Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

50 GESELLSCHAFT Freitag, 15. November 2019


Nur wer sich einlässt, hört richtig zu


Audioformate sindauch deshalb sobeliebt, weil sichgut anderes nebenbeiverrichten lässt. Wirklich?


Multitaskingwird überschätzt– vielmehrerfährt man beimZuhörenNäheund gibtKontrolle ab. VONMELANIE KEIM


AufeinemAudio-Walk durch den Zür-
cher Kreis 5:Auf der Strasse vor uns
steht eineFrau im knappenJupe mit tie-
fem Décolleté, ihr Gesicht ist halb unter
einer Maske verborgen. Die Lippen der
Frau sind geschlossen,dochaus meinem
Kopfhörer dringt ihre warme, kratzige
Stimme. Sie erzählt vom Doppelleben
als Prostituierte, davon, wie sie hier am
Sihlquai früher anschaffte. Und diese
Geschichte abKonserve trifft mich mit
vollerWucht. Unter meinemKopfhörer
komme ich ins Grübeln. Kann es sein,
dass mich die aufgezeichnete Erzäh-
lung stärker berührt, als wenn dieFrau
vor uns live spräche?Lasse ich vielleicht
mehr Gefühle zu, weil die Stimme nicht
im Aussenraum schwingt, sondern im
privatenRaum, direkt in meinem Ohr?
DieseFragen stellte ich mir, wäh-
rend wir als Gruppe mitKopfhörern
durchs Quartier spazierten.Wir hörten
an verschiedenen Orten den Geschich-
ten von Menschen zu, die schweigend
vor uns standen. DieKopfhörer isolier-
ten uns voneinander, gleichzeitig erleb-
ten wir als Gruppe Nähe undVerbun-
denheit.Undwir erhielten nun selbst ein
Publikum: Die Menschen auf der Strasse
drehten sich nach uns um.


Ein Geschäft,das boomt


DabeimachtederAudio-Walknursicht-
bar, was wir im Alltag ständig tun:Wir
setzenKopfhöreraufundverbindenuns
üb er eine fremde Stimme mit derWelt.
Denn Zuhören istangesagt. Hörbücher
boomen schon länger, nun sprechen alle
von Podcasts.Ineiner aktuellen Studie
von Reuters gab in der Schweiz knapp
ein Drittelder Befragten an, im letzten
Monat einenPodcast gehört zu haben.
In den USAwar es bereits die Hälfte.
Inzwischen hat fast jede Institution und
jedes Medienhaus ein solchesAudiofor-
mat. Auch die NZZ produziert in Zu-
kunft täglich einenPodcast und setzt
ein vierköpfigesTeam dafür ein. Ebenso
begann der Streaming-Anbieter Spo-
tify, massiv in diePodcast-Branche zu
investieren.Warum hören wir plötzlich
so gerne zu?


Die Renaissance der Mündlichkeit
basiert zunächst auf technischen Mög-
lichkeiten.Heutebestimmeich,wannund
wo ich etwas hören will.Das ist schon im
BegriffPodcast angelegt,der sich zusam-
mensetzt aus «broadcast» (englisch für
ausstrahlen) und iPod – diesem Ding, bei
demdasIchimZentrumsteht.Zumande-
ren existiert ein riesigesAngebot,das die
Hyperindividualisierungbietet,andiewir
uns inzwischen gewöhnt haben.Weil sich
ein Podcast mit einfachsten Mitteln pro-
duzieren lässt, gibt es heuteFormate zu
jedemx-beliebigen Nischenthema.
Bei den Millennialskommt dieser
informelle, authentische Stil besonders
gut an, wie Emily Bell, Professorin an
der Columbia University ofJourna-
lism, gegenüber BBC sagte. So wie sie
InfluencernVertrauen schenken, hören
sie auch gern etwas holprige, aber sym-
pathischeLaber-Podcast;«Laber» von
Labern, drauflosreden. Denn die klin-
gen erstrecht echt.
AudioistauchdasperfekteFormatfür
unser ständigesVerlangen nach Content
und unser Bedürfnis, die Zeit möglichst
intensiv zu nutzen. Höre ich zu, bleiben
meineAugen und Hände frei für ande-
res. Beim Kochen kann ich noch die Hin-
tergründe zu den News desTages nach-
hören,beimJoggenoderaufdemWegzur
Arbeit hat ein bisschenWissensvermitt-
lunggut Platz,amLenkrad oder selbst
beimJätenkannichmichvoneinemHör-
buch unterhalten lassen – denn es geht
beides nebeneinander.
Der umstrittene Psychologieprofes-
sor Jordan Peterson vergleicht dieAu-
diorevolution sogar mit der Erfindung
des Buchdrucks undrechnet vor, dass
wir dank gehaltvollem Zuhören jeden
Tag zwei Stunden zusätzliche Zeit für
Weiterbildung erhielten.

Aufmerksamkeit istunteilbar


Podcasts helfen uns also, möglichst viel
in unsere ohnehin schon vollenTage
hineinzustopfen.Das ist unschön, weil
irgendwie asozial, wie wir uns dazu alle
abschotten.Doch Zuhören ist nicht
nur ein weiteres Mittel, um unser Zeit-

management zu optimieren. Das gespro-
cheneWort sperrt sich nämlich gleich-
zeitig auch gegen Optimierungsver-
suche. EinenText kann ich querlesen,
ich kann ihn auf der Suche nach Stich-
worten überfliegen, ich kann in ihm
herumhüpfen, schnell zum nächsten
springen.Das Hörstück jedoch lässt sich
nicht so auspressen, es erfordert Geduld.
Gut ein Drittel derPodcasts wird tat-
sächlich auch bis ans Ende gehört.Zwar
kann manPodcasts schneller abspielen


  • laut einer Befragung tun dies in den
    USA 26 Prozent derregelmässigenPod-
    cast-Hörer. Doch selbst dann gibt eine
    andere Stimme denTakt vor. Und will
    ich ihr folgen, muss ich ihr meine volle
    Aufmerksamkeit schenken.


«Multitasking ist gar nicht möglich»,
sagt ChristianKeysers deshalb.Er ist
Professor für Neurowissenschaften am
Netherlands Institute for Neuroscience
und passionierterPodcast-Hörer. «Wenn
zwei verschiedeneAufgaben unsere
Aufmerksamkeit brauchen, müssenwir
zwischen diesenswitchen und verlie-
ren so einenTeil», sagt Keyers. Fo lgen
wir einemPodcast, funktioniert dies
höchstens parallel zuRoutinetätigkei-
ten wieJoggen, das nicht unsere volle
Aufmerksamkeit erfordert, oderAuto-
fahren. Kaufe ich kurz einTrambillett,
od er stehe ich vor dem Lebensmittel-
regal und muss mich für eine Mehlsorte
entscheiden,habe ich denFaden der Er-
zählung schon verloren.

FremdeStimme,so vertraut


Aus Keysers ’ Forschung zu Spiegel-
neuronen und Empathiewirdauch klar,
weshalb uns erzählte Geschichten so
berühren.«Wenn wir Probanden Bilder
einer Handlung zeigen,die sehr nahean
ihrer eigenenAusführung dieser Hand-
lung liegt, wird ihr Hirn stärker aktiviert,
und sie fühlen stärker mit», erklärt er. Je
stärker sich also gezeigte Bilder und die
eigene Erfahrung überschneiden, desto
besserkönnen wir lautKeysers etwas
nachempfinden und mitfühlen. «Audio-
formate erlauben es uns,Aktionen sehr
nahe an unserer eigenen Erfahrung zu
reko nstruieren», sagt der Neurowissen-
schaftler. Anders als beiFilmen, die
uns eine Menge Informationen mitlie-
fern, müssen wir beirein auditivenFor-
maten vieles selbst ausschmücken.Wie
eine Person aussieht, wie sie geht und
isst oder wie sich zwei Menschen küs-
sen,lege ich mir selbst zurecht,wenn ich
zuhöre. Und zwar so, dass ich möglichst
intensiv mitfühlen kann.
Auch beim Lesen finden wir die-
sen Raum für die Phantasie. Bei Audio-
formaten werden jedoch lautKeysers
über die Intonation oder dieTonalität
der Erzählstimme zusätzliche Emotio-
nen transportiert. Zudemkommt der
sogenannteAudience-Effekt zumTra-
gen. «Viele Erfahrungen sind intensiver,

wenn ich sie nicht allein mache», sagt
Keysers.Verfolge ich ein Hörbuch oder
einenPodcast, ist da immereineandere
Person präsent, die sich erst noch voll
und ganz auf das Erzähltekonzentriert.
Höre ich mehrereFolgen einesPod-
casts, wird diese Stimme bald zur ver-
trautenPerson. Bei Ira Glassvon «This
American Life» habe ich das Gefühl,
ihn persönlich zukennen. Mit dieser
Stimme im Ohr fühle ich mich weni-
ger allein, wenn ich einmal müde nach
Hause fahre. Da ist jemand, der erzählt,
wie es einst die Mutter vor dem Ein-
schlafen tat. Ich werde ruhig.
«Wir habenKontrolle über diesesTor,
können es aufmachen und einerPerson
Vertrauen schenken»,erklärtKeysers.
Ob wir uns emotional berühren lassen
oder nicht,können wir selbst entschei-
den. Wenn mir eine Stimme nicht passt,
kann ich sofort weiterklicken.Da sitze
ich am längeren Hebel. Doch das Zu-
hö ren selbst erfordert Hingabe.Wenn
ich lausche, bin ich nicht Herrin über
den Text, sondernResonanzraum. Die
erzählteWelt schwingt in mir.
Das individualisierte Zuhören ist vol-
ler Widersprüche und nicht einfach eine
praktischeForm der Informationsauf-
nahme.Wenn wir zuhören, wenden wir
uns derWelt in einer ganz spezifischen
Form zu.Peter Sloterdijk verortete das
sehende Subjekt einst amRand der
Welt.Es braucht Distanz,um ein Objekt
zusehen. Der Hörer jedoch kann nicht
«am Rand des Hörbaren» stehen. Nein,
er steht, schwebt im akustischenRaum,
taucht in diesen ein.
Heute schweben wir oft in individua-
lisierten akustischenRäumen.Man kann
darüber lästern, dass sich Menschen im
Zug oder auf der Strassemit ihren Kopf-
hörern abkapseln. Oder man kann be-
obachten, was sie tun.Verschliessen sie
sich wirklich? Blicken sie nicht manch-
mal freundlicher? Mit einemPodcast im
Ohr schaue ich den Menschen oft unver-
wandter ins Gesicht,einem Blick,einem
Lachen halte ich länger stand.In mei-
ner Bubble, im Schutz des grossenKopf-
hörers, mache ich dasTor weit auf für
die Welt da draussen.

Zuhören ist nicht nur einweiteres Mittel, um unserZeitmanagement zu optimieren; das gesprocheneWort sperrt sichauchgegenOptimierungsversuche. ALAMY

Das Hörstück jedoch


läss t si ch nicht so aus-


pressen, es erfordert


Geduld. Gut e in Drittel


der Podcasts wird


tatsächlich auch bis


ans En de gehört.

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