Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

36 FEUILLETON Freitag, 15. November 2019


Eine schwimmende Schule

Acht trockene Monate und Überschwemmungen während der Monsunzeit liefern die Idee für ein klimasensitives Bauprojekt in Bangladesh


NIKLAUS GRABER


Die Sonne brennt schon vormittags er-
barmungslos, und selbst der nahe ge-
legene Fluss verspricht kaum Abküh-
lung.Wenige Fahrstunden von der
bengalischen 18-Millionen-Metropole
Dhaka entfernt steht die Grundschule
Arcadia Education. Neben dem Kamin
der benachbartenZiegelfabrik wirkt die
kleine Schulanlage unscheinbar, ihre am
Flussufer gereihten Schulpavillons ver-
schmelzen beinahe mit derLandschaft.
Die Brücke über den Dhaleshwari
River ist einerder wenigen leicht erhöh-
ten Orte der Gegend, die es erlauben,
den Blick über denVerästelungen der
Flussgiganten Ganges, Brahmaputra und
Meghna in dieWeiten des Deltagebiets
schweifen zu lassen.Von hier aus zieht
die feineBambusstruktur der Grund-
schule kaumAufmerksamkeit auf sich.
Und doch wurde ihr davon in den letzten
Jahrenreichlich zuteil, erstin Ausstel-
lungen inBasel, Bordeaux undFrank-
furt, dann erhielt der Schulbau sogar den
renommierten Aga KhanAward.
Wie bedeutsam ein auf den ers-
ten Blicknoch so bescheidener bau-
licher Akt sein kann, offenbart sich
schon beimBetreten desGebäudes.
DieVeranda spendet den Ankommen-
den den langersehnten Schatten. Dieser
und auch andereRäume zeigen, dass
dasBauwerk unmittelbar aus der ge-
nauen Beobachtung des lokalen, tro-
pischenKontextserdacht wurde, wo
Schatten bisweilen wichtiger ist als
Licht.Auch die porösen, in Bambus-
geflechten gefertigten Wandschirme
undFaltläden, die die Klassenzimmer
mit der Leichtigkeit eines behutsamge-
sp anntenTextils umspielen, machen die
Gebäudehülle zur atmenden Membran
und lassen die willkommen kühlende
Brise passieren.
Architekt Saif Ul Haque hat das Ge-
bäude zusammen mit seinerPartnerin
SalmaParvin Khan in einem langen Pro-
zess desForschens und Experimentie-
rens zwischen 2012 und 2015 entworfen
und umgesetzt. Im gedämpftenTages-
lichteinfall unter dem flachgewölb-
ten Tonnendach eines Klassenzimmers
meint er: «Als wir das erste Mal zu die-
se m Bauplatz kamen,sahenwir nichts
alsWasser.» In der gegenwärtigen stau-
bigen Hitze ist das kaum vorstellbar.
Der träge Fluss schwillt während der
sommerlichen Monsunzeit zu einem veri-
tablen Ozean an, wie wir anlässlich eines
weiteren Besuchs erfahren. Die nun ge-
flutete Ziegelfabrik hat den Betrieb ein-
gestellt, das Schulgebäude aber steht ge-
lassen und selbstverständlich imFeucht-
gebiet.Weil es vollständig vonWasser um-


geben ist, sind wir in einer kleinenBarke
angekommen. Unter dem lebhaften
Trippeln der Schulkinder, die sich in der
Veranda und auf einem offenenPausen-
deck zwischen eingetopften Setzlingen
tummeln, gerät das Gebäude in sanftes
Wiegen.Das Fundament des Schulgebäu-
des sind nämlichrezyklierte Ölfässer, die
während der Monsunzeit als Schwimmer
die Leichtgewichtsarchitektur mit dem
Wasserstand nivellieren.Das scheinbare
Manko eines Ortes wird zur eigentlichen
Qualität: Stattauf dem flachen, sandigen
Terrain derTrockenzeit liegt das Gebäude
in derRegenzeit imWasser.

Pragmatisch poetisch


Dass dieProjektinitiatorin und mittler-
weile pensionierte LehrerinRazia Alam
und ihr Architektenteam mit einem
Minimum an Mitteln undRessourcen
ans Werk gingen und gleichwohl – oder
gerade deshalb – einen hohen architek-
tonischen Anspruch einlösen, beein-
druckte auch dieJury desAga Khan
Awards for Architecture. Diese hat dem
unscheinbaren Arcadia Education Pro-
ject eine der sechs 2019 vergebenen,
prestigeträchtigenAuszeichnungen zu-
ge sprochen.Damit erklärt sie die eben-

falls imWettbewerb mitlaufenden Star-
architekturen in gewisserWeise zum
Auslaufmodell und spricht sich für eine
lokaleVerankerung der Architektur aus.
Pragmatik undPoesiereichen sich
die Hand und potenzieren sich auf
unterschiedlichsten Ebenen. Beein-
druckt war die diesjährige Aga-Khan-
Jury, der unter anderem der Brite Sir
David Chipperfield angehörte, insbe-
sondere deswegen vom Arcadia-Projekt,
weil es durch eine präzise Planung und
in Zusammenarbeit mit lokalen Hand-
werkern eine höchst sorgfältige, ein-
fache Detaillierung aufweist, ohne diese
zumFetisch zu stilisieren.
Beim Arcadia Education Project
haben der tropisch erprobtePavillon-
typ wie auch der BootsbauPate gestan-
den, und die Dichotomie zwischenLand
undWasser wurde aufgehoben. Ohne
Störungdes sensiblen fluvialen Gleich-
gewichtskonnte ein bisher als nicht be-
baubar angesehenes Grundstück ganz-
jährig für eine Bildungsstätte erschlossen
werden. Mit einfachen, wohlüberlegten
Mitteln wirkt dieses Zero-Carbon-Foot-
print-Projektkomplexen Sachverhalten
wie etwa dem Bildungsmangel in ruralen
Gebieten und der damit einhergehenden
Landflucht entgegen.

Saif Ul Haque und seine Mitstreiter
aus der ArchitekturszeneBangladeshs
machen sich trotz zunehmenderAuf-
merksamkeit nicht viel aus der Heroisie-
rung medienwirksamerTrends. Als Ha-
que unlängst auf einer Architekturveran-
staltung in Deutschland verriet, dass sein
Schulprojekt nichts mit dem derzeit so an-
gesagtenThema des Klimawandels zu tun
habe,klang das zunächst mehr als ironisch.
Doch Haque meint dies ernst:Räumliche
Innovationund architektonischer Erfin-
dergeist sind in seiner von vielen klima-
tischen und sozialen Herausforderungen
geprägten Heimat nicht erst seit jüngerer
Zeit:«Viele Jahrzehnte wurde Bengalen
als eineRegion derDesasterund der Hilf-
losigkeit wahrgenommen, heute sind wir
eineRegion voller Lösungen.»

Tiefgreifender Denkanstoss


Das so selbstverständlich aus den loka-
len Problemstellungen gefolgerte Pro-
jekt wird aus etwas Distanz betrach-
tet zum tiefgreifenden Denkanstoss für
die Entwicklung einer klimasensitiven
Architektur, die das Credo einer schuh-
schachtelartigenKompaktheit in einer
technik- und normenunterfütterten
Nachhaltigkeitsdebatte kritisch durch-

leuchtet. Amphibische Gebilde, wie
sie derzeit von westlichen Architektur-
Hipstern medienwirksam proklamiert
werden, müssen wir hoffentlich in unse-
rer Hemisphäre nicht bauen.
Vielmehr sind Ansätze gefragt, die
nicht in eindimensionalenKomfortstan-
dards watteverpackterKuben verharren,
sondern mit einerräumlichenVielfalt
den Benutzer einladen, Gebäude dem
Jahreszeitenverlauf entsprechend zu
vereinnahmen und zu erleben.Veranda-,
Lauben- oder Hoftypologien etwa mit
porösen unddurchlässigen, klimaregu-
lierenden Übergangsräumen sind dann
nicht mehr nur investitionsfeindliche
Platzverschwender.Vielmehr werden sie
zu Grundbausteinen zukunftsgerichte-
ter Gebäude, die ohne aufwendigeTech-
nik in Erstellung und Betrieb ökologisch
und ökonomisch sinnfällig sind.
Bei allemRealismus, der dem Ge-
bäudekonzept des Arcadia Education
Project zugrunde liegt, offenbaren seine
Entwerfer eine fast kindliche Neugierde,
vonder auch der indische Pritzkerpreis-
trägerBalkrishnaV. Doshi beseelt ist:
«Be curious, child-like. Break free. Ask a
lot of questions. Know thatreality is also
an illusion.»Welches Kind würde nicht
davon träumen, eine schwimmende
Schule besuchen zu dürfen, neben der
die eigens angelegten Blumengärten im
Wasser schaukeln? Und welcher Archi-
tekt möchte nicht Gebäude erdenken,
die ohne Energiezufuhr in warmen
Sommern ebenso wie in kaltenWintern
Behaglichkeitverströmen?

Ist die Landschaft überflutet, schwimmen dasPausendeck und dieBambuspavillons des ArcadiaEducation Project. SANDRO DICARLODARSA

Zwei Freunde bei ungezwungenem Gesang


Bob Dylanund Johnny Cash trafen sich 1969 zu einer Session. Nun erscheinen die Aufnahmen erst mals auf einem Album


MARTIN SCHÄFER


«Johnny Cash war und ist der Nordstern;
du konntest dein Schiff nachihm steu-
ern – der Grösste der Grossen damals
und heute», mit diesen Worten würdigte
Bob Dylan seinen langjährigenFreund
nach dessenTod 2003. Schon alsTeen-
ager hatte Bobby Zimmerman für den
späteren «Man in Black» geschwärmt.
Johnny Cash seinerseits liess sich in den
Sixties von Dylan-Songs wie «It Ain’t
Me Babe» und «Don’t Think Twice» in-
spirieren.Aus Letzterem machte er so-
gar ganz cool einen eigenen:«Under-
standYour Man».
Nach fünfzigJahren erscheinen im
Rahmen von Bob Dylans «Bootleg
Series» nun erstmals offiziell dieAuf-
nahmen einer Session, die Bob Dylan
undJohnny Cash1969 zusammen be-
stritten. Zu den kurioseren Momenten
dieses Summits gehört tatsächlich das,
wasmanheute ein spontanes «mash-up»
von «Don’tThinkTwice» und «Under-
standYour Man» nennen würde: Die
beiden singen, live im Studio mit Cashs


Begleitband, gleichzeitig neben- und
gegeneinander den Originaltext und die
abgewandelteVersion.

Wenig Überraschendes


Dabei handelt es sich hier allerdings
auch um eine der wenigenAufnahmen,
die nicht längstauf eigentlichen Boot-
legs zirkulierten. Der grosseRest dürfte
den meistenFans bekannt sein, mindes-
tens was die zweite CD von«The Boot-
leg SeriesVol. 15» betrifft.
«Travelin’ Thru Featuring Johnny
Cash» ist nicht ganz so opulent gera-
ten wie die letztenAusgaben dieser
nachgerade monumentalen Serie.Ab-
gesehen von der locker improvisierten
Session mit Cash haben sich die Pro-
duzenten auf eineAuswahl von «alter-
nate takes» beschränkt, die während der
Aufnahmen zu den Alben «JohnWesley
Harding» und «Nashville Skyline» ent-
standen sind.
Eine Überraschung stellt einzig
«WesternRoad» dar, allerdings ist das
ein unspektakulärer Routine-Blues.

Die übrigen Songs sind vertraut. Und
so spannend es fürFans sein mag, «All
AlongThe Watchtower» oder «As I
Went Out One Morning» mit leichtvari-
ierter Phrasierung oder Melodieführung
zu hören – weltbewegend ist das nicht.
Die beiden Originalplatten wirken bis
heute zuRecht wie in Steingemeisselt.
Sie haben Bestand «jenseits von sinn-
vollenKommentaren oder Analysen»,
wie Colin Escott in seinem exzellenten
Begleittext zu«Travelin’Thru Featuring
Johnny Cash» bemerkt.
Anders als bei früheren Editionen
in den «Bootleg Series» gibt es dies-
mal alsokeine versteckten, noch nie
gehörten Songperlen,kein Aha-Erleb-
nis, keine Erleuchtung. Es sei denn
Dylans erste, fast improvisierte Skizze
einerNummer, die erJohnny Cash
dann für dessen famoses Livealbum
aus San Quentin überlassen hat:«Wan-
ted Man». Im Übrigen hören wir die
beidenFreunde quasi in einem fami-
liären Setting, ohneLeistungsdruck,
«dopo lavoro»: Abwechslungsweise
und manchmal imDuett spielen sie sich

durch das Cash-Songbuch, mit ein paar
Ausflügenzu Folk- und Country-Klassi-
kern und der einen oder andern Dylan-
Komposition.
War ein gemeinsames Album wirk-
lich je geplant? Es ist zu bezweifeln.
Nur zwischendurchkommteine Intensi-
tät auf,die solches nahelegen würde.Wir
hören Dylan so verspielt, wie er sich das
in seiner Country-Phase leistenkonnte.
Und Cash musiziert danebensolid wie
gewohnt, aber auch er, ohne sich allzu
ernst zu nehmen.

Für wenist das?


Wer braucht das nun? Die ein-
gefleischten Dylan-Fans haben,wie
gesagt, das meiste wohl schon ge-
hört. Interessant könnte immerhin
dieReaktion der Americana-Jünger
werden, die nun sozusagen eine ver-
steckte frühe Sternstunde ihres Gen-
res entdeckenkönnen.Tatsächlich, die
Selbstverständlichkeit, mit der die bei-
den die verwandtschaftliche Nähe von
Country, Folk, Rock und Blues zele-

briert haben, ist wegweisend geworden
für ganze spätere Generationen.
Wer Cash zuerst alskonservativen
Flaggenschwinger missverstanden und
später als alternativen Säulenheiligen
umgedeutet hat, begegnet hier nochmals
dem wahrenJohnny,dem Sänger einer
grossenTradition, der sich im heiteren
Austausch mit einem Gleichgesinnten
offensichtlich wohl fühlt. «No Depres-
sion», die Online-Hauspostille der Ame-
ricana-Welt, zeigt sich denn auch begeis-
tert – das ist nachvollziehbar.
Aberletztlich wirken diese gemein-
samen Sessions doch nur wie ein nettes
Nebenprodukt einer damals für Dylan
wie Cash höchstbedeutsamen strategi-
schen Allianz:Johnny Cash, der einstige
Rockabilly-Rebell, wollte beim Hippie-
Publikum ankommen. Und Bob Dylan,
der widerwillige Prophet der Gegen-
kultur, fand so nahtlos zurück in die
Country-Folk-Überlieferung.

BobDylanFeaturingJohnnyCash: Tr avelin’
Thru– The Bootleg SeriesVol. 15 196 7– 1969
(Sony /ColumbiaLegacy).

Klimaangepasste


Architektur


svf.·Niklaus Graber, Architekt und
Gründungspartner von Graber & Stei-
ger Architekten in Luzern, bereiste
Bangladesh mehrfach. Er kuratierte
hauptverantwortlich die sehenswerte
Ausstellung «Bengal Stream», die unter
anderem im Schweizerischen Archi-
tekturmuseum (SAM)in Basel gezeigt
wurde. 2019 warer, wieder mitSAM-
Direktor Andreas Ruby, Co-Kurator
der Schau «FarawaySo Close», die auf
den bengalischen Architekten Kashef
Chowdhury fokussiert: EPFLLausanne,
Archizoom, bis7. Dezember.
Wie Schweizer Architekten von
Klimastrategien fernerWeltregionen ler-
nenkönnen, ist auchThema von Niklaus
GrabersReferat amAnlass «Klimaange-
passte Gestaltung» desForum Energie
Zürich:Weinbergstrasse 36, Zürich, am
19.November,17. 15–19Uhr.
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