Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

44 SPORT Freitag, 15. November 2019


Zlatan Ibrahimovic verlässt Los Angeles –


kehrt er zur kriselnden AC Milan zurück? SEITE 42


Roger Federer nach Gala gegen Angstgegner


Novak Djokovic im Halbfinal der ATP-Finals SEITE 43


Neues Personal, gleiche Prinzipien


«Unsere Ambitionen sind grenzenlos»: Der Schweizer Coach Vladimir Petkovic will gege n Georgien den Sieg


Dem SchweizerFussball-


Nationalteam fehlt die Hälfte


des Stammpersonals. Petkovic


verspricht eine weitere Episode


im Umbau der Mannschaft – mit


Blick auf das Kader für die EM.


STEPHAN RAMMING,ST. GALLEN


Stephan Lichtsteiner wollte gar nichts
wissen von der Euro im nächstenJahr.
«Wenn es am Montag so weit seinsollte,
können wir gerne darüber diskutieren»,
sagte der Captain auf dieFrage, wie
er die vierte Endrunden-Teilnahme in
Folge der Schweizer einordnen würde.
Für Lichtsteiner, der 107 Mal für die
Schweiz spielte und an fünf Endrunden
teilgenommen hat, ist die sechsteTur-
nierteilnahme eines seiner nächsten
Ziele.Aber Lichtsteiner ist auch des-
halb so weit gekommen, weil er weiss,
wie er kurz vor dem Erreichen des Ziels
zu denken und zureden hat:nurvom
nächstenSpiel. «Auf demPapier sieht
esleicht aus, auf dem Platz ist es schwie-
rig», sagte er.
Ein bisschen Endrunden-Gefühl
wird der 35-Jährige amFreitag ver-
spüren – zumindest auf der Haut. Er
und seine Teamkollegen werden in
den neuenAuswärtstrikots denRasen
im mit gut 16000 Zuschauern bereits
seit längerem ausverkauften Stadion
in St. Gallen bespielen. In jenenTr i-
kots mit den vier Bergzacken also, die
vierfarbig die verschiedenenKulturen
und Sprachen der Schweiz symbolisie-
rensollen – auch im nächstenJuni, an
der EM-Endrunde. «Unsere Ambitio-
nen sind grenzenlos», sagte derTr ainer
VladimirPetkovic,der neben Lichtstei-
ner sass, an der Medienkonferenz vor
dem zweitletzten Spiel.


Früchteder Nations League


Auf demPapier, von dem Lichtsteiner
sprach, sieht dieAufgabe für die Schwei-
zer tatsächlich leicht aus:Vier Punkte
genügen zur Qualifikation aus eigener
Kraft. Georgien heisst die erste Hürde,
Gibraltar die zweite,wobei Gibraltar
keine Hürde sein darf. «Wir wollen jedes
Spiel gewinnen»,sagtePetkovic, «mit
drei Punkten gegen Georgien haben
wir in Gibraltar die Möglichkeit, Grup-
penerster zu werden. Diese Möglichkeit
wollen wir uns erarbeiten.»
Mit welchem Personal Petkovic
gegen Georgien spielen wird, liess er
offen. «Die Spielprinzipien bleiben die
gleichen», sagte er und wies darauf hin,
dass seine Mannschaft «auch inBall-
besitz präventiv verteidigen» müsse.
Das heisst übersetzt:keineKonter zu-
lassen, den freienRaum imRücken im
Auge behalten.In Bezug aufPersona-
li en hielt sichPetkovic wie immer be-
deckt.Dabei war es schon lange nicht
mehr so, dass sich die Mannschaft prak-
tisch von alleine aufstellt.
Mit Xherdan Shaqiri, Breel Embolo,
Fabian Schär, RemoFreuler undAdmir
Mehmedi fehlt die halbe Startforma-
tion.VorYann Sommer werden Manuel
Akanji, Nico Elvedi, RicardoRodriguez
und Stephan Lichtsteiner verteidigen.
SolltePetkovic mit einer Dreierabwehr
spielen lassen, dürften neben Lichtstei-
ner Granit Xhaka, Denis Zakaria, Loris
Benito und Djibril Sow einFünfer-Mit-
telfeld bilden, im Sturmkönnte Haris
Seferovic von Albian Ajeti unterstützt
werden. Aber das ist Spekulation.Auch
ChristianFassnacht,Renato Steffen und
allenfallsKevin Mbabu dürften in den
Überlegungen desTr ainers eineRolle
spielen.
Die Equipe wird also wenig mit der
Mannschaft zu tun haben, die an der EM
spielen wird. Aber die Situation lässt es


zu, dassPetkovic sagen kann:«Wir wol-
len Neues ausprobieren, die Spielerkön-
nen sich präsentieren.» In St. Gallen
wird sich also besichtigen lassen, wie das
EM-Kader aussehenkönnte.Zuerwar-
ten ist deshalb eine weitere Episode im
Umbau und in derWeiterentwicklung
desTeams.
Petkovic hatte diesen Umbau nach
der WM in Russland vor vierzehn
Monaten eingeleitet. Zieht man eine
nüchterne Bilanz, fällt sie positiv aus:
Die Mannschaft qualifizierte sich für
dasFinalturnier derNations League,
und in der EM-Qualifikation steht sie
nun vor derTeilnahme an der Endrunde
im nächstenJuni.
Petkovic sagte damals, er wolle die
Nations League dazu nutzen, Neues
auszuprobieren, die Mannschaft sanft
umzubauen und jüngeren Spielern eine
Chance zu geben.Das bedeutete freilich,
dass sich ältere Spieler hintenanstellen
mussten. Betroffen davon warenJohan
Djourou, Blerim Dzemaili, GelsonFer-
nandes, Stephan Lichtsteiner undValon
Behrami.
Die Umsetzung des Plans begann mit
beträchtlichen Nebengeräuschen. Beh-
rami beklagte sich lautstark und gab den
Rücktritt.Fernandes trat ebenfalls zu-
rück, Dzemaili äusserte sich nie, Djou-
rou nahmPetkovics Entscheid wortlos
zurKenntnis, verletzte sich und ist ohne
Verein. Nur Captain Lichtsteiner liess

keinen Zweifel daran, dass er auch als
Back-up bei Arsenal weiterhin Natio-
nalspieler bleiben wolle. Er ist der Ein-
zige aus dem Quintett, der noch immer
dabei ist,seither hatte er vier Einsätze.

Zakaria, Elvedi, Freuler


Fürdie vier anderen Spieler haben sich
imLaufe der Nach-WM-Periode neue
Spieler inPosition gebracht. Zur Erin-
nerung: Dzemaili, Behrami, Djourou –
sie alle standen in der Startformation
im WM-Achtelfinal gegen Schweden.
Dass niemand dieAusgemusterten ver-
misst, spricht für die Arbeit vonPetkovic
auf dem Platz. Denn die neuen Kräfte
haben zwar noch nicht Stabilität und Er-
fahrung, aberPotenzial.
Anerster Stelle stehtwohl Denis
Zakaria. Er hatdiePosition vonBeh-
rami übernommen, interpretiert sie aber
vielvariabler als seinVorgänger. Zaka-
ria istkein «Krieger», der vonWille und
Mentalität lebt, er ist vielmehr in allen
Belangen hochbegabt. In derBallerobe-
rung ist der erst 22-Jährige so gut wie
Behrami. Aber Zakaria ist auch schnell,
ein Box-to-Box- Spieler, der überall zwi-
schen den StrafräumenAkzente setzen
und auchToreschiessen kann. Im Natio-
nalteam fehlt ihm noch jene Dominanz,
die ihn spätestens in diesem Herbst in
seinem Klub Borussia Mönchenglad-
bach zum Schlüsselspieler macht.«Wir

müssen möglichst früh ein erstesTor er-
zielen», sagte er am Donnerstag. Ge-
rade Zakaria hat gegen Georgien die
Gelegenheit, sich selberin diePflicht zu
nehmen.
DiePosition von Blerim Dzemaili
hatRemoFreuler übernommen.War
Dzemaili im Zentrum hinter den Spit-
zen am wohlsten, istFreuler flexibler.
Der 27-Jährige ist weniger gefährlich im
Strafraum, doch der Spieler von Ata-
lanta Bergamo hat ein gutes Gespür,
dieRäume zu öffnen fürVorstösse der
Stürmer ins Zentrum.Für Johan Djou-
rou,der nur wegen der Sperre von
Fabian Schär an der WM im National-
team zum Einsatz kam, hat sich Nico
Elvedi neben Schär und Manuel Akanji
als dritter Innenverteidiger empfohlen.
Elvedi spielt bei Borussia Mönchen-
gladbach meist in einer Dreierabwehr
und damit imSystem, das auchPetko-
vic gerne benutzt.
Vor einemJahr schien es, dass auch
diePosition von Stephan Lichtsteiner
von einem Neuen besetzt wird.Kevin
Mbabu hatte im letzten Herbst mit den
Young Boys brilliert und seine Leis-
tung in der Meisterschaft und in der
Champions League auch im National-
team bestätigt. Nach seinerVorstellung
beim 5:2 gegen Belgien schienen alle
Zweifel ausgeräumt, dass sich Mbabu
diePosition desrechtenAussenvertei-
digers wieder nehmen lässt. Doch es
kam anders. KleinereVerletzungen,
Startschwierigkeiten beim neuenVer-
einWolfsburg – und schon ist er wie-
der da, der ewige, unglaubliche Stephan
Lichtsteiner.
GelsonFernandes wirdvor dem Spiel
offiziell als Nationalspieler verabschie-
det,Valon Behrami ist aus terminlichen
Gründen unpässlich.Fernandes, der
2010 an der WM in Südafrika den Sieg-
treffer gegen Spanien erzielte, wird se-
hen, dass es auch ohne ihn weitergeht.

Stephan Lichtsteinerhat dem Umbau des Nationalteams erfolgreichgetrotzt. GIAN EHRENZELLER / KEYSTONE

Hannu Tihinen:


«Wir warten


seit 112 Jahren»


Finnland vor erster Qualifikation
für eine Fussball-Endrunde

FLURIN CLALÜNA

Der lange finnischeWinterkommt, und
HannuTihinen, 43-jährig,nimmt sich
erst einmal Zeit für denWetterbericht
aus Helsinki: «Es ist sechs Grad und
dunkel. Aber morgen wird für uns die
Sonne scheinen. Daran glaube ich.»
AmFreitagkönnte sich die finnische
Fussballnationalmannschaft zum ers-
ten Mal überhaupt für eine Endrunde
qualifizieren. Gewinnt sie das Heim-
spiel gegen Liechtenstein, nimmt sie als
Gruppenzweiter hinter Italien im Som-
mer an der Euro 2020 teil.Tihinen sagt:
«Wir warten seit 112Jahren auf diesen
Moment.»Vor 112Jahren ist der finni-
scheFussballverbandgegründet wor-
den.Finnland mit seinen 5,5 Millionen
Einwohnern ist im Sport vieles, ein Eis-
hockeyland,einLand der Speerwerfer
und derRallyefahrer.AberkeineFuss-
ballnation.Tihinen sagt:«Wir wollen
vom Eishockey lernen und mit der EM-
Qualifikation dafür sorgen, dass der
Fussball in der Gesellschaft etwas be-
deutet.Das ist momentan nicht so.»
Zwar gibt es mit140 000Spielern dop-
pelt so vieleFussballer wie Eishockeya-
ner.Aber einFussballer in der höchsten
finnischen Liga verdiene 20 000 Euro
proJahr, erzählt er, «bei den Eishockey-
spielern sind es hingegen 70 000 Euro».
Tihinen spricht noch immer so gut
Deutsch, als wäre er erst gestern von
Zürich weggezogen.Von 2006 bis 2010
spielte er für den FCZ,keiner hat im
Stadtklub seither eine solche Bedeu-
tung erlangt wie er. Seit 20 14 arbeitet
Tihinen für den finnischenVerband, im
Sommer 20 18 ist er zum Sportdirektor
ernannt worden.Erkümmert sich um
alle finnischen Nationalmannschaften
und dieTr ainerausbildung. Die bevor-
stehende EM-Qualifikation ist also auch
seinVerdienst – und in gewisserWeise

ist es auch die späte Genugtuung für die
Enttäuschung einer Generation.
DerVerteidigerTihinen gehörte An-
fang desJahrtausends zusammen mit
Jari Litmanen und Sami Hyypiä (auch er
mit einerVergangenheit beim FCZ als
Tr ainer) zur talentiertestenFussballna-
tionalmannschaft, dieFinnland je hatte.
Tihinen sagt:«Wir waren die goldene
Generation des finnischen Fussballs.
Aber wir waren leider nicht gut genug.»
Inzwischen ist es zwar einfacher gewor-
den, sich für eine Endrunde zu qualifi-
zieren, aber dieFinnen haben einen be-
sonders beschwerlichenWeg hinter sich.
DerVerband ist nach langenJa hren
der Erfolglosigkeitkomplettrestruktu-
riert worden, undTihinen nahm daran
massgeblich Einfluss. Er sagt:«Wir wol-
len der effizientesteVerband Europas
sein.» Mit Markku Kanerva ist Ende
2016 ein früherer Primarlehrer zum
Nationaltrainer ernannt worden. Er
übernahm einTeam, das im ganzenJahr
2016 kein einziges Spiel gewonnen hatte.
DieFinnen haben heute zwarkeine
Weltstars mehr wie Litmanen oder Hyy-
piä, dafür aber eine hohe Arbeitsmoral,
wieTihinen sagt.Und mit dem Goalie von
Bayer Leverkusen, Lukas Hradecky, und
dem StürmerTeemu Pukki von Norwich
stehen zwei aussergewöhnlicheFussbal-
ler im Kader.«Das sind unsere zwei gros-
senSpieler»,sagtTihinen. Gegen Liech-
tenstein sollte das genügen.

«Wir wollen
der effizienteste
Verband Europas
sein.»

HannuTihinen
Ex-FCZ, nun Sport-
NZZ direktor Finnland

EM-Qualifikation, Gruppe D
Freitag, 15. November Montag, 18. November
Schweiz - Georgien20.45 Gibraltar - Schweiz 20.45


  1. Dänemark 6/12 4. Georgien 7/8

  2. Irland 7/12 5. Gibraltar 6/0

  3. Schweiz 6/11
    Die restlichen Spiele.15. November: Dänemark - Gibraltar. – 18. Novem-
    ber: Irland - Dänemark.


Zweitletzter Test für Georgien


(sda)·Georgiens slowakischer Natio-
naltrainer VladimirWeiss ist nicht zu be-
neiden.Wie der Schweizer Coach Vla-
dimirPetkovic muss aucherinSt. Gal-
len wegenVerletzungen auf eineReihe
von Spielern verzichten. Doch bei den
Georgiern ist die zweiteReihe bedeu-
tend weniger gut bestückt.«Wir haben
nicht hundert Spieler auf dem gleichen
Level», sagteWeiss. «Wir haben Spieler
im Kader vonMittelfeldklubs in Grie-
chenland oder aus Kasachstan.»
Vor allem in der Offensive haben sich
Lücken aufgetan.Das grosseTalent Gri-
gori Tschakwetadse von Gent ist seit
EndeJanuar am Knie verletzt undhat
in der EM-Qualifikationkeine Minute
gespielt. Und nun fällt auch nochJano

Ananidse von Spartak Moskau aus. «Wir
tun uns im Sturm schwer. Damüssen wir
über mehrDurchschlagskraft verfügen»,
soWeiss. Gegen die Amateure von
Gibraltarerzielte seinTeam zwar sechs
Tore(3:0, 3:2), doch in den fünfPartien
gegen die Schweiz,Irland undDäne-
mark waren die Georgier nur einmal er-
folgreich – beim 1:5 inKopenhagen.
Das Spiel gegen die Schweiz ist für
Georgien der zweitletzteTest, bevor
im März die zweivielleichtwichtigsten
Spiele derVerbandsgeschichte anste-
hen. Obwohl Georgien in der Gruppe D
längst abgehängt ist, hat es dank dem
Gruppensieg in der Nations League 20 18
die Chance, sich über die Play-offs erst-
mals für eine Endrunde zu qualifizieren.
Free download pdf