Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 INTERNATIONAL


Barrikaden riegeln die Universitäten ab

Der Kampf zwischen Polizei und Demonstranten in Hongkong erreicht die Lehranst alten


PATRICK ZOLL


Bereits zum viertenMal in dieserWoche
ist derAlltag in Hongkong am Donners-
tag stark beeinträchtigt worden. De-
monstranten blockierten Strassen und
lieferten sich Strassenschlachten mit der
Polizei. Die Gelände der Hongkonger
Universitäten,diebisher von den Kämp-
fen verschont geblieben waren, sind zu
eigentlichen Brennpunkten geworden.
Dazu gehört auch die Chinese Uni-
versity of HongKong (CUHK). Die
Universität im Norden der Stadt zählt
rund 20000 Studenten. Sie sei wegen
ihrer strategischenLage umkämpft,sagt
der SchweizerTheologeTobiasBrand-
ner, der an der CUHK unterrichtet:
«Von einer Brücke der Universität aus
kann man einfach eineAutobahn und
eineEisenbahnlinie unterbrechen, die
beide vom Stadtzentrum inVorstädte
und weiter an die Grenze zu Shenzhen,
also Festlandchina, führen.»


Anarchiemacht sich breit


Seit Anfang dieserWoche hat die Si-
tuation in Hongkong eine neue Eskala-
tionsstufe erreicht.Auslöser war derTod
von Chow Tsz-lok, der währendAus-
einandersetzungen mit derPolizei ver-
gangeneWoche von einer Garage ge-
stürzt und an denVerletzungen gestor-
ben war. Die genauen Umstände sind
ungeklärt, doch dasLager der Demons-
tranten macht diePolizei für denTod
ihres 22-jährigen Mitkämpfers verant-
wortlich. Nach einemTag derTrauer
begannen am Sonntag wieder grosse
Demonstrationen.Verschärft wurde die
Lage, als am Montagmorgen einPoli-
zist einem Demonstranten aus nächs-
ter Nähe in denBauch schoss. Darauf-
hin begannen die Demonstranten, die
Stadt lahmzulegen. Bisher war das Le-
ben unter derWoche in Hongkong mehr
oder weniger normal weitergegangen,
die Demonstrationen beschränktensich
aufs Wochenende. Seit Montagkommt
es jedoch täglich zu schwerenAusein-
andersetzungen.
Mittlerweile sei die Chinese Univer-
sity zu einerFestung umgebaut worden.
Es herrsche eine gewisseAnarchie,alle
Lehrveranstaltungen seien abgesagt,
sagt derTheologieprofessor. Die öffent-
lichenRäume der Uni seien in Beschlag
genommen von Demonstranten – mehr-
heitlich Studenten, aber zumTeil auch
ehemaligen Absolventen oderSympa-
thisanten von aussen. Sie alle wollten die
Uni gegen diePolizei verteidigen.
Die drei Eingänge der Uni seien mas-
siv verbarrikadiert, sagt Brandner: «Ich
konnte beobachten, wie Studenten fast
mittelalterlicheWurfgeschossekonstru-
iert haben, um Steine über dieBarri-
kaden zu schleudern.»Aus dem Sport-
zentrum der Uni hätten Demonstranten
Pfeilbogen entwendet und zu trainie-


ren begonnen, brennende Pfeile abzu-
schiessen. Ein Sprecher der Hongkon-
ger Polizei sagte am Donnerstag, dass
die CUHK zu einerFabrik und einem
Arsenal vonWaffen geworden sei.Von
einer andern Universität aus seienPoli-
zisten mit Pfeilen beschossen worden,
sagte der Sprecher.
Brandner streitet ab, dass seine Chi-
nese University besondersradikal sein
soll. Das sei einLabel, das der CUHK
von chinesischen Staatsmedien ange-
heftet worden sei. Die Zahlen sprächen
eine andere Sprache:An anderen Unis
seien mehr Studenten festgenommen
worden.Speziell an der Chinese Univer-
sity sei,dass sie stark sei in Sozialwissen-
schaften, etwaPolitologie. «Da wird si-
cher mehr kritischer Dissens gepflegt als
an mehr technisch orientierten Hoch-
schulen», sagt Brandner.Aber letztlich
sei der Unterschied zwischen den ver-
schiedenen Hongkonger Unis bei diesen
Protesten nicht so gross.

Gewalt rechtfertigt Gewalt


Obwohl beiweitemnicht alle Studentin-
nen und Studenten an den gewaltsamen
Aktionen teilnähmen, seikeine Spal-
tung der Bewegung zu spüren. «Meine
Studenten derTheologie machen nicht
mit», sagt Brandner. Doch sie unterstüt-
zen die Bewegung aus Solidarität. Ein-
zelne hätten Essen an die Demonstran-

ten verteilt, einer habe geholfen, Abfall
wegzuräumen.
«Meine Studenten sind so schockiert
wie ich von denAusbrüchen der Ge-
walt von studentischer Seite», sagt der
Professor. «Aber es wird akzeptiert,
dass jeder das macht, was er für richtig
hält.»Man mache dann zwar bei gewis-
sen Sachen nicht selber mit, aber man
kündige deswegen nicht seine Solida-

rität mit der Bewegung auf. Das hänge
auch mit der anarchischen Organisa-
tion der Bewegung zusammen. Es gebe
keine zentrale Befehlsstruktur. Die Wut
der Demonstranten auf diePolizei sei
riesig. Die Gewalt, die von derPolizei
ausgehe, werde alsRechtfertigung dafür
genommen,dass die Demonstranten sel-
ber zu Gewalt griffen. «Persönlich finde
ich das sehr bedenklich», sagt Brandner.
Laut Agenturberichten wurden am
Mittwoch mehrere Dutzend chinesische
Studenten vomFestland von derPolizei

von einerAnlegestelle nahe der CUHK
per Boot evakuiert. Die Studenten hät-
ten die Sicherheitskräfte gerufen, weil
sie Angst vor Übergriffen durch De-
monstranten gehabt hätten. Professor
Brandnerkennt persönlichkeinen Fall,
an dem Studenten vomFestland an der
CUHK belästigt oder angegriffen wor-
den sind. Er vermutet politische Über-
leg ungen hinter derPolizeiaktion. Die
Studenten vom chinesischenFestland,
viele von ihnenAustauschstudenten,
seien teilweise von ihren Heimuniversi-
täten aufgefordert worden,nach China
zurückzukehren. Sokönne Peking sa-
gen, dass die Studenten vomFestland in
Hongkong in Gefahr seien.
Es machten auch unzählige Gerüchte
die Runde, dass diePolizei oder gar die
chinesischeVolksbefreiungsarmee bald
hart durchgreifen werde. Brandner hält
solcheGerüchte für haltlos, auch wenn
er nicht ausschliesst, dass seine Univer-
sität geräumt wird, wenn die Blockade
der Strasse anhält.DieGerüchte werden
allerdingsauchvon chinesischen Staats-
medien geschürt. So meldete die «Glo-
bal Times» am Donnerstag aufTwit-
ter, dass die HongkongerRegierung
eine Ausgangssperre verhängen werde.
Kurz darauf löschte dasPropaganda-
blatt derKommunistischenPartei Chi-
nas denTweet. Die HongkongerRegie-
rung dementierte, dass es entsprechende
Pläne gebe.

Die Chinese University ist zu einem BrennpunktinHongkong geworden. ANTHONY KWAN / GETTY

Tobias Brandner
Theologie-Professor an
der Chinese University
PD of HongKong

Kambodschas Opposition sitzt im Kreisverkehr fest


Langzeitherrscher Hun Sen versteht das Spiel mit der Macht – und hält se inen Widersacher Sam Rainsy von Kambodscha fern


MANFRED RIST, PHNOM PENH


Sam Rainsys «Putschversuch» in Phnom
Penh ist gescheitert. Die kambodscha-
nische Hauptstadt hat dieseWoche den



  1. Jahrestag der Unabhängigkeit ge-
    feiert und vor demKönigspalast am
    Mekong das dreitägigeWasserfest be-
    gangen, das Hunderttausende von
    Schaulustigen anzog. Nicht ein Hauch
    vonVolksaufstandwarzuspüren,wieihn
    derimExillebendeführendeOppositio-
    nelleangestrebt hatte: SamRainsy be-
    sitzt auch einen französischenPass,wes-
    halb er sich vorzugsweise inParis auf-
    hält.Von dort wollte er mitPauken und
    Trompeten in die Heimat zurückkehren.
    Statt direktin PhnomPenh oder
    Bangkok zu landen, von wo aus der
    70-Jährige auf dem Landweg über
    die Grenze nach Kambodscha zu ge-
    langen gedachte, ist er am Donners-


tag viaKuala Lumpur in der indonesi-
schen HauptstadtJakarta eingetroffen.
Laut Angaben aus seinem Umfeld will
er sich dort mitParlamentariern treffen
und die Situation in Kambodscha er-
läutern. Mit dieser Agenda hatte er in
MalaysiasRegierungskreisen zuvor für
Unbehagen gesorgt.

Nur halboffene Ohren


KambodschasPremierministerHunSen
hatderweilaufseineWeiseaufdieReise-
aktivitätenseinesGegenspielersreagiert
und einigeregierungskritischePolitiker
und Dissidenten freigelassen; sie waren
aufgrund dervon Rainsypublik ge-
machten Umsturzpläne in der vergan-
genenWoche vorsorglich inhaftiert wor-
den. Auch der Hausarrest des 66-jähri-
gen Kem Sokha, des formellen Chefs
der oppositionellen Cambodia National

Rescue Party (CNRP),ist gelockert wor-
den. An dessen Anklage wegen Hoch-
verrats hat sich jedoch nichts geändert.
Mit der Geste gegenüber der Oppo-
sition, die von denWahlen im letzten
Jahr ausgeschlossen war, zeigt Hun Sen
einmal mehr, wie er das Spiel mit der
Macht beherrscht.Just im Moment, da
SamRainsy inKuala Lumpur undJa-
karta auf das autokratischeRegime in
Kambodscha hinweist, lockert er die
Zügel etwas. Malaysia und Indonesien


  • beidesLänder, die kürzlich freieWah-
    len durchführten – sind derzeit dieein-
    zigen Mitgliedstaaten desVerbands Süd-
    ostasiatischer Nationen (Asean), die
    Rainsy überhaupt politische Aktivitä-
    ten gestatten.
    Der eigentlicheAdressat des Signals
    aus PhnomPenh ist indessen die Euro-
    päische Union:Weil in Kambodscha
    spätestens seit demVerbot der CNRP


keine Rede von Demokratie mehr sein
kann,droht Brüssel mit dem Entzug der
Zollpräferenz «Alles ausserWaffen»
(EBA). Diese erlaubt dem unterentwi-
ckeltenKönigreich zollfreie Exporte in
die EU, was derTextil- und Schuhindus-
trie zugutekommt.

DrohendeSanktionen derEU


Die Sanktionen wären ei n schwerer
Schlag, machenTextilexporte doch die
Hälfte derAusfuhren von insgesamt 16
Milliarden Dollar aus. Und ein Grossteil
davon geht in die EU. Die Angst, dass
Zehntausende der 750000Textilarbeite-
rinnen ihrenJob verlierenkönnten,ist in
PhnomPenh durchaus zu spüren.
SamRainsy, der früher kurzzeitig
Finanzminister war, machtkein Hehl,
dasserWirtschaftssanktionenalsDruck-
mittel gegen den seit1981 immer autori-

tärerregierenden Hun Sen befürwortet.
Noch ist indessen offen, ob sich Brüssel
zumAnziehendieserDaumenschrauben
entschliesst. Nach einem entspreche n-
den Entscheid würden die Sanktionen
wohlerstinzwölfMonatenihreWirkung
entfalten. Internationale Herstellerver-
folgen die Entwicklung auf jedenFall
und schliessenVerlagerungen nicht aus.
Welche weiteren Pläne SamRainsy
schmiedet,ist unklar.Sein Radius ist eng
und die Unterstützung, die er aus süd-
ostasiatischenLändernerhält,istdürftig.
Auf Geheiss der thailändischenRegie-
rung verweigerteThai Airways ihm vor
einerWoche einen Flug nachBangkok.
Einiges deutet darauf hin, dassRainsy
bald unverrichteter Dinge nachParis zu-
rückkehren wird.Das würde jenen Stim-
men recht geben, die sagen, eineRück-
kehrnachKambodschahabeerniewirk-
lich in Betracht gezogen.

Der deutsche


«Soli» wird zur


Reichensteuer


Solidaritätszuschlag wird für die
meisten Steuerzahler gestrichen

hmü.Berlin· Der Deutsche Bundestag
hat am Donnerstag eine teilweise Ab-
schaffung des Solidaritätszuschlages be-
schlossen.Das Parlament folgte damit
einemVorschlag des sozialdemokrati-
schenFinanzministers Olaf Scholz, der
vorsieht, dass kleine und mittelgrosse
Einkommen ab 2021 von derAbgabe
befreit werden. 90 Prozent der Steuer-
zahler, so heisst es aus demFinanzminis-
terium, müsstenkeinen «Soli» mehr be-
zahlen; weitere 6,5 Prozent profitierten
voneinerGleitzone.Werallerdingsledig
ist und mehr als 73000 Euro verdient,
muss die Abgabe ebenso weiterhin ent-
richten wie eine vierköpfigeFamilie mit
einem Einkommen über151000 Euro.
Über den Solidaritätszuschlag wird
bereits seit Jahren gestritten: Seine
Gegner weisen nicht zu Unrecht dar-
auf hin, dass die Abgabe einst als Pro-
visorium gedacht war. Der Solidaritäts-
zuschlag wurde1991 von derRegie-
rung des Christlichdemokraten Helmut
Kohl eingeführt, damit man dieLasten
der deutschenWiedervereinigung tra-
gen und sich zumindest finanziell an
den Kosten des ersten Irakkrieges be-
teiligenkonnte.Vier Jahre später wurde
der Steuerzuschlag dann zu einer dauer-
haften Einrichtung. Mittlerweile werden
die Einnahmen, die der deutsche Staat
aus dem «Soli» erzielt,längst nicht mehr
zweckgebunden ausgegeben.
In der Bundestagsdebatte am Don-
nerstag schossen sich FDP und AfD
auf den «Soli» ein.Vertreter der bei-
den Oppositionsparteien meinten, eine
Erhebung der Abgabe über 2019 hin-
aus sei möglicherweise sogarrechts-
widrig. EndeJahr läuft der Solidarpakt
II aus, der für die ostdeutschen Bun-
desländer spezielle Ergänzungszahlun-
ge n durch den Bund vorsieht. Mit dem
Solidarpakt, so meinen nicht nurPoliti-
ker, sondern auchJuristen,könnte auch
der Solidaritätszuschlag hinfällig wer-
den.Damit könnte die Abgabe mög-
licherweise schon bald einFall für die
Gerichte werden.Vertreter von Grünen
und Linkspartei kritisierten wiederum,
viele Steuerzahler hätten nichts von der
weitgehenden Abschaffung, weil sie so
wenig verdienten, dass sie den Zuschlag
ohnehin nicht zahlen müssten.
Eine vollständige Abschaffung hat-
ten in derVergangenheit auch christlich-
demokratischePolitiker gefordert. Nun
präsentierten sie den Beschluss vom
Donnerstag als ersten grossen Schritt
auf demWeg dorthin.Was beschlossen
worden sei, bedeute eine Entlastung
der Steuerzahler im Umfangvon zehn
Milliarden Euro proJahr,erklärte ein
christlichdemokratischerAbgeordneter,
und damit die «grösste Steuerentlastung
seit vielen, vielenJahren». Diese werde
durchkeine Erhöhung von Steuern oder
Abgabenan anderer Stellekompensiert.
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