Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

48 WOCHENENDE Freitag, 15. November 2019


und merkten lange nichts.Umdrei Uhr
morgens brachen die ersten Deiche, 89
sollten insgesamt den Fluten nachgeben,
150000HektarenFarmland wurden ver-
salz en und aufJahrzehnte unfruchtbar,
40 000Häuser und 3000 Bauernhöfe
beschädigt,1835 Menschen und etwa
200000Tiereertranken.Für dieKüsten-
bewohner war es die ultimative Kampf-
ansage, fortan zogen sie alleRegister, um
die Nordsee in die Schranken zu weisen –
mit Erfolg, selbst Sturmfluten mit neuen
Rekordständen1976 und 2007 forderten
keine neuenTodesopfer mehr.
In den Niederlanden wurde zweiTage
nach der Flutkatastrophe von1953 die
Delta-Kommission gegründet – bis heute
eine ArtVerteidigungsministerium mit
besonderen Befugnissen.AusDeichen,
Dämmen, Pumpen, Schleusen und spek-
takulären Sperrwerken entwickelte die
Kommission in den nächsten 25Jahren
ein Schutzsystem gegen Hochwasser und
Sturmfluten, das die American Society
of Civil Engineers zu einem der moder-
nenWeltwunder kürte: die Deltawerke.
Fiele der Strom aus und die Pumpen hör-
ten auf zu pumpen, stünden zwei Drittel
desLandes,darunter Amsterdam, Den
Haag undRotterdam,schnell unterWas-
ser.Etwa 9 der17,3 Millionen Einwohner
lebenin Regionen unterhalb des Meeres-
spiegels. Keine Frage: Die Niederlande
wurden von Ingenieuren gemacht. Und
von ihnen hängt es ab, ob dasLand be-
wohnbar bleibt.


Sturmflutenund Starkregen


Als Erste in Europarealisierten sie vor
20 Jahren nicht nur, wie bedrohlich der
Meeresspiegelanstieg durch den men-
schengemachten Klimawandel ist,son-
dern auch, dass allebisherigen Massnah-
men zumKüstenschutz in Zukunft nicht
genügen würden. 6000Jahre lang war der
Meeresspiegel imWesentlichenkonstant
geblieben.Im 20. Jahrhundertist er um
zwanzig Zentimeter gestiegen,im 21. wird
er um ein bis zwei Meter steigen – auch
dann, wenndie Menschheit die inParis
gesetzten Klimaziele erreicht. Es ist das
bestmögliche Szenario. Und es bedeutet,
dass Sturmfluten und Starkregen neuen
Ausmasses zu erwarten sind; ausserdem
bisher unbekanntePerioden derDürre,
da sich die Niederschlagsmuster verän-
dern,wie zahlreiche Studien belegen.Die
Trinkwasserversorgung des dicht besie-
deltenLandes sicherzustellen, wird zu
einer neuen Herausforderung. Den Nie-
derländern wurde klar, dass sie neurech-
nen mussten, neu denken.


Im herkömmlichenKüstenschutz lau-
fen dieWellen auf eine starreKüste zu
und treffen dort mit hoher Energie auf.
Weil Feuchtgebiete entwässert, Moore
und Sümpfe abgetragen,Salzwiesen ent-
salzen und das trockengelegteLand hin-
ter Deichen verbarrikadiert worden ist,
stehen bei Sturmflutenkeine Flächen
mehr zurVerfügung, auf denen die Flut
sich auslaufen kann.DieAbdämmung an
Flussmündungen schützt bis jetzt zwar
die Gebiete rund um die Mündung, er-
höht aber den Druck flussaufwärts. So
stieg derTidenhub, also der Unterschied
zwischen Niedrig-undHochwasser, in
manchen Flüssen um vier Meter: Die
Flut wird in einemTrichter gefangen und
verstärkt. Die Schutzwälle weiter zu er-
höhen,konntekeine Lösung mehr sein.
NachJahrtausenden des Abschottens
beschlossen die Niederländer imJahr
2000 einenradikalenParadigmenwech-
sel: Bauen mitder Natur. Die erstestra-
tegische Neuausrichtung forderte «Ru-
imte voor de Rivier». Raum für den Fluss.
Einer, der von Anfang an dabei
war, ist derLandschaftsarchitekt Pieter
Schengenga von HNSLandscape Archi-
tec ts in Amersfoort.Das Büro gehört zu
den frühenVertretern jener Philosophie,
für die die Niederlande weltweit be-
kannt geworden sind: Der Mensch kann
Landschaft «machen», vorausgesetzt,er
hat dieFunktionsweise der natürlichen
Systeme verstanden undrespektiert sie.
Sowohl NewYork nach dem Hurrikan
«Sandy» als auch New Orleans nach
dem Hurrikan «Katrina» haben die
Niederländer zuRate gezogen. Exper-
tise überWasserkreisläufe, Bodenabsen-
kung, Salzwasserintrusion, aquatische
Ökologie usw. müssten den technischen
Lösungen zugrunde liegen, sagt Schen-
genga. Ziel der 34 «Ruimte voor de Ri-
vier»-Projekte sei natürlich die Sicher-
heit derLandesbewohner, aber auch
die Qualität der Lebensräume.Esgehe
um die Schönheit in der Ästhetik eines
funktionierendenSystems.
Die Niederlande liegen in einem Fluss-
delta, dem gemeinsamen Mündungs-
bereich von Rhein, Maas und Schelde.
Deltas sind sehr dynamischeLandschaf-
ten, in denen sich Sedimente aus den
Flüssen ablagern, die von Meeresströ-
mung und Gezeiten ständig umgeschich-
tet und zumTeil wieder abgetragen wer-
den.Es sind flache und aufgrund der stän-
digen Nährstoffzufuhr hochproduktive
Gewässer mitreichenFischvorkommen.
Die Ökosystemleistungen, die ein Delta
den Menschen bietet, wie die Bereitstel-
lung vonFisch, Mineralien undFossilien,

die Funktion als Klärwerk,alsFahrwasser,
als Erholungsgebiet usw., begründen
seine Anziehungskraft als Arbeits- und
Lebensraum.Wird es allerdings überstra-
paziert,kollabiert dasSystem.
Viele Megacitys wieBangkok, New
York, Schanghai,Tokio undJakarta lie-
gen in Flussdeltas. Das Perlflussdelta im
Süden Chinas hat sich in den letzten40
Jahren von einer Agrarregion zu einem
industriellenBallungszentrum aus elf
Städten entwickelt, darunter Hongkong
und Macau. 60 Millionen Menschen le-
ben im Delta, mehr als 3,5-mal so viele
wie in den Niederlanden auf gleicher
Fläche,Tendenz steigend. Nirgendsauf
derWelt ballen sich mehr Menschen
als hier, Expertenrechnen 2030 mit 100
Millionen Bewohnern. So drastisch wie
ihre Zahl steigt, nimmt die derVögel,
Fische und Amphibien ab. Ihre Lebens-
räume sind verschwunden, sämtliche
natürlichenWasserläufe unterbrochen.
Da Bäche, Seen und Zuflüsse ver-
schmutzt sind, mussTrinkwasser in vie-
len Metropolen aus tieferen Erdschich-
ten gewonnen werden. In derFolge fehlt
es als natürliches Gegenlager, und der
Boden gibt unter der massiven Bebau-
ung nach.Staudämme an den Flüssen,die
die Deltas normalerweise speisen,ver-
hindern den Zustrom neuer Sedimente.
Die Städte sinken ab. Bangkok, Schang-
hai und New Orleans sind im 20.Jahr-
hundert um mehrereMeter abgesackt.
Als der Sturm «Katrina» imAugust 2005
das Meer im Golf von Mexikoauf sie-
ben Meter hochpeitschte und die Deiche

brachen, lief New Orleans voll wie eine
Wanne. In Tokio und Schanghai, die drei
bis vier Meter gesunken waren,konnte
der Prozess in den siebzigerJahren ge-
stoppt werden,indem die Entnahme von
Grundwasser stark eingeschränkt wurde,
worauf sich die entsprechenden Boden-
schichten langsam wieder füllten.
Die derzeit am schnellsten versin-
kende Metropole derWelt istJakarta,
die Hauptstadt Indonesiens, ironischer
Weise eine ehemalige niederländische
Kolonie. Seit Beginn ihres explosions-
artigenWachstum in den achtzigerJah-
ren ist sie bis zu vier Meter abgesackt.
Der Boden geht förmlich in die Knie
unter derLast der Hochhäuser. Bis
2025,so wird befürchtet, könnten ei-
nige Stadtteile um weitere zwei Meter
absinken. Risse in Strassen und Gebäu-
den,Gas- undWasserleitungen sowie
Leckagen in der Kanalisation sind un-
vermeidlich. Ebenso wie nochhäufigere
und noch schlimmere Überschwemmun-
gen. Schon heute stehen die Strassen
der 10-Millionen-Metropole bei starken
Regenfällen einen halben Meter unter
Wasser, manchmal wochenlang.
Um die Stadt in Zukunftvor denFlu-
ten zu schützen, planten dieVerantwort-
lichen, die Bucht mit einem Schutzwall
aus künstlichen Inselnabzuriegeln, die
grösste davon inForm eines Garudas,
desWappenvogels Indonesiens. Doch
das Projekt ist umstritten und gilt als
ökologisch fragwürdig. In diesemJahr
nun wärmte Indonesiens Präsident die
alte Idee auf, die Hauptstadt umzusie-
deln, und zwar in den indonesischen
Teil der Insel Borneo, Hunderte Kilo-
meter entfernt. Doch der Plan ist noch
unausgereifterals der erste. Die Zeit
drängt allerdings.All die gegenwärtigen
Probleme haben noch nichts mit dem
Klimawandel zu tun, sondern sindFol-
gen städtebaulicherFehlplanungen. Der
Anstieg des Meeresspiegels wird die Si-
tuation dramatisch verschärfen.Des-
wegen beobachten vieleKüstenstädte
sehr genau, was die Niederländer tun.
Die bereiten sich auf das steigende
Wasser vor wie auf eine überlegene
Grossmacht, neben der zu bestehen
nur möglich sein wird, wenn man sich
ihre Kräfte zu eigen macht. Deiche wer-
den abgebaut oderverl egt,Dämme ab-
geflacht, Flussbetten verbreitert,Pol-
der geöffnet und inFeuchtgebiete um-
gewandelt, in denenWasserbüffel gra-
sen und Menschen spazieren gehen.
Unter permanentem Monitoring aller
heiklen Stellen, ständigem Evaluie-
ren eines jeden Schrittes und sofortiger

Anpassung an neue Erkenntnisse wie
jene, dass die Eisschilde und Gletscher
schneller abschmelzen als gedacht,stel-
len die Niederländeralles Bisherige auf
den Prüfstand. Studenten diverser Dis-
ziplinen werden aufkonkrete Projekte
angesetzt und dürfen sich in ihrem Er-
findungsgeist austoben. Kühnheit in der
Innovation steht hoch imKurs, und die
Ergebnisse sind beeindruckend – auch
in der Entwicklung vonWassersiedlun-
gen und Amphibienhäusern.

Die «DreiSchwestern»


Peter Schengenga hat die IJssel, den
nördlichen Mündungsarm des Rheins,
umgestaltet, das Flussbett vertieft und
mit einemBypass versehen, der zwi-
schen zwei Deichen liegt. Im Ernstfall
könne sich die IJssel jetzt sehr schnell
grosserWassermassen entledigen, sagt
Schengenga. Der «Sandmotor» vor der
Küste bei Scheveningen wiederum ist
eine gigantische künstliche Sandbank,
die den Meeresströmungen und Gezei-
ten zur weiteren Gestaltung überlassen
wurde–stattwie bisher den Strand stän-
dig neu aufzuschütten. Es ist ein Expe-
riment, denn Sandaufschüttungen ge-
hören zurkostspieligenTagespflege des
Landes. Die Delta-Kommission hat be-
rechnet, dass der Sandbedarf 2050 vier-
mal so hoch und 2100 zwanzigmal so
hoch sein wird wie heute – selbst dann,
wenn die Klimaziele vonParis erreicht
werden, was«von überragender Bedeu-
tungist».
In Bangkok nennt man sie die «Drei
Schwestern»: Flusshochwasser, Stark-
regen und Sturmflut. 2011 kamen alle
drei auf einmal: Ein starker Monsun liess
denFluss Chao Phraya über die Ufer
treten, und eine Springflut verhinderte
das Abfliessen desWassers über das
Meer.Eilig wurde ein kilometerlanger
Schutzwall aus Sandsäcken errichtet,
um vor allem die Innenstadt zu schüt-
zen.Als dasWasser stieg, versuchten die
ausgesperrten Menschen in denRand-
gebieten denWall zu durchbrechen, um
das Wasserablaufen zu lassen. Es kam
zu gewaltsamenAuseinandersetzungen,
wie die «Bangkok Post» schrieb. Bis jetzt
ist es nur eineRandnotiz.

Lesen Sie amFreitag, 13. Dezember:
Wenn von einer Art nur nochwenige
Exemplareexistieren, entdecken wir
unsere Liebe.Vorher machen wir Tieren
erbarmungslos denLebensraum streitig.

MexicoBeachinFlorida, nacheinem Wirbelsturm im Oktober 2018.

Um drei Uhr morgens


brachen


die ers ten Deiche,


89 sollten insgesamt


den Fluten


nachgeben.

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