Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

54 FORSCHUNG UND TECHNIK Freitag, 15. November 2019


«Star Trek»-Träume werden langsam wahr

Ein 3-D-Display gene riert neben bewegten Bildinhalten auch Klänge und


haptische Eind rücke – fast schon ein richtiges Holodeck.VON HELGA RIETZ (T EXT) UNDJONASOESCH (GRAFIK)


Eigentlich geht es um etwas sehrFutu-
ristisches.Umein Gerät, das nachWelt-
raumbahnhof und Agentenfilm klingt.
Ryuji Hirayama wirkt dafür sehr auf dem
Boden geblieben.Wer den jungen Inge-
nieur etwas fragt, bekommt erst einmal
einenWortschwall aus Zahlen und Ein-
heitenzu hören,halblaut murmelndrech-
net er etwas aus.Und dann folgt eineAnt-
wort, die so technisch ausfällt, dass alle
Bilder von einer Science-Fiction-taug-
lichen Glitzerwelt, die man beim Gedan-
ken an ein Holodeck imKopf hat,zusam-
menbrechen.Schade eigentlich.Aber viel-
leicht muss einer so denken und arbeiten,
der mitSchall und Styropor dreidimen-
sionale Bewegtbilder mitten imRaum er-
zeugt. Bilder, die man anfassen kann und
die ausserdem noch klingen.


Licht, Luftund vielElektronik


Den Prototyp seiner Erfindung be-
schreibt Hirayama zusammen mit sei-
nen Fachkollegen von der University
of Sussex in Brighton und derTokyo
University of Science dieseWoche im
Fachblatt «Nature».^1 Die Wissenschaf-
ter machen sich dabei die Prinzipien
der Akustophorese zunutze; das heisst,
sie verwenden Schallwellen, um eine
kleine Styroporkugel imRaum in der
Schwebe zu halten und zu bewegen.
Diese beleuchten sie ausserdem mit
einerFarbwechsel-LED. Wird die Sty-
roporkugel schnell genug bewegt,dann
lassen sich auf dieseWeise Bilder «in
die Luft schreiben».
So einfach das Prinzip, so kompli-
ziert ist dessen technische Umsetzung
im Detail. Bei denForschern aus Brigh-
ton ist das Display – also derRaum,
der bespielt werden kann – ein Qua-
der von rund 23 mal17 mal 17 Zenti-
metern Grösse.Am Boden und an der
Deckesitzen dichtan dicht kleineLaut-
sprecher (technischkorrekt :Wandler),
die einFeld aus Schallwellen erzeu-
gen, das sich durch geschickte Ansteue-
rung der insgesamt512Wandler beinahe
beliebig umformen lässt. Die Schall-
wellen vermögen hinreichend leichte
Partikel – etwa die kleine Styroporku-
gel, die Hirayama und seineKollegen
verwendeten – in der Schwebe zu hal-
ten. IhrePosition wirdvon den Schall-
wellen bestimmt, denn kleinePartikel
weichen stets in Bereiche aus, in denen
die Schwankungen des Luftdrucks mög-
lichst klein sind (siehe Grafik).
Eindrucksvolle Bilder undVideos
begleiten die Publikation:Da blinken
Zahlen undSymbole auf, und die Erd-
kugel mit ihrenKontinenten en minia-
ture. Ein bunter Schmetterling flattert


vorbei. Ein bisschen getrickst haben die
Forscher dafür allerdings schon: Bis die
1mm grosse Styroporkugel allePosi-
tionen, die etwa für dieDarstellung der
Erdkugel notwendig sind, einmal ange-
steuert hat, braucht es derzeit 20 Sekun-
den. Grosse und aufwendige Bilderkön-
nen also nicht «live» erzeugt werden,
sondern nur mithilfe einerLangzeit-
belichtung auf einer Kamera. Und weil
die Steuerung der Styroporkugel per
Schallwelle nicht perfekt ist, bauten die
Forscher zusätzlich einTracking-System
ein, das fortlaufend diePosition derKu-
gel im Display bestimmt undkorrigiert.
Ohne dieses würde der kleine Styropor-

ball in kürzester Zeit aus seinem Schall-
wellenbettchen fallen.
Neben den bewegten Bildern kann
das Display auchTöne abspielen, und
zwar, indem die Ultraschallwellen, die
die Steuerung der Styroporkugel be-
nötigt (40 kHz), mit den passenden,
hörbarenFrequenzen moduliert wer-
den. Sogar derTastsinn lässt sich mit
dem «multimodal acoustic trap display»
(MATD) – so nennen die Ingenieure aus
Brighton ihre Erfindung – ansprechen.
Dies, weil die Schallwellen eine spürbare
Vibration erzeugen, die ebenfalls über
die Lautsprecher modifiziert werden
kann.Insgesamt ist das, selbst wenn man

die Einschränkungen des Prototyps be-
rücksichtigt, schonrecht nah am Holo-
deck, diesem «ultimativen Display», das
jed e beliebige Umgebung audiovisuell
und haptisch darstellen kann.

Bloss ein schönes Spielzeug?


DimosPoulikakos, der an derETH
Zürich das Energy Science Center lei-
tet undselbstverschiedeneEntwicklun-
gen auf dem Gebiet derAkustophorese
vorangetrieben hat, hält die Arbeit für
originell und gut gemacht. Die Grund-
lagen der verwendetenTechnologien
seien jede für sich zwar schon längstens

bekannt, hieraber geschickt zu einem
Ganzenkombiniert. Allerdings falle es
ihm schwer, sich einekonkrete Anwen-
dung oder gar ein taugliches Produkt
vorzustellen, in welches die Erfindung
mündenkönnte.Alle 512Wandler elek-
trischanzusteuern, so dassdas akusti-
scheFeld die notwendigen Kräfteauf
dasPartikelausübe,seikompliziert,sagt
Poulikakos.Ausserdem gebe es bereits
Displaytechniken, die auch dreidimen-
sionale visuelle Eindrücke mit relativ
wenigAufwand erschafften.
BleibtdieFrage,obsichmitderneuen
Methode auch noch wesentlich grössere
Räume bespielen liessen. Hirayama zö-
gert – wie immer –,bevorer eine Ant-
wort gibt: Man müsse weitausleis tungs-
fähigereWandlerhaben,sagter,mehrere
Partikel gleichzeitig einsetzen. An bei-
dem arbeite man.Poulikakos ist weni-
ger optimistisch, obgleich er Hirayamas
Arbeit für ihre bemerkenswerte Origi-
nalität lobt:Bei grösseremVolumen und
derAnwendung ausserhalb derkontrol-
liertenLaborumgebung gebe es viele
störende Einflüsse. Da brauche etwa nur
jemand zu husten,schon sei dasFeld aus
Schallwellen gestört.

(^1) Nature 575, S. 320–323.
Der Winter wird nicht allzu kalt
Mitteleuropa dürfte in den nächsten Monaten vorwiegend unter dem Einfluss von feuchtmildem Westwind stehen
SVEN TITZ
In den letztenTagen froren die Ein-
wohner im Osten der USA beiRekord-
kälte. In Mitteleuropaist es derzeit deut-
lich milder,selbst wenn bereits Alpen-
pässe wegen Schneefalls gesperrt wer-
den mussten.Wie derkommendeWinter
ausfallenkönnte, darüber berichtet jetzt
das europäische Erdbeobachtungspro-
gramm Copernicus.
Am vergangenen Mittwoch wurden
auf dessenWebsite die neustenVorher-
sagen der massgeblichen meteorologi-
schen Dienste veröffentlicht. Nach die-
sen beträgt dieWahrscheinlichkeit, dass
Mitteleuropa einen deutlich zu mil-
den Winter erleben wird, zwischen 50
und 60 Prozent. DieWahrscheinlich-
keit für einen deutlich zu kaltenWinter
liegt hingegen nur bei 10 bis 20 Prozent.
Gültig ist die Prognose für die Monate
Dezember bisFebruar.
Strenggenommen lässt sich dasWet-
ter höchstens für einen Zeitraum von
ein bis zweiWochen vorhersagen. Bei
den Winterprognosen geht es jedoch
nicht darum,den genauenWetterverlauf
über die gesamteJahreszeit zu bestim-
men.Das wird auch in Zukunft nicht
möglich sein, denn dafür ist dasWet-
ter zu chaotisch.Vielmehr wollen die
Meteorologen die Grundtendenz der
kommenden Jahreszeit vorhersagen,
zum Beispiel die Neigung zu feucht-
mildemWestwind oder trockenkaltem
Ostwind.
Ein Ensemble ausVorhersagen
Um die Tendenz desWinterwetters
zu ermitteln, stellen die Fachleute ein
Mosaik aus Einzelvorhersagen mit ver-
schiedenen Anfangsdaten zusammen.
Daraus ziehen sie dann einFazit. Co-
pernicus bietet einen Überblick über
die wichtigsten Prognosen für denWin-
ter. In der Zusammenschau ist zu erken-
nen, dass sich ein einheitliches Ergebnis
abzeichnet.
Der Luftdruck wird gemäss den Pro-
gnosen im Norden Europas wahrschein-
lich etwas niedriger und im Süden etwas
höher liegen als imDurchschnittfrühe-
rer Jahre. Mit dieser Druckkonstellation
gehen verstärkteWestwinde einher, die
milde Luft vom Atlantik nachMittel-
europa schaufeln.Hochwinterliche, auch
schneereiche Episoden in Mitteleuropa
sind zwarkeinesfalls ausgeschlossen,die
generelleTendenz geht aber eindeutig in
Richtung mild.
Die Prognose der Niederschläge
weist üblicherweise die grösste Unge-
wissheit auf. In Nordeuropakönnte es
gemäss Copernicus etwas feuchter und
im Süden etwas trockener werden als
sonst.Für Mitteleuropa deuten dieVor-
hersagen auf durchschnittliche bis leicht
erhöhte Niederschlagswerte hin.Im ö st-
lichen Mitteleuropa,wo der Boden nach
wie vor zu trocken ist und viele Flüsse
niedrigePegelstände haben,wäredieser
Wetterverlauf sicher erwünscht.
Die Übereinstimmung ist gross
Für denWinterüberblick sammelt Co-
pernicus Prognosen von sechsWetter-
zentren:Dazu zählen das Europäische
Zentrum für mittelfristigeWettervor-
hersage inReading, die Wetterdienste
von Deutschland, Grossbritannien und
Frankreich,das Centro Euro-Mediterra-
neo sui Cambiamenti Climatici in Lecce
sowie die National Centers for Environ-
mental Prediction der USA.
DasssichdieResultatedersechsZen-
trensehrähnelten,stärkedieVorhersage
zusätzlich, betont der MeteorologeTim
Woollingsvon der University of Oxford.
EineForschungsarbeit aus dem vergan-
genenJahrhabegezeigt,dassdieVorher-
sagegüte grösser sei, wenn verschiedene
Modelle übereinstimmten.
Woollings vermutet, dass die Pro-
gnose des mildenWinters diesmal von
zwei Faktoren herrührt: dem gegenwär-
tig sehr stark ausgeprägtenPolarwirbel
über der Arktis sowie denrelativ hohen
Wassertemperaturen im subtropischen
Pazifik und Atlantik. BeideFaktoren
können dasWetter in Europa monate-
lang beeinflussen.
Trotz der immanenten Ungewissheit
sind jahreszeitlicheVorhersagen für
Energieversorger bares Geld wert.Dar-
auf wies unlängst Carlo Buontempo von
Copernicus hin. DieVersorger müss-
ten wissen, wie viel Energie sie benöti-
gen, um den Bedarf zu decken.Das sei
im Zuge der Etablierung erneuerbarer
Energiequellen besonders wichtig, weil
derenVerfügbarkeit stark von derWit-
terungabhänge.
Die Antwort
des Erfinderslässt Bilder
von einer Science-
Fiction-tauglichen
Glitzerwelt, die man
beimGedanken
aneinHolodeck
imKopfhat,
zusammenbrechen.
QUELLE: R.HIRAYAMAETAL., NATURE, 2019 NZZVisuals
Eine Styroporkugel wird
durch die Luft bewegt
und formt in 0,1
Sekunden ein Bild.
Array von 16×16Lautsprechern
16 ×16gegenüberliegende
Lautsprecher
Taktiles Feedback
LED-Beleuchtung
Violett beleuchtet
Grün beleuchtet
Beleuchtung aus
Komplexe Bilder
sind von blossem
Auge nicht sichtbar,
weil sie längere
Belichtungszeiten
erfordern (hier
20 Sekunden).

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