Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 FEUILLETON 35


Schau doch, wie gut es mir geht!


Wer Trübsal bläst, ist selber schuld. Eva Illouz und Edgar Cabanas kritisieren das Geschäft mit dem Glück


THOMAS RIBI


Glücklichsein ist ganz leicht. Man muss
nur wissen,wie man’s macht.Aberkeine
Angst,das kann man lernen. Und viel-
leichtmuss man es nichteinmal lernen.
Wir allekönnen es. Eigentlich. Nur wol-
len muss man. Zugegeben, das klappt
nicht immer. Manchmal ist das Glück
da, und wir sind nicht bereit. Oder se-
hen nicht, dass es da wäre. Doch das
lässt sich beheben, denn so viel steht
fest: Glücklichsein istkeine Gnade, son-
dern ein Entschluss.
Und den fällen wir, niemand anders.
Sagen zumindest dieVertreter der so-
genanntenPositiven Psychologie, einer
Lehre, die Ende der neunzigerJahre in
den USA begründet wurde.Wobei: Be-
gründet ist nicht ganz richtig. Ihr Initiant
Martin Seligman hat seinen neuen An-
satz nicht entwickelt, wieWissenschaf-
ter eineTheorie bilden. DiePositive
Psychologie war einfach da, einesTages.
Seligman selber sagt, sie habe ihn geru-
fen. Und eine schöne Geschichte weiss
er dazu auch zu erzählen.
Er arbeitete mit seiner fünfjährigen
Tochter Nikki im Garten und schimpfte
mit ihr wegen einer Kleinigkeit. Sie
machte ihmdaraufhin ein Geständ-
nis.Als sie ganz klein gewesen sei, er-
zählte sie, habe sie jedenTag geweint.


An ihrem fünften Geburtstag aber habe
sie beschlossen,nie mehr zu weinen.Das
sei das Schwerste gewesen, was sie je
getan habe.Aber sie habe es geschafft.
Und wenn sie das geschafft habe, dann
werde er es doch wohl fertigbringen,
nicht mehr dauernd herumzumeckern.
Was war geschehen? Nun, eine leicht
verärgerteTochter hatte ihremVater
eine Standpauke gehalten. Das kommt
vor. Für Seligman aber war es eine «Er-
leuchtung». Sagt er.Auf einen Schlag sei
ihm klargeworden,dass sich die Psycho-
logie aufeinem Irrweg befinde.Weil sie
die ganzeAufmerksamkeit auf die nega-
tiven Seiten des Menschseins richte.Auf
Dep ressionen,Komplexe,Ängste, statt
sich auf diepositiven Regungen zukon-
zentrieren:Freude, Zuversicht, Selbst-
bewusstsein. Und eben, Glück.


Wie Menschen «aufblühen»


Von da an, sagt Seligman,habe er ge-
wusst: Die Psychologie muss zurWis-
senschaft vom Glück werden. Sie muss
erforschen, was Menschen dazu bringt,
«aufzublühen». Ein Jahr nach seinem
Erweckungserlebnis wurde Seligman
Präsident der American Psychological
Asso ciation.Das war1998. Er propa-
gierte seineTheorie mit dem Anspruch,
eine Epochenwende herbeizuführen.
Und mit der Überzeugung, eine Formel
gefunden zu haben, die den Menschen
Zufriedenheit und Lebenssinn gibt.
Die Fachkollegenreagierten zurück-
haltend. Dass glückliche Menschen
glücklicher sind als unglückliche, war
keine neue Erkenntnis. Doch Seligman
fand mehr und mehr Mitstreiter. Seine
Lehre wurde populär, vor allem in den
VereinigtenStaaten und in England.
Kein Wunder, sie hat zwei grosseVor-
teile: Sie ist einfach zu verstehen. Und
sie lässt sich lebenspraktisch ummünzen,
in Ratgeberformat unter die Leute brin-
gen – und zu Geld machen.
Nicht nur bei glücksuchenden Zeit-
genossen,Coachs und Populärphilo-
sophenstiessdie Positiv ePsychologie


auf Interesse, sondern auch beiFirmen,
Unternehmensberatern und bei der
US-Army.Denn wenn Seligmanrecht
hat, liegt der Schlüssel zumWohlbefin-
den beim einzelnen Menschen. Und das
hat unabsehbareKonsequenzen.Wenn
Mitarbeiter unglücklich sind,müssen sie
sich eben ändern.Das Unternehmen,
Vorgesetzte, Kolleginnen undKollegen
sind derVerantwortung enthoben.
Das ist die Geschichte, die Eva
Illouz und Edgar Cabanas in ihrem
neuen Buch «Das Glücksdiktat – und
wie es unser Leben beherrscht» erzäh-
len. Die Starsoziologin und der spani-
sche Psychologe kritisieren den zumin-
dest in den USAfast unglaublichen Sie-
geszug einer Psychologie, die den Men-
schen zum Alleinverantwortlichen für
seine emotionale Gesundheit macht.
Und sierechnen ab mit einem Milliar-
dengeschäft, das Glück zu einem belie-
big reproduzierbaren Gut gemacht hat,
wie Designmöbel oderWellnessferien.
Zu Recht natürlich. Aber leider tun
sie es fast so simpel, wie dieTheorie ge-
strickt ist, gegen die sie insFeld ziehen.
In erster Linie muss ein «Schuldiger»
her, und den finden Illouz und Cabanas
rasch: Es ist der böse Neoliberalismus,
der die Menschen im Zeichen grenzen-
loser Profitmaximierung auf Effizienz,

Flexibilität undWettbewerb trimmt und
sie zuRädchen im Getriebe einerKom-
merzialisierung macht, die längst alle
Lebensbereiche durchdrungen hat,auch
Identitäten,Emotionen und Lebensstile.
Wer bereit ist, sich selber vorzu-
machen,der Schlüssel zum Glück liege
nur bei ihm,so Illouz und Cabanas, wird
nie auf den Gedankenkommen, an den
Verhältnissen in seinem Betrieb, an der
Politik oder amWirtschaftssystem etwas
ändern zu wollen. Und wird sich, von
den Funktionären einer systemkompa-
tiblen Psychologie dazu angeleitet, erst
noch einreden, er sei glücklich dabei.

Ich bin der Chef


Da wird, mitVerlaub, das Pferd am
Schwanz aufgezäumt. Um einer linken
Pflichtübung willen, die nicht das Phä-
nomen analysiert,sondern wohlfeile und
unreflektierte Kapitalismuskritik liefert.
Illouz’ und Cabanas’Tiraden gegen eine
dümmliche Glücksindustrie wird nie-
mand widersprechen. Nur tragen sie we-
nig zumVerständnis eines Phänomens
bei, dem man si ch kaum entziehen kann,
ob man will oder nicht.
Auch wer sein Seelenheil nicht in
Ratgebern wie «Fühle dein Glück» oder
«Freude auf Abruf» sucht undkeine

Seminare bucht, um zu lernen, wie er-
füllend es sein kann, eine Kartoffel zu
schä len, entkommt dem kategorischen
Imperativ der westlichen Überfluss-
gesellschaft nicht:Sei glücklich! Oder tu
wenigstens so, als ob du es wärst. Man
muss sich nur durchFacebook oder
Instagram scrollen: Lauter Posts und Bil-
der, die nur eine Botschaft vermitteln:
«Schau doch,wie gut es mir geht! Ich bin
in meinem Leben der Chef.»
Das sind Beschwörungsformeln,
klar. Notsignale einer Gesellschaft, die
Glücklichsein zur Pflicht erklärt und
gern bereit ist, Unglück als persönliches
Versagen zu verstehen, um sich die Illu-
sion zu bewahren, das «gute Leben» sei
jederzeit verfügbar. Das ist natürlich
Unsinn.«Die Absicht,dass der Mensch
glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung
nicht enthalten», dekretierte Sigmund
Freud. Dasklingt, als ob Gottihm Ein-
blick in seine Dispositionen gewährt
hätte. Ganz falsch ist es trotzdem nicht.
Vielleicht ist Glück nicht das höchste
Lebensziel. Aber dasses soetwas wie
Glück gibt, ist unbestritten. Es liegt nicht
immer da, wo wir es suchen. Und viel-
leicht finde ich es tatsächlich nirgends,
wenn ich nicht dazu bereit bin.Darüber
hätte man von Eva Illouz und Edgar
Cabanas gern etwas gehört.

Welches Kind träumt nicht davon, eine schwimmende


Schule zu besuchen? In Bangladeshist das möglichSEITE 36


Am Wochenende findet das Luzerner Piano-Festival


letztmals statt – Rudolf Buchbinder eröffnet es SEITE 39


Glaub einfachans Glück, und schon bist du glücklich, rufen dieVertreter derPositiven Psychologie. POPPERFOTO / GETTY

Schluss jetzt mit


dem Geschwätz


2019 müssen wir leid er
ohne Jugendwort des Jahres leben

CLAUDIA MÄDER

Was für 1Dummfall!Ja, was für ein
dummer Unfall – wie gerne hätten wir
Ihnen hier das neueJugendwort desJah-
res präsentiert.Wäre alles gelaufen wie
immer, dann wäre dasWort in diesenTa-
gen gekürt worden, und mitten im dunk-
len Novemberhätte sich so ein Licht-
blick gezeigt: DieJugend spricht! Nein,
diese tinderjährigen Lebewesen sind
nicht nur am Napflixen und Dönern,sie
kommunizieren nicht bloss mit Hash-
texts und Insta-Pics, sie sindkeine bil-
dungsresistenten Brotgehirne, sondern
richtig fitte Sprachbenutzer.
Das waren erfreuliche Einsichten,
doch jetzt müssen wir diese Meldung
verdauen: 2019 wird eskein Jugendwort
geben. DieWahl fällt aus. Klar, mag
man sich nun denken,die Jugend hat es
in letzter Zeit ja deutlich gesagt: Sie hat
die Schnauze voll vomReden. Viel zu
lange wurde bloss geschwatzt und nichts
gemacht, und angesichts des baldigen
Untergangs der Zivilisation gibt es viel-
leicht auch gar nichts mehr zu sagen.No
future, no Jugendwort. Doch die Sache
ist viel banaler – oderkomplexer, denn
an der diesjährigen Stille ist ausnahms-
weise die Marktwirtschaft schuld.
Seit 2008 hat derLangenscheidt-Ver-
lag denJugendwortwettbewerb ausge-
lobt.Jedermannkonnte seineLieblin gs-
ausdrücke vorschlagen, und aus den
zehn meistgelikten wählte eineJury das
Gewinnerwort. Langenscheidt seiner-
seits benutzte den Anlass, um sein haus-
eigenesJugendsprachlexikonzubewer-
ben, doch am Ende half der ganzeAuf-
wand nichts: ImFebruar wurde der kri-
selndeVerlag von der Klett-Gruppe
aufgekauft. Der NameLangenscheidt
wird von den neuen Besitzern zwar wei-
tergeführt–nicht aber derJugendwort-
wettbewerb, zumindest vorderhand.
Als derAusfall bekanntwurde, wollte
laut Medienberichten ein neuer, nicht
namentlich genannter Anbieter in die
Bresche springen. Allein,das Vorhaben
scheiterte, und zwar an technischen Pro-
blemen – offenbar ist dieWort-Voting-
Seite gehackt worden.Dass dieRus-
sen hinter der Cyberattacke stecken,
konnte nicht bestätigt werden, man
muss es aber doch vermuten:Da der
amerikanische Präsident mit «trumpe-
ten» (grosseVersprechen machen) und
die deutsche Kanzlerin mit «merkeln»
(nic hts tun) bereits über lexikonzerti-
fizierteJugendwörter verfügen, dürfte
der Kreml im Interesse des globalen
Mächtegleichgewichts einen eigenen
Ausdruck kreiert und über Bots ge-
pusht haben, vermutlich «putinieren»
(auf Bärenjagd gehen).
Aber wie dem auch sei,Tatsache
bleibt:Wir haben heuerkein offizielles
Jugendwort.Das ist auchaus linguisti-
scherPerspektive zu bedauern.Lange
haben Experten denWettbewerb als
Ma rketing-Gag abgetan, doch just zu
Beginn diesesJahres hat eine sprach-
wissenschaftliche Studie dieVerbrei-
tung der gekürtenWörter erhoben und
Erhe llendes bewiesen: Abgesehen von
der Gammelfleischparty sind die meis-
ten der bisherigen Siegerausdrücke bei
den 12- bis 26-Jährigen durchaus in Ge-
brauch. Und dass dieses Alterssegment
mit Ü-30-Feiern nichts anzufangen
weiss, ist nun wirklich verständlich!
Dafür wissensich diese Jungensonst
ganz gut zu helfen:Ein ehemaligesJury-
Mitglied hat kurzerhand entschieden,
ein «alternatives»Jugendwort zu küren,
gewonnen hat hier «Ja, moin!», ein Aus-
druck des Erstaunens. Und überhaupt
ist vielleicht noch nicht ganz alles ver-
loren, haben wir doch beim Nobelpreis
gesehen,dass auf Nullrunden auch neue
Anfänge folgenkönnen.Wer weiss, viel-
leicht wird also 2020 der «Handkekuss»
gewinnen (alte Geste, die heute weitum
verstört).

LESEZEICHEN


Edgar Cabanas, Eva Illouz:
Das Glücksdiktat – und wie es unser
Leben beherrscht.Suhrkamp-Verlag,
Berlin 2019. 243S. Fr. 21.90.
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