Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 FEUILLETON 37


Alle wollen


in den Kanon


Auch jüngere Autoren schreiben
nich t nur für den schnellen Erfolg

KAI BREMER

Gegenwartsliteratur sei fast durchweg
«Verbrauchsliteratur» –Felix Philipp
IngoldsVorwurf (NZZ 31. 10. 19) wiegt
schwer, zumal in Zeiten,in denen Nach-
haltigkeit als Gebot der Stunde von
allenDächern getwittert wird. Ingolds
Kritik wird auch nicht gerettet, indem
die zeitdiagnostische Bedeutung aktu-
ellerRomane und Gedichte beschwo-
ren wird,wie es Ulrich Blumenbach ver-
sucht hat (NZZ6. 11.19). Verbraucht
ist verbraucht. DieReste können viel-
leicht wiederverwendet oder aufberei-
tet werden. Aber mehr als eine Gewis-
sensberuhigung bietet akkurate Müll-
trennung meist nicht.
Freilich stellt sich die Frage, ob
Ingolds Vorwurf tatsächlich berech-
tigt ist oder ob hier nicht vielmehr ein
bedeutender Schriftsteller und Essay-
ist auf die Gegenwart blickt und da-
bei die Mühen der Ebene ausblendet,
während er selber sich im tagtäglichen
Gespräch mit den zweifellos Grossen
der Literatur befindet. Sind die, die
er zu«Verbrauchsliteraten» abstem-
pelt, tatsächlich welche? Interessiert
sich die Gegenwartsliteratur wirklich
nicht für die «Ewigkeit»,wie Ingold
behauptet?Aktuelle philologischeFor-
schungenkommen zu deutlich anderen
Ergebnissen.

Kracht inMarbach


In den letzten gut zehnJahren hat die
Literaturwissenschaft,initiiert durch die
Studie«Werkpolitik» des Berliner Ger-
man isten Steffen Martus, facettenreich
dargelegt, wie sehr sich durch dasAuf-
kommen germanistischer Seminare in
den Universitäten des19.Jahrhunderts
das literarische Schreiben verändert
hat. Durch die in der gleichen Zeit ent-
standene Literaturgeschichtsschreibung
konkretisierte und erweiterte sich der
Kanon bis in die je eigene Gegenwart.
Die Perspektive «Ewigkeit» gewann
in dieser Zeit einekonkrete institutio-
nelle Dimension.Autorinnen und zumal
Autoren bildeten ein «Nachlassbewusst-
sein» aus, das gegenwärtig nicht zurück-
geht, sondern in voller Blüte steht.
Jüngst hat sich beispielsweise das
Deutsche Literaturarchiv in Marbach
den Vorlass des Schweizer Autors
Christian Kracht gesichert, der erst An-
fang 50 ist. Begeistert deuten Schrift-
stellerinnen und Schriftsteller inPoe-
tikvorlesungen zahlreicher germanisti-
scher Seminare ihr eigenesWerk aus,
um ihrenWeg in den Kanon zu ebnen.
Nicht nur Krachts Einigung mit Mar-
bach, auch andere Details sprechen
dafür, dass insbesondere Schriftsteller,
denen seit den späten1990er Jahren das
Label «Pop-Literat» umgehängt wird,
ausgesprochen bewusst über die «Ewig-
keit» nachdenken.

Das Verlangen nachRuhm


So erklärt Benjamin von Stuckrad-
Barre in seinem jüngsten Buch: «Natür-
lich empfindet jederAutor speziell sich
und seinWerk als tragende Säule des
Verlagsprogramms und jedes seiner Ge-
sp räche mit demVerleger als ein Ereig-
nis, dessen Protokoll Marbach nicht vor-
enthalten werden dürfe, logisch.» Stuck-
rad-Barres selbstironisches Bekenntnis
führt zusammen mit KrachtsVorlass-
bewusstsein entschieden vor, dass das
Ewigkeitsbewusstsein der Gegenwarts-
literatur deutlich besser entwickelt ist,
als es Ingoldannimmt.
Ob derArchivbestand in der Zukunft
dann zum Nachleben der Schriftsteller
beiträgt oder nicht, steht freilich auf
einem anderen Blatt.Vor IngoldsAuge
legt sich gewissrasch der Staub desVer-
gessens über manch ein Manuskript,das
den Weg ins Archivgefunden hat. Aber
das Verlangen nach langfristigerAner-
kennung, nachRuhm undAufnahme in
den Kanon kann den meistenAutorin-
nen undAutoren auch in der Gegenwart
zweifellos attestiert werden.

Kai Bremerist Professor am I nstitut für Ger-
manistik der Universität Osnabrück.

Ein später Star

Maren Kroymann hat die feministische Satire im deutschen Fernsehen erfunden – eine Begegnung


DANIELE MUSCIONICO


Sie beherrscht die natürliche Assimi-
lation.Die Talentprobe führt Maren
Kroymann in einem Hotel in Berlin-
Charlottenburg vor:Während der unge-
zwungenenUnterhaltungnipptsiekaum
an ihrem heissen Kakao. Sie hört lieber
zu oder formuliert zerbrechlich schöne
Sätze wie edle Stücke aus derkönig-
lichenPorzellanmanufaktur Berlin. Ihre
Manieren sind die einer Hofdame von
FriedrichdemGrossen.Manmöchtelaut
klatschen, so perfekt parodiert Maren
Kroymann die feine Piefke-Dame.
Stellt sich dannein Bewunderer pie-
tätlos dazu:«Ihr Gesichtkenn ich doch!»,
antwortet sie artig:«Ich heisse Kroy-
mann.»Hat der Störenfriednoch nicht
genug,hilftsiehöflichweiter:«Naja,viel-
leichtkennen Sie mich aus demFernse-
hen.» Understatement steht ihr wie ihre
riesigelilaHandtasche,undpassenddazu
ist der Satz, der später in der Unterhal-
tung fallen wird: «Das Unterschätztwer-
den finde ich ganz gut.» Sie muss nicht
darüberreden, dass sie ein Star ist. Be-
gabung gehört ingutenFamilien dazu.


Ein Kind der Adenauerzeit


Maren Kroymann ist ein Star. Ihr Ge-
sicht ist in Berlin so bekannt wie an-
dere hauptstädtische Attraktionen.
Und wenn sie mit derJo-Roloff-Band
im ausverkauftenTipi beim Kanzleramt
ihr selbstironisches Musikprogramm «In
My Sixties» vorstellt, unterhält sie sich
nach demAuftritt mit ihrenFans in einer
Vertrautheit von lebenslangenFreun-
dinnen undFreunden. Man ist sich ei-
nig: Die Maren ist eine von uns!
Doch auch das folgt wohl demKon-
zept, das jemand verinnerlicht hat, der
weiss, was die Gesellschaft von einem er-
wartet. Maren Kroymann hat man das
als Kind liebevoll,aber bestimmt einge-
bleut. Sie stammt aus einer altehrwürdi-
gen Professorenfamilie, wuchs drei Häu-
servonderTübingerStiftskirchewegauf,
sie war das einzige Mädchen unter vier
erheblich älteren Brüdern:«Ich habe in
den fünfzigerJahren deutlich gespürt:
Jungs sind tollerals Mädchen.» Zum
Nachtisch versorgte sie ihre Mutter, die
1937 noch promoviert hatte, gerne mit
einerPortion ÜbersetzungLatein.
Klein Maren sang im Kirchenchor,
sie trainierteBallett in der Stuttgar-
ter Schule vonJohn Cranko, sie spielte


Klavier. Dabei hörte ab und zu auch der
Freund ihresVaters, Rhetorikprofessor
Walter Jens, zu. Sie war wie alle Mäd-
chen jener Zeit und phantasierte sich
als dieFrau aus dem Neckermann-Kata-
log, die auf ihren Prinzen wartet, der ihr
viele Kinder schenken wird.
DreissigJahre und ein Staatsexamen
über den französischen Linksintellek-
tuellen Louis Aragon später, zurück in
Tübingen, sassWalter Jens wieder im
Saal. Doch Klein Maren war nun gross
geworden und hatte das eigene Denken
entdeckt:Jetzt verband sie deutsche
Schlager zu einem ironischen soziologi-
schenGesellschaftskommentarundübte
öffentlichWiderstand gegen dasrestau-
rative Frauenbild derAdenauerzeit.
Denn Singen stand nicht unter
Emanzenverdacht; die sprachliche Ana-
lysevorPublikumabersehrwohl,Reden
war männlichesTerritorium.Das zeigte
sich1983selbstanderFrankfurterBuch-
messe. Maren Kroymann trat mit ihrer
Band vor betrunkenenAutoren auf, die
während eines Sketches pöbelten:«Halt
die Klappe, Mädel.Sing lieber!» Ähnli-
ches musste sich 2004Anke Engelke an-
hören, als sie denLate-Night-Platz von
Harald Schmidt aufSat 1 übernahm
und scheiterte, weil sie ein bestehendes
Format ausfüllen sollte. Eine deutsche
Tageszeitung ätzte damals:«Wollen wir
uns wirklich nach23Uhr von einerFrau
die Welt erklären lassen?»
Es sind Sätze wie diese, die Kroy-
mann beschäftigen und ihre Karriere
beeinflussten. Ihre Unsicherheit bezüg-
lich ihres Berufs und ihresTalents dau-
erte ein halbes Leben lang. «Wie kann
man etwas werden wollen,das es noch
gar nicht gibt?» Kabarettist war bis in
die neunzigerJahre eineAuszeichnung,
die für Ikonen wie Dieter Hildebrandt
reserviert schien. Über die Erfahrung,
ein Fremdkörper zu sein, hat sie nach
einer eigenenAusdrucksform gesucht.
Doch seit diesem Herbst ist es offiziell.
Die Kroymann hat aus ihremTalent für
die Parodie und aus ihrem feministi-
schen Bewusstsein nicht nur einen Be-
ruf gemacht, sie hat ein Genre begrün-
det: die feministische Satire.
Mit ihrer ersten Sendung «Nacht-
schwester Kroymann» war sie die erste
Frau, die in den frühen neunzigerJah-
ren eine eigene Satire-Show hatte. Sie
sprach nicht nur ihreTexte, sie hatte sie
auch selber geschrieben. Seitdem zählt
Kroymann zu den elegantesten und

sprachbewusstestenKünstlerinnen der
gesprochenen deutschen Sprache.
Für diese Leistung hat die Schau-
spielerin undBandleaderin in den letz-
ten Wochen die wichtigsten Preise ihres
Faches erhalten; den zweiten Grimme-
Preis für ihre Satiresendung «Kroy-
mann», den Carl-Zuckmayer-Preis für
ihren Umgang mit Sprache – «ich habe
ja noch garkein Buch geschrieben», war
ihre ersteReaktion darauf – und dazu
für ihr Lebenswerk die GoldeneRose.
Sie ist siebzigJahrealt und darf sich be-
stätigen lassen: Sie hat das feministische
Fernsehen erfunden.

«Sie sindAfD-positiv»


Heute arbeitet sie mit der Produktions-
firma, bei der auch CharlotteRoche
oderJan Böhmermann sind. DieFern-
sehnation jubelt, wenn sie, Kroymann,
in ihrer gleichnamigen Sendung verun-
sicherten männlichenFührungskräften
hilft,ihren «natürlichenChauvinismus»
in der Grauzone desRechts auszuleben.
Oder wenn sie als Ärztin einem männ-
lichenPatienten die Diagnose stellt:«Sie
sind AfD-positiv.» Im Blut des guten
Mannes habe sie eine erhöhte Zahl
«Antivolkskörper» festgestellt.
Aber wieso liess die Anerkennung
so lange auf sich warten, rund vierzig
Jahre? Die Antwort ist simpel: Maren
Kroymann war in vielem ihrer Zeit vor-
aus. Natürlich fiel ihrTalent früh auch
Hildebrandt oder Alfred Biolek auf,sie
luden sie in ihre Sendungen ein, Hilde-
brandt bot ihr sogar eine feste Mit-
wirkung in seiner satirischen Boygroup
«Scheibenwischer» an.Aber Kroymann
wusste, dass es darum ging, ihre eigene
Sprache undForm zu finden.
Doch ihre eigeneForm, ihre erste
eigene Sendung, «Nachtschwester Kroy-
mann», war in den neunzigerJahren ein
Affront. AlsFrau undFeministin stand
sie alleine vor dem Mikrofon,zeigte ihre
ewig langen Beine und weigerte sich
dennoch, männlicheThemen zu bedie-
nen. «Ich sprach nicht überFranz Josef
Strauss, sondern überDamenbinden.»
Sie redete überihre Lebenswirklich-
keit, und diesexuelle Belästigung the-
matisierte sie in derARD wohlals Erste.
Ihr Sketch dazu ist inzwischen ein
Klassiker derFernsehgeschichte: Mit
hochgeschlossener Bluse sitzt Kroy-
mann am Schreibtisch in einer Behörde,
und ihr Bürokollege stellt ihr die gei-

ferndeFrage: «Wann ist es Ihnen denn
das letzte Mal gekommen?» Sie aber
legt ruhig denStift zur Seite und fragt
charmant zurück:«Meinen Sie jetzt anal,
vaginal oder oral?»

Der televisionäreTodesstoss


Ihr Durchbruch verhinderte auch ein
sehr privater und doch politischer Um-
stand: Kroymann hatte im Magazin
«Stern»1993 ihr Lesbischsein geoutet.
Daraufhin erginges ih r nicht besser als
der amerikanischen Nationalkomikerin
aus der ABC-Sitcom «Ellen», Ellen De-
Generes, die sich vierJahre später bei
Opr ah Winfrey outete: Es war damals
noch ein televisionäresTodesurteil.
«Die Leute sagen ja nicht, dass sie
einen nicht mögen,weil du lesbisch
bist. Man lädt einen einfach nicht mehr
ein.» Nach fünfJahren und einerDurch-
schnittsquote von 1,5 Millionen Zu-
schauern, dem Doppelten von Harald
Schmidt, wurde «Nachtschwester Kroy-
mann»1997 abgesetzt.Zwei Jahrelang
versuchte sie vergeblich eineFolge-
sendung unterzubringen.
Doch die Zeiten haben sich geändert:
Sender haben nun offiziell denAuftrag,
«divers» zu sein, und das garantiert sie
in Person. Es passt in die Zeit, dass sie
offen lesbisch lebt. Natürlich ist auch
die #MeToo-Debatte in ihrem Sinn: «Ja
Leute, ihr sollt nur mal ein bisschen ver-
unsichert sein. OhneVerunsicherung
findet eineVerhaltensänderung nicht
statt.» Und selbstverständlich ist sie
auch für dieFrauenquote:«Wenn man
die Leute einfach machen lässt,schieben
sie sich weiterhin diePositionen zu.»
Ihr jedenfalls hätte es sehr gehol-
fen, meint sie, wenn es in ihrer Karriere
Frauen gegeben hätte, die ihre eigenen
Texte geschrieben hätten und damit auf
die Bühne gegangen wären.Das ist be-
stimmt so. Doch ob das Ergebnis besser
geworden wäre? Sie lacht auf dieFrage
am Ende des Gesprächs wie ein junges
Mädchen. Maren Kroymann ist zu klug,
um nicht zu wissen: IhrWitz ist auch
deshalb so scharf, weil sie alsFrau ihrer
Generation in einer Männerdomäne
den typisch weiblichenWeg ging. Unten
durch und dann um viele Ecken.

Maren Kroymann talkt mit Hazel Brugger im
Casinotheater Winterthur,am17. November
um 17 Uhr. Ende Februar 2020trit t sie in der
Schweiz mit ihrer Band auf.

Sie muss nicht darüberreden ,dasssie ein Star ist: Maren Kroymann. STEFANFALKE / LAIF

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