Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 FEUILLETON 39


Der letzte Walzer ist noch nicht gespie lt

Rudolf Buchbinder eröffnet das letzte Lucerne Festival amPiano –und bedauert das geplante Ende der Klavierreihe


GABRIELE SPILLER


Er strebe an, am Ende seines Lebens den
Höhepunkt seiner pianistischenLauf-
bahn zu erleben, schreibtRudolf Buch-
binder selbstbewusst auf seinerWebsite.
«Ich habe noch sehr viele Pläne, Gott sei
Dank, ich fühle michwohl,unddas Alter
spieltkeine grosseRolle», ergänzt der
bald 73Jahre alteKünstler im persön-
lichen Gespräch.Wie zum Beweis wird
er beim LucerneFestival am Piano alle
fünf Beethoven-Klavierkonzerte an nur
zwei Abenden spielen. Und damit nicht
genug:Auch imWiener Musikverein
bringter siegerade mit fünf verschie-
denen Orchestern und seinen erklärten
«Lieblingsdirigenten» zurAufführung:
Andris Nelsons, MarissJansons,Valery
Gergiev, Riccardo Muti und Christian
Thielemann. Zubin Mehta sei leider
nicht verfügbar gewesen.
Freilich übernimmt Buchbinder, wie
jetzt bei denAuftritten im KKL mit den
Festival Strings Lucerne, auchgern ein-
mal selbst die musikalische Leitung. Die
Festival Strings müssten sich auf sein
Rubato einstellen, das mit denJahren
immer freier geworden sei, prophezeit
er.Aber:«Die grossen Meister haben
selbsthäufig dasTempo gewechselt, das
wollen wir heute gar nicht glauben», er-
klärt er. «Über Beethovens Opus 90,
die e-Moll-Sonate, schrieb Czerny, dass
Beethoven sieben bis achtMal das
Tempo innerhalb eines Satzes gewech-
selt habe. Beethoven ist derroman-
tischsteKünstler überhaupt.»


Sechzig Jahre aufder Bühne


Es ist Sonntagmorgen, und derWahl-
wiener trinktkeinen Kaffee. «Früher
habe ich viel Kaffee getrunken», sagt
Buchbinder, «aber jetzt liebereinen
heissenTee.Ich war ja auchKetten-
raucher,mit dreiPaketen proTag,aber
ich habe aufgehört.»Mit seiner eigenen
Diät, bei der er dasFrühstück auslässt,
hat er ineinemJahr 13Kilogramm abge-
nommen. Seine «Piano-Fitness» führt er
dagegen auf sein lebenslanges ökonomi-
sches Üben zurück: «Unsere Hände sind
Hochleistungssportler, und ein Hoch-
leistungssportler, der muss mit dreissig
aufhören. Ich übe nur, wenn ich weiss,
dass ich jetzt davon profitiere. Sonst lese
ich lieber ein Buch.» Dieanspruchs-
vollen Brahms-Konzerte würden ihm
unterdessen sogar leichter fallen als vor
zwanzigJahren.
VergangenesJahr hat Buchbinder
sein 60-Jahr-Bühnenjubiläumgefeiert,
und wer sich mit den Stationen seiner


langen Karriere beschäftigt, kommt an
der Schlüsselfigur Beethoven nicht vor-
bei. Natürlich ist ihm der Meister bereits
bei seinen Anfängen als damals jüngs-
ter Student derWiener Musikakademie
begegnet. «Mit fünf habe ich dieAuf-
nahmeprüfung gemacht;Fritz Kreisler
war der Zweitjüngste, er war einJahr
älter.» BeimVorspiel brachte er «Ich
möchtedeinHerzklopfenhören»,einen
Schlager, den er aus demRadio kannte,
zu Gehör. «Sicherlich in C-Dur», sagt er

heute lachend. Schreibenkonnte er da-
mals noch nicht.
Sechs Jahrelang besuchte er die
Klasse von MarianneLauda, die auf
jungeTalente spezialisiert war, dann
wechselte er in die Meisterklasse von
BrunoSeidlhofer.«Ich bin als Nach-
kriegskind in einer kleinen, armseligen
Wohnung aufgewachsen»,sagt Buch-
binder, der1946 im nordböhmischen
Leitmeritz (Litoměřice) geboren wurde.
«MeinVater war nochvor meiner Ge-

burttödlichverunglückt.»Die Musik,
die der Mann seiner Schwester in die
Familie brachte, prägte auch den jungen
Rudi: «Dastandein gemietetes Pianino
meines Onkels, darauf einRadio – und
die Büste von Beethoven.»
Beethoven habe ihn indes nicht
nur alsKomponist, sondern auch als
Mensch fasziniert.Vielleicht eröffnet er
auch deshalb das letzte Luzerner Pia-
no-Festival am16. und17.November
mit einem wahren Beethoven-Mara-
thon: Er beginnt mit dem 2. Klavierkon-
zert (das eigentlich das erste war) und
fügt das vierte und dritte an. «Das erste
ist eigentlich ein Klarinettenkonzert, ein
Dialog mit dem Klavier», meint Buch-
binder. Der zweiteAbend gehört dann
den längerenKonzerten Nr.1und 5.

Gedenkenan A bbado


Das Fünfte spielte er auch 20 14 mit Zubin
Mehta in Berlin, es wurde ein Gedenk-
konzert für Claudio Abbado, der wenige
Tage zuvor verstorben war. Der Pianist
hatte sein Debüt mit denWiener Philhar-
monikern1972 unterAbbado gegeben.
Nun wurde es ein Gedenkkonzert, Mehta
dirigierte nach einer Schweigeminute.
Kann manmithilfe derMusik denTo d
hinter sich lassen?«Bevor man auf die
Bühne geht, hat man so viele Gedan-
kenimKünstlerzimmer»,sagt Buchbin-
der.«DieFingersind warm, dannkom-
men die paar Schritte zur Bühne,und
die Hände sind plötzlich kalt, man ist in
einemTr ancezustand.»Vielleicht seien
im langsamen Satz noch einmal Erinne-
rungen eingeflossen.
Dass die1998 eingeführte Klavier-
reihe am LucerneFestival bald Ge-
schichte sein wird, findet er sehr schade,
das werde eine Lücke hinterlassen. Die
Menschen hätten es frequentiert und ge-
nossen;essei ja nicht nur Klassik, son-
dern auchJazz gewesen. Und an einem
instrumentenspezifischenFestival wür-
den nicht zuletztdie Künstler einmal un-
mittelbar mit ihrer Konkurrenzkonfron-
tiert. Bei diesem letztenDurchgang in
Luzern werden sich auch Evgeny Kissin,
Igor Levit undVíkingur Ólafsson Beet-
hoven widmen. Letztgenannter stellt
nach seinen gefeiertenBach-Interpre-
tationen im zweitenKonzertteil Beet-
hovens erste Klaviersonate seiner letz-
ten, dem Opus 111, gegenüber.
Buchbinder bleibt gelassen:«Der
Kuchen ist gross genug für uns alle»,
meint er.Niemand wisse schliesslich
definitiv, was bei der Interpretation rich-
tig oder falsch sei.Gerade das seiendie
Dinge, die Musik unsterblich machten.

Den heutigen Musikbetrieb betrachtet
ertrotzdem mit ein wenig Sorge: «Ich
finde, es gibt viel zu wenig neue Leute,
auch bei den Orchestern, die gerade
Dirigenten suchen, wie zum Beispiel das
Concertgebouw.»

Neue Diabelli-Variationen


Während andere sich noch auf die welt-
weitenFeiern zu Beethovens 250. Ge-
burtstag imkommendenJahr vorberei-
ten, ist Buchbinder schon einen Schritt
weiter.Erhat denWalzer,der den Dia-
belli-Variationen zugrunde liegt,anzwölf
zeitgenössischeKomponisten verschickt
und um derenVersionen gebeten. So ent-
steht derzeit ein Zyklus mit zwölf neuen
Variationen, unter anderem von Lera
Auerbach,TanDun,Toshio Hosokawa,
Philippe Manoury, KrzysztofPenderecki,
Max Richter, Johannes Maria Staud, Jörg
Widmann – derAuftraggeber legt da-

bei übrigensWert auf die alphabetische
Nennung. Diese neuen Stückekombi-
niert er mit acht historischenVariatio-
nenaus Diabellis Unternehmung sowie
mit Beethovens berühmten «33Verän-
derungen» – ein Programm, das mittler-
weile schon in zwanzig Städten weltweit
gebucht wurde. Die Schweizer Erstauf-
führung in ZürichsTonhalle Maag soll
am 20. November 2020 stattfinden.
Nebenbei arbeitet der Pianist an sei-
nem dritten Buch; nach seinen Memoi-
ren und «Mein Beethoven» erscheint
«Der letzteWalzer», eben über die Dia-
belli-Variationen. «Ich gehe meinen
eigenenWeg», sagt Buchbinder, der sich
seineAufnahmen später nicht mehr an-
hört und die Diabelli-Variationen mit
dem neuen Projekt zum nun schon drit-
ten Mal einspielen wird. «Ich bin ein
Vollstrecker der vorgegebenen Berge
der grossen Meister, deshalb spiele ich
auch jedes Mal anders.»

Im Zeichen vonBeethoven: Rudolf Buchbinder. MARCO BORGGREVE

Jede Kirche erzählt ein Stück Geschichte


In den Altstadtkirchen spiegelt sich Zürichs Weg vonder freien Reichsstadt bis zur Metropole im jungen Bundesstaat


THOMAS RIBI


Am 30. Mai1807 feierte eine kleine Ge-
meinde im Chor desFraumünsters in
Zürich die heilige Messe. Zum ersten
Malseit fast dreihundertJahren. 1525
hatte der Stadtrat im Zuge derRefor-
mation die Messe abgeschafft. Mehr
als das, er hatte sie, mit zürcherischer
Gründlichkeit, gleich ganzverboten.
Die Katholiken, die in Zürich lebten,
erhieltenAnfang des17.Jahrhunderts
die Erlaubnis,ins KlosterFahr zum
Gottesdienst zu gehen –einFussweg
von gut zwei Stunden.Für die katho-
lische Seelsorge in der Stadt waren die
Benediktiner aus dem Kloster Einsie-
deln zuständig.
Die Einheitsverfassung der Hel-
vetik schrieb1798 diekonfessionelle
Liberalisierung fest. Doch die Zürcher
Regierung liess sich davon nicht aus
derRuhe bringen. Erst mit derTagsat-
zung1807 wurde der katholische Got-
tesdienst wieder zugelassen. Und dies
mehr gezwungen als aus freien Stücken.
Zwar hatten sich imLauf der Zeit mehr
und mehr Katholiken im Kanton nie-
dergelassen, aber wer die Messe feiern


wollte, musste dies nach wie vor inFahr
oder einer der katholischen Gemein-
den tun, in Dietikon oder Rheinau zum
Beispiel.Auch einbürgern lassenkonn-
ten sich Katholikennur dort.

Nicht stören, bitte!


An derTagsatzung allerdings galt es,
freundeidgenössische Gastfreundschaft
zu zeigen. Und dazu gehörte es, dass
dieVertreteraus katholischen Kanto-
nen einen Gottesdienst besuchenkonn-
ten. Also bequemte man sich zu einer
Ausnahme:Für dieDauer derTagsat-
zung durften imFraumünsterchor Mes-
sen gefeiert werden – selbstverständlich
unter der Bedingung, dass derrefor-
mierte Gottesdienst nicht gestört wird.
Kaum hatte dieTagsatzung begon-
nen, zeigte sich, dass der Ansturm auf
di e Messfeiern riesig war. Sie wurden
nicht nur von den Gesandten besucht,
sondern auch von katholischenZürche-
rinnen und Zürchern. Und die beschlos-
sen, die Gunst der Stunde zu nutzen:
Mit einerPetition verlangten sie beim
KleinenRat eine permanente Bewilli-
gung für Gottesdienste.

Dann ging esrasch: Im September
wurde derVorstoss behandelt–und gut-
geheissen.Fortankonnte in Zürich wie-
derregelmässig die Messe gefeiert wer-
den, und zwar in der St.-Anna-Kapelle
bei der heutigen St.-Anna-Gasse.Erhal-
ten ist von ihr nichts mehr.1912 wurde
sie abgetragen. Doch die Kapellereichte
nicht, es brauchte bald schon eine weitere
Kirche. 1844 wurde dieAugustinerkirche,
die seit derReformation als Münzprä-
gestätte gedient hatte, wieder zur Kirche
umgebaut, und 1874 bekamen die Katho-
liken mit St.Peter undPaul inAussersihl
die erste neue Kirche in der Stadt.
Jede Kirche erzählt ein Stück Ge-
schichte. Die Geschichte einer Minder-
heit, die für ihreRechtekämpfen musste.
Die Geschichte der Mehrheit, die wenig
geneigt war, sich mit den Anliegen von
Gläubigen zu befassen, zu denen sie sich
noch immer in Opposition sah. Die Ge-
schichte einerkonfessionellenRevolu-
tion, die für ein neuesVerständnis von
Glaube und Kirche kämpfte. Oder die
Geschichte eines Ordens, der für die
kulturelle Entwicklung der Stadt von
Bedeutung war, auch wenn sich heute
kaum noch jemand daran erinnert.

Man kann die Geschichte einer Stadt
anhand ihrer Kirchenbauten erzählen.
Auch und vielleicht sogar besonders
gut die Geschichte Zürichs,das stärker
als andere Städte vonreligiösen Um-
wälzungen geprägt ist.Yves undFran-
çoisBaer tun genau das in ihrem neuen
Buch «Die Zürcher Altstadtkirchen».
Es bietet weit mehr als eine Geschichte
der sieben markanten Kirchenbauten
der Innenstadt vonWasserkirche, Frau-
münster, Grossmünster, St.Peter und
Predigerkirche bis zuAugustiner- und
Liebfrauenkirche.

Die ältesteKirche Zürichs


In knappenTextenund mitreichem
Bildmaterial zeichnen sie die Entwick-
lung Zürichs vomkeltischen Oppidum
und derrömischen Zollstation über die
Kaiserpfalz und die freieReichsstadt
bis zum Stadtstaat und zurWirtschafts-
metropole des jungen Bundesstaats
nach. DerBand liefert eine kurzgefasste
Geschichte der Stadt, und auch wer mit
ihr mehr oder minder vertraut ist, wird
Entdeckungen machen. Die älteste Kir-
che Zürichs zum Beispiel – ist das die

Wasserkirche, dasFraumünster oder das
Grossmünster?Weder noch: die Kapelle
St .Stephan,die beim heutigenPelikan-
platz stand. Sie dürfte entstanden sein,
als sich die ersten Christen in der Stadt
niederliessen, wahrscheinlich noch in
der Spätantike. Und zwar an bedeutsa-
mer Stelle: dort, wo die späteren Stadt-
heiligenFelix,Regula und Exuperantius
gefoltert worden waren.
Vielleicht war es der enge Zusam-
menhangmit den Heiligen, der das
Schicksal der St.-Stephan-Kapelle be-
siegelte.1530 beschloss derRat, den
Turm abzureissen. Eine neue Zeit war
angebrochen. Mit der Heiligenver-
ehrung wollte man nichts mehr zu tun
haben. Und man wollte neueBauten.
Das Schiffder Kirche wurde zunächst
als Scheune, später alsWohnhausge-
nutzt und1909 abgebrochen.Dass die
Geschichte der Zürcher Christen dort
begonnen hatte, war wohl niemandem
mehr bewusst.

Yves Baer, François G. Baer: Die Zürcher Alt-
stadtkir chen. Eine S tadtge schichte entla ng der
Sakralbauten. Verla g NZZ Libro, Basel 2019.
256S., Fr. 34.–.

«Beethoven habe sieben
bis acht Mal dasTempo
innerhalb eines Satzes
gewechselt, schrieb
Carl Czerny. Beethoven
ist der romantischste
Künstler überhaupt.»

Rudolf Buchbinder
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