitsbehörden in Gaza for-
derten die israelischen Angriffe 34
Tote, unter ihnen sechs Kinder und drei
Frauen, mehr als110 Personen wurden
verletzt.Auf israelischer Seite erlitten
knapp 80Personen meist leichteVerlet-
zungen oderPanikattacken.

Palästinensische Rivalitäten


Israelische Regierungs- und Armee-
vertreter bezeichneten die «Operation
schwarzer Gürtel» als vollen Erfolg. Bei
den meistenToten handle es sich um
Kämpfer – diePalästinenser sprechen
von19, die Israeli von 23 bis 25 –, und
die Angriffe hättensichvor allem gegen
Waffenverstecke gerichtet. Das belege,
dass die israelische Armee sich bemüht
habe, die Schäden für die Zivilbevölke-
rung gering zu halten.
Ein Sprecher des Islamischen Jihad,
gegen densich die Militäroperationrich-
tete, erklärte hingegen, der vereinbarte
Waffenstillstand basiere auf seinenFor-
derungen. Unter anderem verzichte
Israel auf gezielteTötungen wie die
vonBaha Abu al-Atta, die den Schlag-
abtausch ausgelöst hatte. Israel hat
dies freilich dementiert. Gut möglich,
dass die Extremisten darüber hinweg-
täuschen wollen, wie isoliert sie waren.
Der grösste Erfolg für die israelischen
St reitkräfte und die amtierendeRegie-
rung ist, dass sich die Hamas, die den Ga-
zastreifen seit zwölfJahrenkontrolliert,
aus demKonflikt herausgehalten hat.
Hätte sie das nicht getan, hätte derKon-
flikt schnell zu einem Krieg wie zuletzt
2014 führen können. Doch für die Hamas
is t der Islamische Jihad eineKonkurrenz,
die ihr dieVorherrschaft im Gazastreifen
streitig macht.Während die Rivalen seit
Monaten auf eine Eskalation mit Israel
setzen, versucht die Hamas alles, um den
vor fünfJahren vereinbartenWaffenstill-
stand zu erfüllen.

Israel ist politischgefordert


Israel hat sich denKonflikt zwischen der
Hamas und dem Islamischen Jihad zu-
nutze gemacht, indem es von Anfang an
alles tat,um den Eindruck zuvermeiden,
die Militäroperation richte sich gegen
die Herrscher in Gaza. Doch der Erfolg
könnte von kurzerDauer sein.Waffen-
arsenale lassen sich wieder aufstocken.
Will Israel wirklich Kapital aus dem
innerpalästinensischenKonfliktschla-
gen, müsste es der Hamas entgegen-
kommen.FünfJahre nach dem Krieg
sind die Lebensbedingungen im Gaza-
streifen katastrophal, eine Zukunftsper-
spektive gibt es nicht.
Die Profiteure des Unmuts sind
Gruppierungen wie der Islamische
Jihad, die nochradikaler sind als die
Hamas. In Israel weiss man das, und es
gibt genügend Stimmen innerhalb der
Streitkräfte,des Geheimdienstes und
derPolitik, die für eine Lockerung der
Blockade des Gazastreifens eintreten.
Doch seit einemJahr befindet sich Israel
in der politischenDauerkrise.Sollte sich
daran nichtsändern,könnte es sein, dass
Israeli undPalästinenser bald wieder vor
Raketen und Bomben fliehenmüssen.

Eine aussterbende Gattung


Pflichtbewusste Beamte sind die ersten Opfer der Impeachment-Hearings in den USA


PETER WINKLER,WASHINGTON


WilliamTaylorundGeorgeKent waren
bis vor kurzem nur einem kleinenPer-
sonenkreis bekannt. Natürlich,in diplo-
matischen Zirkeln, vor allem im Osten
Europas, waren sieregelmässig anzutref-
fen. Doch für das breite amerikanische
Publikum waren sie namenloseVertre-
ter einer Beamtenschaft, der man ge-
meinhin mit tiefem Misstrauen begeg-
net, die aber ironischerweise für das
Funktionieren jedes Staates unentbehr-
lich ist. Man hofft dann, eher notgedrun-
gen, dass sie ihreArbeit anständig ma-
chen und in erster Linie dasWohl des
Landes imAuge haben.


Im grellen Rampenlicht


Seit Mittwoch, dem 13. November, ist
diese Lebensphase fürWilliamTaylor
und GeorgeKentVergangenheit. Sie
sind in die Mühlen einerAuseinander-
setzung geraten,die sie nie suchten, der
sieaus Pflichtbewusstsein aber auch
nicht ausweichenwollten. Sie waren die
ersten Zeugen in den öffentlichen Hea-
rings imRahmen des Impeachment-Ver-
fahrens gegen Präsident DonaldTr ump.
Beide sind für das State Department
tätig,eine riesige Maschine mit rund
75000 Angestellten, mit der Amerika
seine Präsenz und –mindestens in frühe-
ren Zeiten – seinen Gestaltungswillen in
der ganzenWelt markiert.Kent ist aner-
kannter Spezialist für alles, was mit der
Ukraine zu tun hat, und er entstammt
einerFamilie,die sich mittlerweile in
der dritten Generation dem Staatsdienst
verschrieben hat.Taylorseinerseits war
ein Musterschüler der Militärakade-
mie vonWestPoint,Vietnam-Veteran
und seitJahrzehnten in verschiedenen
Funktionen im Staatsdienst tätig.Aus-
senminister MikePompeo holte ihn aus
demRuhestand zurück, um in Kiew
die Lückezu füllen, die der überstürzte
Rückruf der Botschafterin MarieYova-
novitch hinterlassen hatte.
Beide Diplomaten hatten fürRegie-
rungen von demokratischen undrepu-
blikanischen Präsidenten gearbeitet, wie
die meisten Beamten. Beide waren aber
auch über dasVorgehenTr umps und sei-
ner inoffiziellen Ukraine-Gesandten be-
unruhigt. Sie stellten fest, dass die offi-
zielle amerikanische Diplomatie gegen-
über der Ukraine unterlaufen wurde
von Sondergesandten des Präsidenten
mit verdächtigen Motiven. Ihre Sorge
war, dass der nationalen Sicherheit so-


wie dem Ansehen der USAgeschadet
würde, wenn die offizielleAussenpolitik,
zumal gegenüber einemVerbündeten im
faktischen Kriegszustand, persönlichen,
parteipolitisch begründeten Absichten
des Präsidenten untergeordnet würde.

Neutralität wirdverteufelt


Würde eine solche Situation als anony-
mes Experiment in einemLabor simu-
liert,wärederKonsens vermutlich breit:
Die beiden Staatsdiener handelten rich-
tig, als sie beschlossen, ihre Sorge dem
Kongress mitzuteilen, dem verfassungs-
mässigenAufsichtsorgan über die Ex-
ekutive.Aber bereits bei den Begrif-
fen, die ein solchesVerhalten beschrei-
ben, stutzt man unwillkürlich; sie klin-
gen heute entweder verstaubt oder hohl:
Pflichtbewusstsein,Vaterlandsliebe,viel-
leicht sogarPatriotismus.
Was bedeuten diese Begriffe in Zei-
ten einer stetig aufgepeitschtenPolari-
sierung? Kann es in einem Staat, in dem
ständig die Entscheidungsschlacht zwi-

schen «den Unsrigen» und «den ande-
ren» tobt, noch Beamte geben, die ihre
Arbeit pflichtbewusst verrichten? Die
Antwort lautet seit Mittwoch: Nein. Sie
müssen kuschen, wennderRuf «der Uns-
rigen» erschallt, sonst werden sie auto-
matisch zum Gegner. Neutralität?Das
ist eine aufgehübschte Legende aus einer
fernenVergangenheit, wieKönigArtus
und die Ritter derTafelrunde.
Wie verschieden dieWelten waren,
zeigten die Bilder der drei grossen Nach-
richtenkanäle zur abendlichen Haupt-
sendezeit besonders deutlich. Die einen
frohlockten, dassKent undTaylor aktiv
mithalfen, einem ungeliebtenPräsiden-
ten endlich den Prozesszu machen. Die
anderen machten die Diplomatenumge-
hendzu nutzlosen Kronzeugen des Geg-
ners oder zu Angehörigen des «deep
state»,jenes dunklen Machtapparats
nicht gewählter Beamter, die nur ihre
eigenenInteressen verfolgen oder,noch
besser, jene des politischen Gegners.
Wie dasWeb-Magazin «Axios» rich-
tig bemerkte, konnten alle aus den ihnen

passenden Andeutungen oderVorwür-
fen ein Garn spinnen, das ihre Überzeu-
gungen bekräftigte. Die Hearings wer-
den auch genau darauf angelegt.Wenn
auf eine theatralische Behauptung eine
nüchterne Berichtigung folgte, muss das
im medialen Zusammenschnitt nicht
mehr erkennbar sein.

Man halteden Ko pf unten


Dass sowohlTaylor als auchKent aus-
drücklich betonten,sie wollten in der
Frage des Impeachment nichtPartei
ergreifen, nützte ihnen nichts.Was von
ihnen verlangt wurde, hatteKent in der
Befragung ja gleich selber erklärt: Er
solle denKopf unten halten und nicht
weiterauffallen, sei ihm vonvorgesetz-
ter Stelle beschieden worden, als er sich
gegen die unfaire Behandlung der Bot-
schafterinYovanovitch durchTr ump
und dessen AnwaltRudy Giuliani ge-
wehrt habe. Es droht, dass auch pflicht-
bewusste Beamte bald nur noch an
Artus’ runderTafel sitzen.

William Taylor,der geschäftsführendeamerikanische Botschafter in Kiew,will nichtPartei ergreifen. ANDREW HARRER/BLOOMBERG

Tusk verabschiedet sich mit einem Rundumschlag


Der abtretende EU-Rats-Präsident geht mit Macrons Ideen für Europa wie auch mit den Brexiteers hart ins Gericht


ANDREAS ERNST


Schon im Amt nahm er selten ein Blatt
vor denMund.Jetzt hat DonaldTusk,
der scheidende Präsident des Europäi-
schenRats,von derRedefreiheit des
Fastpensionärs Gebrauch gemacht. In
einer Abschiedsvorlesung am Europa-
Kolleg in Brügge teilte er nachallen
Seiten aus: gegen Macrons «kreative
Ideen» für Europa, aber auch gegen
die Brexiteers und ihre Illusion einer
Wiedergeburt Grossbritanniens.
Das Leitmotiv derRede war – we-
nig originell – die Einheit Europas.Tusk
zeigte sich stolz, dass die EU zwei ge-
fährlichenVersuchungen widerstanden
habe. Die gemeinsame Sanktionsfront
gegen Russland halte entgegen aller
Widerstände, und die Union habe sich
durch den Brexit nicht auseinander divi-
dieren lassen, obwohl London versucht
habe, den Prozess zu «bilateralisieren».


Gegen«Freund Macron»


Dann nahm er Macron, seinen «lieben
Freund», insVisier. Er,Tusk, teile den
Tr aum desFranzosen von einem sou-
veränen Europa. AberRussland sei für


dieses Europa nicht ein strategischer
Partner, wie Macron glaube, sondern
ein strategisches Problem.Damit bezog
sichTusk auf ein Interview im «Econo-
mist», in dem der französische Präsident
für einenneuen «strategischen Dialog»
mitRussland plädiert hatte – mit dem
Ziel einer Annäherung.
Putin versuche, den Zusammenhalt
der Union zu schwächen,hieltTuskent-
gegen. Die klareAbwehrhaltung gegen
Russland sei nichts anderes als «der erste
Ausdruck unserer Souveränität». Im sel-
ben Interview hatte Macron gesagt, er
und der ungarische Ministerpräsident
Viktor Orban verstünden dieRuss-
land-Frage ähnlich.Vielleicht gelinge es
Orban, diePolen von ihrer Sichtweise
zu überzeugen. «Mich nicht, Emmanuel»
kommentierteTusk maliziös.
Dann schoss der scheidende EU-
Rats-Präsident den nächsten Pfeil ab. Er
habe in seiner Amtszeit immer wieder
sogenannte «kreative Ideen» für Europa
abblocken müssen: Zum Beispiel das
«Europa der verschiedenen Geschwin-
digkeiten» mit einem hochintegrierten
Kerneuropa im Zentrum und einer lo-
cker angegliedertenPeripherie.Paris
sei da immer besonders aktiv gewe-

sen, sagte DonaldTusk, vor allem seit
Emmanuel MacronsWahl.
Der französische Präsident glaubt in
derTat, dass Europa erst dann wirklich
souverän ist,wenn es strategisch han-
deln kann.Dazu fordert er eineVer-
schlankung der Entscheidungsfindung.
Er will Mehrheitsabstimmungen und
hat die Erweiterung auf demBalkan
gestoppt.

Lieberlangsam, abersicher


Tusk wehrte sich in derRede gegen sol-
che Projekte und begründete das auch
biografisch. Er habe sein halbes Leben
hinter dem eisernenVorhang verbracht
und wisse,wasein «Zwei-Geschwin-
digkeiten-Europa» bedeute. Sein Ein-
heitscredo untermauerte er mit einem
afrikanischen Sprichwort:«Wenn du
schnell vorankommen willst, geh allein.
Wenn du weitkommen willst, geh mit
den andern.»
Was Tusk von den Brexiteers und von
BorisJohnson hält, wusste man seit sei-
ner Bemerkung, es gebe «einen speziel-
len Ort in der Hölle» für diese Leute. In
seiner Abschiedsrede ging er weiter und
prognostizierte, Grossbritannien werde

ausserhalbder EU zu einer zweitklassi-
gen Macht absinken.
Er habevon britischen EU-Gegnern
immer wieder gehört, dass ein selbstän-
diges Grossbritannien wieder bedeuten-
der in derWelt werde. Darin,soTusk,
habe die Sehnsucht nach dem Empire
angeklungen.DasGegenteiltreffezu.
Nur imRahmen der EUkönne London
eine globaleRolle spielen.Das hätten
ihm Gesprächspartner in denLändern
des ehemaligen Imperiums, in Indien,
Kanada, Südafrika,auch bestätigt.
Grossbritannien sei auf demWeg, ein
Aussenseiter zu werden. Die internatio-
nale Bühne dominierten dannChina, die
USA und die EU. Der Brexit sei nichts
anderes als der letzteAkt beim Unter-
gang des Empires.Aber noch sei es nicht
zu spät.Tusk appellierte an die briti-
schen EU-Befürworter, dieWahlenvom


  1. Dezember als letzte Chance wahrzu-
    nehmen, das Steuer herumzureissen.
    Der Appell dürfte ihn vielen Brexit-
    Befürwortern erstrecht zur Hassfigur
    machen.Tuskgiltin ihremLager als einer
    jener Spitzenpolitiker, die an EU-Gip-
    feln jeweils die Solidarität mit dem EU-
    Mitglied Irland einforderten und eine
    harte innerirische Grenzeverhinderten.

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