Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 FORSCHUNG UND TECHNIK55


Manche Link shänderin riecht anders


Ohne den Bulbus olfactoris können Menschen nicht riechen, dafür gibt es vieleBeweise. Doch laut einer Studie


schaffen es linkshändige Frauen trotzdem. Das bringt Forscher aus dem Konzept. VON LENASTALLMACH


Es war reiner Zufall,dass die For-
scher auf die 29-jährigeFrau aufmerk-
sam wurden.Für eine Studie hatten sie
Teilnehmerinnen gesucht, die ein gutes
Riechvermögen hatten. Doch als sie den
Hirnscan dieserFrau sahen, waren sie
verblüfft: Denn in ihrem Gehirn fehlte
eine wichtigeVoraussetzung zum Rie-
chen, ein knapp 60 Millimeter grosses,
längliches Hirnareal namens Bulbus ol-
factorius, auch Riechkolben genannt.
Dieser liegt im Gehirn direkt über der
Nasenschleimhaut und verarbeitet die
Informationen aus den etwa sechs Mil-
lionen Riechrezeptoren in der Nase.
Laut bisherigemKenntnisstand fehlt
der Riechkolben bei 1 von 10000 Men-
schen, und diese können deshalb nicht
riechen.«Wenn man den Betroffenen
die Düfte vonVanille oderRose unter
die Nase hält,können sie diese nicht
unterscheiden und nehmen auch nichts
wahr»,sagt der GeruchsforscherTho-
mas Hummel vonder Universität Dres-
den, der an der neuen Studie nicht be-
teiligt war. Laut der gängigenTheorie
werden im Riechkolben die Informatio-
nen der 400 verschiedenenRezeptor-
typen so geordnet, dass einzelneDüfte
erkennbar werden und in anderenVer-
arbeitungsebenen des Gehirns identifi-
ziert und bewertet werdenkönnen.
Da ein gutes Riechvermögeneine
Voraussetzung für dieTeilnahme an der
Studie gewesen war, fragten dieFor-
scher um Noam Sobel vomWeizmann-
Institut inRehovot, Israel, nochein-
mal nach, wie dieFrau ihren Geruchs-
sinn beschreiben würde. Sie antwor-
tete,ersei ausgezeichnet.Daskonnten
die Forscher kaum glauben und führten
mehrere Riechtests mit ihr durch. Doch
diese bestätigten dieAussage der Stu-
dienteilnehmerin.


Es blie b keine Ausnahme


Anfangs glaubten Sobel und die leitende
ForscherinTali Weiss,eine selteneAus-
nahme gefunden zu haben. Doch bald
wurden sie eines Besseren belehrt. Als
Weiss und Sobel nämlich beschlossen,
das Gehirn und das Riechvermögen der
ungewöhnlichenFrau genauer zu unter-
suchen, brauchten sie eine passende
Kontrollgruppe, alsoFrauen ähnlichen
Alters mit einem normalen Riechhirn.
Da die Frau ohne Riechkolben Links-
händerin war, luden dieForscher zwan-
zig junge Linkshänderinnen mit einem
normalen Geruchssinn insLabor ein.
Sie staunten nicht schlecht, als sie auf
dem Hirnscan der neunten Studien-
teilnehmerin auchkeinen Riechkolben
ausmachenkonnten. Ihre Ergebnisse
beschreiben sie in derFachzeitschrift
«Neuron».^1
Doch obwohl der Bulbus olfactorius
bei beidenFrauen fehlte – oder so klein
war, dass er auch mit einem hochaufge-
lösten MRI nicht sichtbar war –,reagier-
ten dieHirnregionen, die normalerweise
Informationen von ihm erhalten, ganz
normalauf Gerüche. Dieser Befund und
die Tests deuteten also darauf hin, dass
der Geruchssinn der beidenFrauen nor-
mal war.
Konnte das Zufall sein?Vielleicht
handelte es sich bei denFrauen gar
nich t umAusnahmen, so die Über-
legung derForscher. Deshalb starteten
sie eine Suchaktion in einerDatenbank
eines amerikanischen Hirnforschungs-
projekts, des Konnektom-Projekts. Dort
werden die Hirnscans und weitereTest-
ergebnisse von mehr als 1100Freiwil-
ligen gespeichert, darunter auch die
Resultate eines Riechtests.Weiss und
zweiKolleginnen suchten nachTeilneh-
mern mit einem trotz fehlendem Bul-
bus olfactorius intakten Geruchssinn.
Sie fanden vierFrauen, unter ihnen zwei
Linkshänderinnen.
Als dieForscher erneut ihre eige-
nen Studienteilnehmerinnen durch-
gingen, machten sie noch eine weitere
Kandidatin aus. DieseFrau bezeichnete
ihr Riechvermögen als normal, aber sie
hatte bei einem der vielen Riechtests


schlecht abgeschnitten, deshalb hatten
die Forscher sie anfangs von den Hirn-
scans ausgeschlossen. Als dieser nach-
geholt wurde, zeigte sich,dass auch bei
ihr der Bulbus fehlte.Innert kurzer Zeit
hatten dieForscher also siebenFrauen
gefunden,die ohne Riechkolben einen
passablen bis normalen Geruchssinn
hatten – unter ihnen waren fünf Links-
händerinnen.Daraus berechneten sie,
dass 0,6 Prozent derFrauen und 4 Pro-
zent der Linkshänderinnen trotz fehlen-
dem Riechkolben gut riechenkönnen.

Lehrmeinung wird umgestossen


«Das ist schon ein Ding», sagt der
Neuropsychologe LutzJäncke von der
Universität Zürich,«wir kennen den
Bulbus und seineFunktion aus jedem
Lehrbuch, und jetzt zeigt sich, dass es
Menschen gibt, die ohne ihn einwand-
frei riechenkönnen.» Aber es sei auch
ein schönes Beispiel dafür, wieindi-
viduell das menschliche Gehirn sei.
Irgendwie schaffen es dieseFrauen, ein
anatomisches Defizit zukompensieren,

das bei vielen anderen von Geburt an
zu einem fehlenden Geruchssinn (Anos-
mie) führt.Das erinnere ihn an frühere
Studien, die gezeigt hätten,dass sich das
Geh irn von Linkshändern nach einem
Schlaganfall schneller umstrukturiere
als das vonRechtshändern,sagt Jäncke.
Dadurch wird dieFunktion der beschä-
digten Hirnregion schneller von anderen
Regionen übernommen.
Womöglich seien Linkshänderinnen
dazu besonders gut in derLage, weil bei
vielen von ihnen das Gehirn distribu-
ierter arbeite. Hirnfunktionen, diebei
Rechtshändern vorrangig in derrech-
ten oder der linken Hirnhälfte ausgeübt
würden,seien bei ihnen eher auf meh-
rereverschiedene Areale verteilt, sagt
der Neuropsychologe. Das Gehirn von
Frauen arbeitet auch stärker distribu-
iert als das von Männern.Damit sei bei
linkshändigenFrauen womöglich die
Voraussetzung dafür besser, dass eine
andere Hirnregion dieFunktion einer
ausgefallenenRegion übernehme.
Die israelischen Forscher denken
auch, dass andere Hirnregionen die

Funktion des Riechkolbens überneh-
menkönnten.Frühere Studien mitRat-
ten deuten darauf hin, dass die aus der
Nase hochwachsendenFortsätze der
Riechzellen eineRegion imVorderhirn
ansteuern, wenn siekeinen Bulbus vor-
finden. Dortkönnte sich dann eine ähn-
lich aufgebaute Hirnstruktur ausbilden.

Menschensind nichtMäuse


Eine andereMöglichkeit sei, dass der
Riechkolbenbei Menschen anders funk-
tioniere als bei Nagetieren,von denen
das meisteWissen über dieses Organ
stamme, sagtWeiss.Womöglich spielt er
beim Erkennen und Identifizieren von
Düften eine weniger wichtigeRolle als
bei Nagetieren, die uns in diesem Be-
reich weit überlegen sind. DieFrage,
warum dasFehlen dieser Hirnstruktur
bei manchen Menschenaber zu einem
kompletten Verlustdes Riechvermögens
führt und bei anderen nicht, wird die
Forscher noch eineWeile beschäftigen.

(^1) Neuron 105, 1–11, 8. Januar 2020.
Die farbigenPunkte markieren die Riechkolben im Gehirn der Linkshänderinnen, bei zweiFrauen fehlen sie hier. BILD: WEIZMANN INSTITUTE OF SCIENCE
Frühere Studien
deuten darauf hin,
dass die aus der Nase
hochwachsenden
Fortsätze der Riech-
zellen eine Region im
Vorderhirn ansteuern,
wenn sie keinen Bulbus
vorfinden.

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