Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

46 WOCHENENDE Freitag, 15. November 2019


Zeit


zu weichen


Das Leben an der Küste ist bedroht –


an der Nordsee und an al len Meere n


der Welt. Lebensräume von Mensch und Tier


geraten aus den Fugen. In Europa


haben die Niederländer als Erste


die Dramatik der Lage erkannt. Statt sich


länger abzuschotten, geben sie der Natur


Raum. VON ANJA JA RDINE (TEXT)


UND KADIR VAN LOHUIZEN (BILDER)


Der Besucherdes Wattenmeerhauses in
Wilhelmshaven stutzt, wenn er plötzlich
vor diesen Briefzeilen steht, verfasst in
altmodischer Handschrift. Eben noch
vertieft in die Betrachtung des ausge-
stopften Knutts in derVitrine daneben,
eines Zugvogels, kaum grösser als eine
Amsel, der aussieht, wie er heisst: rund
und knuffig, und der – ein kleinesWun-
derwerk der Evolution – imstande ist,
seine Organe auf- und abzubauen, um
sein hochkomplexesPendlerleben ener-
gieeffizient zu gestalten. Oder des thea-
tralischen Säbelschnäblers mit seinen
langen blauen Beinen, der einen gebro-
chenenFlügelvortäuscht,umFeindeaus-
zutricksen.OderderKüstenseeschwalbe,
mit etwa 90000 Kilometern imJahr die
absoluteRekord halterin auf derLang-
strecke. In 30Jahren Lebenszeit fliegt sie
lässige 67-mal um die Erde. Und dann
plötzlich ein Schaukasten mit einem
NotizbuchunddarindieseZeilen:«Liebe
Mutter! Gott tröste Dich, denn Dein
Sohn ist nicht mehr. Ich stehe hier und
bitteGottumVergebungmeinerSünden.
Seidalle gegrüsst. Ich habe dasWasser
jetzt bis an die Knie, ich muss gleich er-
trinken, denn Hülfe ist nicht mehr da.
Gott sei mir Sünder gnädig. Es is t 9 Uhr,
Ihr geht gleich zur Kirche, bittet nur für
mich Armen, dass Gott mir gnädig sei.»
Am 3.Januar1867 war auf der ost-
friesischenInselWangeroogeeineZigar-
renkiste angetrieben worden,umschlun-
genmit einemverknotetenTaschentuch.
Darin ein Bleistift und ein Notizbuch.
«IchbinTjarkEversvonBaltrum»,stand
dort geschrieben, daneben die Bitte, das
Buch an die Eltern weiterzuleiten. Der
21-jähirge Seemann, der imWinter die
Navigationsschule auf demFestland be-
suchte, wollteWeihnachten zu Hause
verbringen; es sollte eine Überraschung
sein. Trotz Nebel liess er sich vomFest-
land zu der Insel rudern und am Strand
absetzen, wo er losmarschierte.Als er
plötzlich vor einem breiten Priel stand,
wurde ihm klar, dass er nicht aufBalt-
rum, sondern auf einer Sandbank gelan-
det war, die bei Flut versinken würde. Er
wusste, dass eskeine Rettung gab.
DasWatt ist ein Zwischenreich zwi-
schenLand und Meer, 500 Kilometer
lang und etwa 40 Kilometer breit er-
streckt es sich entlang der Nordsee-
küste vonDänemark bis zu den Nieder-
landen. Es ist das grössteWattenmeer
der Welt und neben den Hochalpen die
letzte weitgehend naturbelasseneLand-
schaft in Mitteleuropa. Die Gezeiten
gebieten über das Leben; imTakt von 6
Stunden und 12 Minuten wird dasLand

geflutet und fällt wieder trocken. Priele,
mäandrierende Wasserläufe,durch-
ziehen den geriffelten, bronzefarbenen
Grund, der gesprenkelt istmit spaghetti-
artigen Sandhäufchen derWattwürmer.
Zu hören ist ein geheimnisvolles Knis-
tern,dessen Ursprung man nicht se-
hen kann; es ist das tausendfacheReis-
sen des gespanntenWasserfilms zwi-
schen den Scheren der Schlickkrebse.
Wanderungen imWatt sind heute so ge-
fährlich wie zu Tjark Evers’ Zeiten, das
Wasser kommt immer schneller,als man
denkt, und der Mensch verliert schnell
die Orientierung in dem quecksilbrigen
Licht dieser endlosenWeite.
Was anmutet wie eine leergeräumte
Landschaft, strotzt nur so vor Le-
ben.Hochspezialisierte Arten besie-
deln in grosser Zahl den Grund.Jede
Flut bringtNährstoffe aus der Nord-
see, hinzukommt der permanente Zu-
strom von Süsswasser aus den grossen
FlüssenwieElbe,Weser,Ems,Rheinund
Schelde.KieselalgenschliessendieNähr-
stoffe auf , die den am Boden lebenden
Tieren als Nahrung dienen.Auf einem
QuadratmeterWattbodenkönnen bis zu
12 Kilogramm Miesmuscheln, 50Watt-
würmer und 100000Wattschnecken le-
ben. Ein üppiges Nahrungsangebot, das
10 bi s 12 Millionen Zugvögel zweimal
pro Jahr anlockt.Die meisten dieserVö-
gel brüten in der Arktis und überwin-
tern in Afrika, unterwegs machen sie
Rast imWatt und fressen sich dieFett-
reserven für die nächste Etappe an.An-
dere kommen, um in den angrenzenden
Dünen oder Salzwiesen zu brüten oder
zu überwintern.Das ganzeJahr über
herrscht einreges Kommen und Gehen.
DasWatt ist ein gigantisches Drehkreuz
des Nordatlantikzuges.
Wenn sich an einem der erstenFrost-
tage im Herbst die nordischen Gänse auf
denWegmachen,ziehteinKeilnachdem
anderen über den Himmel.Alpenstrand-
läufer erheben sich inWolken. Inrasen-
derGeschwindigkeitführenbiszu10 000
Vögel synchrone Flugmanöveraus, ohne
dass hinterher auch nur einer tot vom
Himmel fällt; sie stossen nicht zusam-
men. Ein changierender Superorganis-
mus, der das Abendlichtreflektiert. Bei
anderen lässt sich erahnen,welch Kraft-
akt dieReise in den Süden ist.Die Eider-
entezumBeispielistmitzweiKilogramm
relativ schwer, eine Matrone im Luxus-
federkleid. Um überhaupt abheben zu
können, muss sie Anlauf nehmen, und
nur permanenterFlügelschlaghält sie in
der Luft, dafür kann sie bis zu 60 Meter
tief tauchen. Sie tritt ihren Zug in Linie

an. 300 dic ke Enten fliegen, aufgereiht
wie an einerPerlenkette, auf und da-
von, und zwar so flach über denWel-
lenkämmen, dass ihre Flügelspitzen das
Wasser manchmal berühren.
DerSpaziergänger steht staunend
da und stellt sichwohlseit Menschen-
gedenken dieselben Fragen: Woher
weiss eine Ente, welches ihr Platz in der
Reihe ist?Woher weiss derKuckuck,
der allein zieht und seine Eltern nicht
einmalkennt, wohin er fliegen muss?
Mit der immer selbenWehmut schauen
wir ihnen nach, und es tröstet uns, dass
sie wiederkommen, wenn derWinter
vorbei ist.Für 34 Arten ist dasWatten-
meer alsDurchzugsgebiet lebensnot-
wendig.Wenn dasWatt ertrinkt, haben
sie keine Chance.
Noch ist das Wattenmeer intakt.
Dänemark, Deutschland und die Nie-
derlande haben ihre Gebiete imLaufe
der Jahrzehnte unter Naturschutz ge-
stellt, und 2009 ernannte es die Unesco
in seiner Gesamtheit zumWeltnatur-
erbe. «Doch trotz 30Jahren Schutz neh-
men nahezu alleArten ab», sagt Franz
Bairlein, Direktor des Instituts fürVo-
gelforschung inWilhelmshaven. «Bei
den Langstreckenziehernsehen wir die
stärkstenRückgänge.»Wenn Weissstör-
che imFrühjahr aus Afrika zurückkeh-
ren und plötzlich nur noch zwei statt vier
Eier legen,liege es nahe,sagt Bairlein,
dass in ihrem Überwinterungsgebiet die
Bedingungen nicht gut gewesen seien.
In Süd- undWestafrika werde dieLand-
wirtschaft massiv intensiviert, die Habi-
tate derVögel verschwinden. DieVögel
kehrten geschwächt zurück, ein «Carry-
over-Effekt». KeineArt veranschauliche
bes ser, dass Lebensräume global zusam-
menhingen, ihreKonnektivität. Doch in
den letztenJahren,so scheint es, greifen
die Rädchen dieses perfekt austarierten
Uhrwerks nicht mehr richtig ineinander.
«Wir stellen fest, dass dieVögel bis
zu dreiWochen früher aus ihrenWinter-
quartieren zurückkommen und früher
brüten», sagt Bairlein.Das wäre an sich
nicht schlimm,«doch inRelation zu den
Insektenkommen sie trotzdem zu spät».
Denn die schlüpften nun noch früher,
weil derFrühling früher beginne. «Mis-
match»nenne man diesesAuseinander-
driftenderVorgänge.Je stärkerderausge-
prägt sei, desto stärkergehe die Zahl der
Tiere zurück,wie eine Untersuchung von
über 100Vogelarten gezeigt habe. «Doch
die Evolution hört nicht auf», sagt Bair-
lein. «Wer vor 40Jahren zu früh zurück-
kam, weiler g enetisch falsch program-
miert war, hattekeine Chance, zu über-

Der«Afsluitdijk» dientals Küstenschutz in den Niederlanden.
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