Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 GESELLSCHAFT49


BESONDERE KENNZEICHEN


Ein Rollin g Stone hält inne


DerStones-Gitarrist RonnieWoodblicktauf ein Leben


vollerSex,Drogenund Rock’n’Roll zurück. Nun blühter


nocheinmalauf: ander Staffelei, ander Gitarre und dank


seinerjungenFamilie. VONHANSPETER KÜNZLER


RonnieWood sitzt in der Presidential Suite eines
Londoner Luxushotels, aber vomTon her, den der
Musiker anschlägt, könnten wir in seinem Stamm-
Pub sitzen. «Geht’s gut?», ruft er und springt aus
seinem Sessel hoch. «Bist du von weit her gekom-
men?» Mankönnte meinen, wir seienKumpel.Da-
bei treffen wir uns zum ersten Mal.
Am1. Juni wurdeWood 72Jahre alt. Anders als
vieleRocker seiner Generation hat erkein biss-
chen an Gewicht zugenommen. Seine knochigen
Knieragen durch die Löcher der engen,schwarzen
Jeans. Dass er die schlaksigeFigur eines 20-Jährigen
hat, hat auch damit zu tun, dass er seit neunJahren
nicht mehr trinkt. Nebendem Alkohol hat er auch
denDrogen abgesagt. In seinen schlimmsten Zeiten
erschien er mit einem Bunsenbrenner anPartys, um
Crack zurauchen, wenn ihm nach dem Stoff war.


Ein Albumfür ChuckBerry


Sein Entzug dauerte dreiJahre – erst danach habe
erkeine Lust mehr gehabt auf das Zeugs.Als vor
dreiJahren seine Zwillinge auf dieWelt kamen,
gab er auch noch die Zigaretten auf. «Ich vermisse
nichts!», sagt er, und es klingt wie eine Beteue-
rung.«Weder Drinks noch Drogen nochTabak.»
Ein gewaltiges Gewicht sei von seinen Schultern
gewichen. «Ich entspanne mich heute ohne den
Druck, ständig Stoff aufzutreiben.»
Der Grund für unserTr effen steht in einer
Vinyl-Version aufgeklappt auf demTisch. Es ist
einTr ibute-Album fürRonnieWoods grosses
Idol, denRock’n’Roll-Pionier Chuck Berry, Ein
einziges Stück, das programmatische«Tribute to
Chuck Berry»,hat Wood allein aufgenommen. Der
Rest – Evergreens wie «Back in the USA» und


«Little Queenie» – wurde mit seinerBand, dem
Boogie-Pianisten BenWaters und der Sängerin
Imelda May, live eingespielt. Einige der Songs ge-
hörten zumRepertoirevonWoods ersterBand,
The Birds; deren Name wurde vom Chuck-Berry-
Song «Jaguar andThunderbird»inspiriert.
Er sei als Musiker immer im richtigen Moment
am richtigen Ort gewesen, schriebWood 2007 in
seinerAutobiografie:Darauf gründe sein Glück.
Seine Unbeschwertheit sowieeine Bescheiden-
heit, die von seiner Herkunft herrührt, dürften ge-
nauso wichtig gewesen sein.WoodsFamilie hatte
über Generationen auf Hausbootengelebt, sie
hatte ihr Leben als Schiffer auf dem ausgedehnten
Netz englischer Kanäle verdient. Ronnie und seine
beiden Brüder waren die Ersten, die anLand ge-
boren wurden. DieFamilieWood lebte in derPeri-
pherie von London, die Nachkriegszeit war vorbei,
derAufschwung war spürbar, dasLeben aufregend.
Es waren die frühen Beatles-Jahre.
Mit 17 gründeteRonnieWoodThe Birds. Das war


  1. DieBand hattekeine Hits, dafür gute Sauf-
    kumpane.«Wasich von damals vermisse, ist die
    Kameradschaft», sagtWood.Auch erfolgloseBands
    seien überall willkommen gewesen. «Die Beatles,
    Cilla Black, die SmallFaces, die Kinks! Niemand
    hatte einenDünkel», sagt er.Wood gehörte bald zum
    Kern der Musiker der swingenden Sixties.Auf die
    Birds folgte dieJeff Beck Group, der auchRod Ste-
    wart angehörte. SpäterzogenStewart undWood wei-
    ter zu den SmallFaces, aus denenThe Faces wurden.


Der verpassteAnruf von MickJagger


Zu diesem Zeitpunkt,1969,warWood schon mit den
Rolling Stones befreundet. Erst fünfJahre später er-
fuhrer, dass MickJaggerihnanrief, als BrianJones
aus derBand geworfen worden war. Leider nahm
WoodsFaces-KollegeRonnieLane dasTelefon ab.
ObWood Lust habenkönnte, den Stones beizutre-
ten, wollteJagger wissen.Auf keinenFall, entgeg-
neteLane:Ronnie sei es ganz wohl bei denFaces.
Das stimmte sogar. Mit ihrer lottrigen, bierseli-
gen, urenglischenPartymusik versprühte dieBand
Heiterkeit und wurdeTeil der englischenRock-
geschichte. Lanes Notlüge flog erst auf, alsWood
dann doch noch bei denRolling Stones landete, um
den Brian-Jones-Ersatz MickTaylor zu ersetzen.
Inzwischen hatte er in seinem Heimstudio zusam-
men mit MickJagger «It’sOnlyRock’n’Roll (But I
Like It)» geschrieben.Dass das Lied weiterhin als
Jagger/Richards-Komposition aufgelistet wird, stört
ihn nicht. «Ich war ja noch der Lehrling», sagt er. Und
wie lange dauertees, bis erRonnieLane seine Lüge
verzieh?Das habe er umgehend getan,antwortet
erund lacht:«Es wareindeutig besser so. DerAuf-
schubhatmir womöglich das Leben gerettet – bei
dem Lebenswandel, den die Stones damals führten.»
Vor zweiJahren kamWood demTod tatsächlich
nahe: Die Ärzte diagnostizierten Lungenkrebs.Vor
dieWahl gestellt, sich einer Chemotherapie oder
einer Operation zu unterziehen, entschloss er sich
zu Letzterem: «Sonst wären mir ja die Haare ausge-
fallen.Das durfte aufkeinenFall passieren!»Wood,
dieFrohnatur.
Und nun dasTr ibute-Album für Chuck Berry, mit
demer mehrmals zusammengespannt hat. Es ist der
ersteTeil einerTr ibute-Trilogie überJugendhelden
wie JimmyReed, Big Bill Broonzy und Hubert Sum-
lin. Die Idee dafür gehe auf das erfolgreiche letzte
Stones-Album,«Blue and Lonesome», zurück, das
lauter klassische Blues-Songs enthalte, sagtWood.
Dieses Album habe ihnen eineVerschnaufpause ver-
schafft, da die Arbeit an ihrem neuen Longplayer «so
verdammt langsam vorwärtskommt».
Wood hat die Chuck-Berry-Porträts auf dem Co-
ver selber angefertigt,«vorn Ölfarbe aufMetall, hin-
ten Holzschnitt».NebenRonnieLane,der ihn nicht
sofort zu den Stones gehen liess, und denOnkologen
habeihmauch das Malen das Leben gerettet, sagt
Wood.In der Nähe seinerLandvilla in der Graf-
schaft Hertfordshire hat er sich ein Atelier einge-
richtet. Er malte schon als Kind, heute stellt er welt-
weit aus. DerKunstbetrieb nimmt ihn insofern ernst,
als dieLeute seine Bilder tatsächlich kaufen. Er be-
herrscht dieTechnik,seine Sujetserzählen von der
Lust am Abenteuer – oft müssen dieRolling Stones
herhalten. Sein ganzesParty-Leben finde heute in
seinem Atelier statt, sagt er, «in der Gesellschaft von
Leinwand und Pinsel». Es sei seine Männerhöhle,
aber dieFamiliekomme oft zu Besuch. DieFami-
lie, das sind seine dritteFrau,dieTheaterproduzen-
tin Sally Humphreys, und die Zwillinge GracieJane
und AliceRose: «Die Kleinen halten mich jung.»
Dann ist die Gesprächszeit um.Ronnie, der
Kumpel, klopft mir aufs Knie und sagt: «Du musst
mich unbedingt im Atelier besuchen.» Die Antwort
auf meine ersteFrage scheint er jedoch vergessen
zu haben, dennerfügt an:«Wohin geht’s zurück?»

Ronnie Wood with His Wild Five: «Mad Lad: A Live Tribute
to Chuck Berry» (Phonag).

RonnieWood widmet seinem Idol, ChuckBerry,ein Tribute-Album. DANIEL ACKER /REUTERS

Woods Familie hatte


über Generationen auf


Hausbooten gelebt, sie


hatte ihr Leben als Schi ffer


auf dem ausgede hnten Netz


englischer Kanäle verdient.


IN JEDERBEZIEHUNG


Der unbewegte


Mann


Von Bi rgit Schmid


Als ich über dieForschung nach einem«Via-
grafür dieFrau» geschriebenhabe, machte
ich folgendenVergleich:Das männlicheVer-
langen funktioniere wie ein Lichtschalter,
schrieb ich, jenes derFrau sei mit der Elek-
tronik im Cockpit eines A380vergleichbar.
Das brachte manchen Mann zum Staunen.
Und zwar zuRecht.Wenn es so einfach
wäre,könnten Männer nicht nur eine feh-
lende Erektion, sondern auch ihre sexuelle
Unlust mit der blauen Pille beheben. Schon
die Existenz vonViagra beweise doch, dass
eskomplizierterer sei, sagte mir einFreund:
«Als Mann kannst du erregt sein,aberkeine
Erektion haben, und umgekehrt.»Das sei
sehr verwirrend.Wenn SigmundFreud fragt:
«Was will eigentlich dieFrau?», frage man
sich als Mann oft:«Waswill ich eigentlich?»
Was also will der Mann?Bis heute gibt es
diese eindimensionaleVorstellung von der
männlichen Sexualität: Der Mann, das trieb-
gesteuerteWesen, will angeblich immer nur
daseine. BeieinerFrau hingegen muss mehr
stimmen, damit sie begehren kann.Das Vor-
urteilhat zurFolge,dass man sich lange vor
allem für die sexuelle Lustlosigkeit derFrau
interessierte. Doch inzwischen berichten
auch Männermediziner von immer mehr
lustlosenPatienten in ihrer Praxis.Was man
von ihnen erfährt, lässt nur einen Schluss
zu: Männer sind die neuenFrauen im Bett.
DerWiener Urologe Markus Margreiter
liefert in seinem neuen Buch «Mann 2020»
die Zahlen:Jeder dritte Mann über 50 lei-
det an Erektionsstörungen. Bei den über
70-Jährigen ist es jeder Zweite.Aufhorchen
lä sst sein Befund bei denJüngeren: Mitte
40 trifft es jedenVierten, und vor allem bei
den jungen Männern steigt die Zahl derer,
bei denen nichts mehr geht.
Hinter einer erektilen Dysfunktion steht
dann oft tatsächlich Lustlosigkeit. Gerade
bei denJungen muss man nach psycholo-
gischen Ursachen fragen.Warum erstarren
Männer heute bei der Berührung derFrau
neben ihnen und drehen sich zur Seite,wäh-
rend früher dieFrauKopfweh vorschob oder
ihn mit denWorten «Heute nicht» abwies?
Das Bild von Männlichkeit hat Risse be-
kommen, und das scheint sich auf das sexu-
elle Selbstverständnis der Männer auszuwir-
ken.Verunsicherung istkein Libido-Boos-
ter. Frauen prägen nun den Beziehungsstil.
Das kann auch einmal nächtelangesVer-
handeln statt Sex bedeuten. Ein 23-Jähri-
ger sagte kürzlich der «NZZam Sonntag»:
Erglaube nicht, dass Sex und Leidenschaft
gleichberechtigt funktionierten. Es gehe im
Bett doch um Dominanz und Unterwerfung.
Dazukommt,dass dieemanzipierte Sexua-
lität derFrau Männer unter Lustdruck setzt.
DieFrau fordert ein, was ihrgefällt. Man-
chen Männern soll die Lust vergehen, wenn
Frauen im Bett zu initiativ sind.
Ein Androloge, der Männern im besten
AlterTestosteron verschreibt, sagte mir so-
gar:Viele Männer drückten mit ihrer Lust-
losigkeit unbewusst aus, dass sie dem Kin-
derwunsch ihrer Partnerin ambivalent
gegenüberständen. Sie verweigern sich dem
Zeugungsstress. In derFortpflanzungsmedi-
zin, der sich immer mehrPaare ausliefern,
ist Lust erstrecht nicht vorgesehen.
Schliesslich führt auch diePornografie
dazu, dass der Nahkontakt zu einem Men-
schen vor allem eines ist: anstrengend.Vo n
erotischenReizen übersättigt, leidet das Be-
gehren. Derselbe Überfluss bei den Sexual-
partnern dank dem Online-Dating:Die stän-
digeVerfügbarkeit vonKörpern banalisiert
die Sexualität.«Wir beten nicht um das täg-
liche Brot, sondern um den täglichen Hun-
ger», hat der Philosoph Günther Anders ge-
sagt. Nicht Befriedigungen fehlen heute, son-
dern dasVerlangen, die Erregung, die Lust.
Und jetzt Lichterlöschen.
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