Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 WOCHENENDE 47


leben.Heuteschon.»Undwennnichtnur
einerzufrühauftauche,könntendieTiere
sich verpaaren,ihren vermeintlichenDe-
fekt weitergeben, und das Muster ver-
schiebe sich.Anpassung durch Mutation.
«Voraussetzungistjedoch,dassüberhaupt
Lebensräume erhalten bleiben,damit die
Vögel auch nur eine Chance haben, sich
an Klimaerwärmung und Meeresspiegel-
anstieg anpassen zukönnen.»


Tote Erpel im Prachtkleid


«Als derWeissstorch oder der Seeadler
verschwanden,wusste man:Der Mensch
hat sie umgebracht. Stellt man das Um-
bringen ein, kann sich die Art erholen»,
sagt Bairlein.Als der Einsatz des Insek-
tizidsDDTverbotenwurde ,gingesallen
Greifvögelnschnellwiederbesser.Heute
stelle sich alles sehr vielkomplexer dar.
Die Eiderente zum Beispiel gebeRät-
sel auf. «Es geht mit ihr bergab und wir
wissennicht,warum»,sagtBairlein.«Seit
AnfangderneunzigerJahrenehmenihre
Beständekontinuierlich ab, obwohl sie
mehr zu fressen hat als früher.» Es sei
kein Massentod wie zuletzt 2016 auf der
Insel Amrum, als kurz vor der Brutzeit
plötzlich überall tote Erpel im Pracht-
kleid lagen. Biologen vermuteten da-
mals, dass die durchDarmparasiten ge-
schwächtenVögel sich bei derBalz der-
ar t verausgabt haben, dass sie an Ent-
kräftung starben. «Doch wir haben es
heute mit toten Eiderenten zu tun, die
keineVergiftungssymptome zeigen, son-
dern gesund waren, einen vollen Magen
hatten und trotzdem verhungerten.»
Stellt sich natürlich dieFrage, warum.
Eiderenten fressen Miesmuscheln,
und denen gehe es blendend. Als so-
genannterThermoorganismus, dessen
Stoffwechselrate direkt von der Um-
gebungstemperatur abhänge, habe die
Miesmuschel neuerdings im Winter
einen höheren Stoffwechsel, weil die
Nordsee etwa zwei bis drei Grad wär-
mer sei als früher.Während derFress-
ruhe imWinter beanspruche die Mies-
muschel deshalb mehr Energie für sich
selbst, entsprechendkleiner sei der ver-
dau liche Anteil für die Eiderente. Die
Eiderente, die die Muscheln mit Schale
schluckt und mit ihrem Muskelmagen
zerlegt, kannaber nicht mehr als 25
bis 30 schlucken, mehr passen nicht in
ihren Magen. Der Energiegehalt aber
sei geringer als früher. «Und so verhun-
gert die Eiderente mit vollem Magen»,
sagt Bairlein, das sei zumindest eine der
möglichen Ursachen für dasrätselhafte
Sterben der Eiderenten.


Das Nordseebüro des Alfred-Wege-
ner-Instituts liegt am nördlichsten Zipfel
der InselSylt und damit am nördlichs-
ten Zipfel Deutschlands.Wer durch die
Dünen mit demFahrrad dorthin fährt,
begreift, wasWindkraft bedeutet.Auf
dem Hinweg kann man versuchen, eine
möglichst windschnittige Form anzuneh-
men. Oder besser gleich schieben.Auf
demRückweg genügt es, sich auf den
Sattel zu setzen und loszusegeln, treten
ist nicht nötig.Wind aus Nordwest, Nie-
selregen,einWetter fürKenner. Im Ein-
gangsbereich des Instituts hängt ein Pla-
kat mit derAufschrift «Do aliens take
over?» – «Eine Zeitlang hatten wir die
PazifischeAuster unterVerdacht, genau
das zu tun», sagt Christian Buschbaum.
Nicht weil plötzlich überall am Strand
di e scharfkantigen Schalen derAuster
lagen und den Spaziergängern dieFüsse
aufschlitzten, sondern weil die heimi-
schen Miesmuscheln zurückgingen. Der
Meeresökologe erforscht die Invasion
fremderArten in die Nordsee, was ihn
aber keineswegs zu betrüben scheint.
Sylter Austernfarmer höchstpersön-
lich setzten diePazifischeAuster 1986 in
die Nordsee, nachdem die Europäische
Auster durch Überfischung nahezu aus-
gerottetwordenwar.Siewolltensiemäs-
ten , nicht ansiedeln,was auch unmöglich
erschien,da sie mindestens18 Grad war-
mesWasserbraucht,umsichfortzupflan-
zen. Niemand ahnte, dass die Nordsee
schon bald warm genug sein würde. Die
Larven schlüpften, entkamen aus den
Netzen und setzten sich auf den erstbes-
ten harten Untergrund: Miesmuschel-
bänke.Das bekam denMiesmuscheln
nicht, und sie starben unter derLast der
viel grösser werdendenAustern. «Nach
einem kaltenWinter jedoch änderten
die Austernlarven ihrVerhalten», sagt
Buschbaum, «warum auch immer.»
Plötzlich liessen sich dieAusternbabys
zunehmendaufdenSchalenihrerEltern
nieder. Inzwischensiedeln siefast aus-
schliesslich auf den lebenden Artgenos-
sen,unddieMiesmuschelnresidierenam
GrundderAusternbänke, wo sie Sch utz
vor Krebsen undVögeln finden. Beide
Bestände gingen hoch. «Das zeigt, dass
wir mit unseren Einschätzungen von
Natur auch völlig danebenliegenkön-
nen», sagt Buschbaum.
Von seinem Schreibtisch blickt er
auf die Nordsee, die an diesemTag grau
und träge unter grauem Himmel liegt.
Wie geht es der Nordsee? Sie ist immer-
hin eines der meistbefahrenen Gewäs-
ser derWelt, und an ihrenKüsten leben
15 Millionen Menschen. Laut einem Be-

schluss der Europäischen Union sollte
sie – wie alle europäischen Gewässer –
bis 2020 in einem guten Zustand sein.
Ist sie das?«Nein, noch nicht.Wir muss-
ten ersteinmal definieren,was ein ‹guter
Zustand› ist, umkonkrete Massnahmen
zu beschliessen.Aber dieStrategie wird
umgesetzt, und vieles ist bereits bes-
ser geworden», sagt Buschbaum.Vor
allem, seit dieVerklappung von Indus-
trieabfällen und der Nährstoffeintrag
über die Flüsse, die sogenannte Eutro-
phierung durchDüngemittelaus der
Landwirtschaft, deutlich zurückgegan-
gen sei. «Aber dieFischerei, vor allem
jene mit Schleppnetzen, ist noch immer
eine grosse Belastung», sagt Buschbaum.
In den sechzigerJahren haben Natur-
schützer erstmals Alarm geschlagen,da-
mals wolltenPolitik undWirtschaft an
der Küste noch mehr Industrie und
Atomkraftwerke ansiedeln.Das Meer
war zum Benutzen da. Erstals Anfang
der achtzigerJahre Fische bäuchlings
an der Oberfläche trieben, giftig gelbe
Schaumkronen auf denWellen tanzten,
keineeinzigeKegelrobbemehrzufinden
war und Seehunde tot an den Strand ge-
spült wurden,setzte einUmdenken ein.
«Mittlerweile gibt es wiederKegelrob-
ben, die Seehundpopulation ist gesund,
dasSeegras,dasvomAlgenwuchserstickt
worden war, wächst wieder und dient als
natürlicherKüstenschutz», sagt Busch-
baum.Aber es gebe noch viel zu tun.
Die Invasion neuer Arten sehe er
nicht als Problem. Zwar nehme durch

den Klimawandel die Zahlder einge-
schleppten Arten,die hier überlebten,
zu. «Aber mir fälltkeine neue Art ein,
die eine eingesessene verdrängt hat»,
sagt Buschbaum. Er wolle das Problem
nicht herunterspielen, er begrüsseRegu-
larien, die das Einschleppen fremder
Arten inBallastwassertanks oder am
Rumpf der Schiffe einschränkten, aber
eine neue Art bedeute nicht grundsätz-
lich eine Katastrophe. «Natürlich kann
man denVerlust ursprünglicher Lebens-
gemeinschaften bedauern, aber wichti-
ger ist dieFunktionalität einesLebens-
raumes.» Muscheln zum Beispielreini-
gen dasWasser, indem sie es einsaugen
und filtrieren. Aber welche Muschelart
es tue, spiele am Endekeine so grosse
Rolle. «Der Anstieg des Meeresspiegels
ist die grössere Bedrohung.»
Immer grössereWassermassen wer-
den bei Ebbe und Flut auf- und ab-
fliessen müssen. DieTurbulenzen wer-
den grösser, so dass sich die Sedimente
nicht mehr absetzenkönnen. «Irgend-
wann wird dasWatt nicht mehr tro-
ckenfallen.» Aber es gebe eine Chance.
Untersuchungen zeigten, dass dasWatt
mitwachsenkönne, solange der Mee-
resspiegel nur drei bis fünf Zentimeter
pro Jahr ansteige, sagt Buschbaum.
«Voraussetzung ist, dass wirder Küste
die Chance geben, sich selbst anzupas-
sen. Wir dürfen das Meer nicht länger
aussperren.»Wo zwischenWasser und
Land einst ein breiter Saum war, in dem
die Kräfte freies Spiel hatten, hat der
Mensch eine starre Linie gezogen.«Wir
haben dieKüsten verbarrikadiert.»

Ein beklagenswertesVolk


Seit Menschengedenken schien es die
effektivste Methode zu sein, um zu
üb erleben.Voller Mitleid berichtete
der römische Chronist Plinius in seiner
«NaturalisHistoria»von dem eigenarti-
gen Leben derVölker , die er im Nor-
den gesehen hatte: «In grossartiger Be-
wegung ergiesst sich dort zweimal im
Zeitraum eines jedenTages und einer
jeden Nacht das Meer über eine unend-
liche Fläche und offenbart einen ewi-
gen Streit der Natur in einer Gegend, in
der es zweifelhaft ist, ob sie zumLand
oder zumMeer gehört. Dort bewohnt
ein beklagenswertesVolk hohe Erd-
hügel, die mit den Händen nach dem
Mass der höchsten Flut errichtet sind.In
ih ren erbauten Hütten gleichen sie See-
fahrern, wenn dasWasser das sie um-
gebendeLand bedeckt, und Schiffbrü-
chigen, wenn es zurückgewichen ist und

ihre Hütten gleich gestrandeten Schiffen
allein dort liegen.Von ihren Hütten aus
machen sieJagd auf zurückgebliebene
Fische. Ihnen ist es nicht vergönnt,Vieh
zu halten wie ihre Nachbarn, ja nicht
einmal mit wildenTieren zu kämpfen,
da jedes Buschwerk fehlt.»
Vor etwa 1000 Jahren kamen die
Insel- undKüstenbewohner auf dieIdee,
ihre Gehöfte nicht länger aufWarften,
also künstliche Erdhügel, zu bauen, wie
sie Plinius schildert,sondern Schutz-
wälle rund um ein Dorf zu errichten:
Deiche. Zunächst waren es nur nied-
rige Sommerdeiche, um die Äcker wäh-
rend derVegetation zu schützen, doch
bald folgten höhereWinterdeiche,die
auch den Herbststürmen standhalten
sollten. Und siehe da:Wurde die Erde
nicht mehrregelmässig geflutet, ent-
stand fruchtbares Marschland. Schutz
und Landgewinnung in einem.
Doch die Entwässerung liess diePol-
de r, das eingedeichteLand, absacken.
DerAbbau vonTorf, das als Brennmate-
rial diente, tat einWeiteres, bald lag das
Festland tiefer als dasWatt. Brach nun
der Deich,konnte das eingebrochene
Wasser nicht mehr abfliessen.Also wur-
den die Deiche erhöht und noch mehr
Land urbar gemacht. Doch immer wie-
der holte sich das Meer alles zurück,
kein Jahrhundert ohne verheerende
Sturmfluten: Bei der «Groten Man-
drenke» – dem «grossen Ertrinken» –
1362 ertranken 200000 Menschen, der
HandelsplatzRungholtverschwand wie
Atlantis. Die Zweite Elisabethenflut
1421 fegte mit brüllender See 72 Dör-
fer hinweg, versalzte Hunderttausende
HektarenAckerland, ertränkte Mensch
und Vieh. Die Burchardiflut1634 ver-
schluckte ganze Inseln mit ihren Bewoh-
nern, die Marschwurde wiederWatten-
meer.«Wernicht willdeichen, der muss
weichen», dieses Gesetz ist den Men-
schen in Fleisch und Blut übergegangen.
Ein Drittel desWattenmeeres wurde seit
dem Mittelalter eingedeicht und inFest-
land umgestaltet.
An die beiden letzten grossen Sturm-
flutenkönnen sich heute noch viele er-
innern. 1962 in Hamburg und, verhee-
render noch,1953 in denNiederlanden.
Aus Schottland war ein orkanartiger
Sturm herübergezogen, der dasWasser
gegen dieKüsten drängte und ihm nicht
erlaubte, bei Ebbe abzufliessen.Wind-
stärke11. Zudem löste eine besondere
Konstellation von Sonne, Mond und
ErdeeineSpringtideaus,dieSeeschwoll
an,tobte. Die Niederländer feierten den
15.Geburtstag von Prinzessin Beatrix

SERIE ZUMANTHROPOZÄN
Der Mensch hat den Planeten in ein
neues Erdzeitalter geführt. Noch haben
wir dieWahl: Zerstörung oderWandel?

nzz.ch/wochenende

Keine Stadt sinktschneller alsJakarta, hier der Fischereihafen MuaraAngke während der Flut.
Free download pdf