Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

56 FORSCHUNG UND TECHNIK Freitag, 15. November 2019


Krümmt sich das Universum doch?

Flach und unendlic h ausgedehnt soll der Kosmos sein. Drei Fo rscher bezweifeln das und reden


eine Krise der Kosmologie herbei. Damit ecken sie an. VON CHRISTIAN SPEICHER


Die Kosmologie wurde lange Zeit be-
lächelt.Mangels präziser Beobachtungs-
daten stand sie imRuf, keine echteWis-
senschaft zu sein.Davon kann heute
keine Rede mehr sein. Kosmologi-
scheParameterwie das Alter oder die
Expansionsrate des Universums lassen
sich inzwischen mit einer Genauigkeit
von wenigen Prozent messen.Dadurch
ist es möglich geworden, das neue Bild
vom Kosmos an derRealität zu messen.
Im Grossen und Ganzenkommt das
Standardmodell derKosmologie bei die-
sem Realitätstest gut weg. Zwarkönnen
sich KosmologenkeinenReim darauf
machen, warum sich das heutige Uni-
versum schneller auszudehnen scheint,
als es präzise Messungen derkosmi-
schen Hintergrundstrahlung nahelegen.
Abgesehen von diesem Krisensymptom
steht das Modell jedoch mit ganz ver-
schiedenenkosmologischen Beobach-
tungen im Einklang. Jetzt behaupten
drei Forscher allerdings, die Krise der
Kosmologie gehe viel tiefer und werde
lediglich durch die dem Standardmodell
zugrunde liegende Annahme kaschiert,
das Universum sei flach.Tatsächlich
spreche einiges dafür, dass das Univer-
sum gekrümmt und in sich geschlossen
sei wiedie Oberfläche einerKugel in
zwei Dimensionen.


Keime späterer Galaxien


Eleonoradi Valentino, AlessandroMel-
chiorri undJoseph Silk stützen sich bei
ih rer Analyse auf Messungen derkos-
mischen Hintergrundstrahlung mit dem
europäischen Planck-Satelliten. Diese
Strahlung entstand, als das Universum
380 000 Jahre alt war. Mit derAusdeh-
nung desWeltalls wurde auch dieWel-
lenlänge der Strahlung gedehnt, so dass
sieheutealsMikrowellenstrahlungwahr-
genommen wird, die überall annähernd
die gleicheTemperatur hat. Schaut man
jedochganzgenauhin,sooffenbarensich
auf kleinen SkalenwinzigeTemperatur-
unterschiede. Sie rühren daher, dass die
Materie schon kurz nach dem Urknall
kleinste Dichteunterschiede aufwies, die
sich später zu Galaxien und Galaxien-
haufen auswachsen sollten.
Misst man die Stärke dieserTem-
peraturschwankungen in Abhängigkeit
von ihrerAusdehnung, so lassen sich aus
der Hintergrundstrahlung diversekos-
mologischeParameter ableiten. Einer


davon ist die Krümmung des Univer-
sums.Welche Geometrie derKosmos als
Ganzes hat, hängt von seiner Materie-
und Energiedichte ab. Ist diese grösser
als eine kritische Dichte, so ist das Uni-
versum gekrümmt und in sich geschlos-
sen. Istdie Materie-und Energiedichte
hingegen gleich der kritischen Dichte, so
reicht die Gravitation der Materie nicht,
den Raum zu krümmen. Er ist flach und
unendlich ausgedehnt wie ein Blatt
Papier in zwei Dimensionen.
Aus theoretischen Gründen favori-
sierenKosmologen ein flaches Univer-
sum. Doch schon der Planck-Arbeits-
gruppe war vor einigenJahren aufgefal-
len, dass dieDaten ihres Satelliten nicht
völligkonsistent mit dieser Annahme
sind. Die Ablenkung, die diekosmische
Hintergrundstrahlung im Gravitations-
feld der Materie entlang ihresWeges er-
fährt, sprach tendenziell dafür, dass das
Universum überkritisch und mithin ge-
krümmt ist. Diese leichte Präferenz für
ein gekrümmtes Universum verschwin-
det allerdings, wenn man die Planck-
Daten mit anderen Beobachtungsdaten

kombiniert.Damit trug der Planck-
Satellit dazu bei, dass sich das gegen-
wärtige Standardmodellder Kosmolo-
gie etablierenkonnte, in dem das Uni-
versum als flach angenommen wird.
Die dreiForscher halten dasVor-
gehen der Planck-Arbeitsgruppe aller-
dings für falsch. Man dürfe verschie-
deneDatensätze nur dannkombinieren,
wenn siekonsistent miteinander seien,
sagtAlessandro Melchiorri von der Uni-
versitätLa Sapienza inRom. Sonst ver-
schleiere man dieWidersprüche zwi-
schen verschiedenenkosmologischen
Beobachtungen.Melchiorri ist einer der
drei Autoren. Pikanterweise ist er auch
Mitglied der Planck-Arbeitsgruppe.
InihrerPublikationhabendiedreiFor-
scher untersucht, welcheKonsequenzen
es hat, wenn man die Präferenz für ein
gekrümmtesUniversumernstnimmt.Zu-
nächsteinmalzeigensie,dasseingeschlos-
senesUniversum41-malwahrscheinlicher
ist als ein flaches, wenn man sich alleine
auf die Planck-Daten stützt. In einer
Arbeit,diebishernuralsPreprintvorliegt,
kommt Will Handleyvon derCambridge
University zu einem ähnlichen Ergebnis.
Bestärkt sehen sich die Forscher
dadurch,dass die Annahme eines ge-
krümmten Universums bekannte
Widersprüche in den Planck-Daten zum
Verschwinden bringt. Geht man vom
Modell eines flachen Universums aus,
so liefert die Analyse derTemperatur-
schwankungen auf kleinen und grossen
Skalen leicht unterschiedlicheWerte für
einigekosmologischeParameter. Das ist
nicht der Fall, wenn man das Standard-
modell derKosmologie erweitert und
eine Krümmung desRaumes zulässt.

FragwürdigeInterpretation


Allerdings hat die Annahme eines ge-
krümmtenUniversums einen Preis. Sie
führt zum Beispiel dazu, dass der aus den
Planck-Daten abgeleiteteWert für die
Hubble-Konstante – diese gibt an,wie
schnell sich das Universum ausdehnt –
kleiner wird.Dadurch würde die Diskre-
panz mit der direkt gemessenen Expan-
sionsratenochgrösser,alssieesjetztschon
ist.ZudemwürdensichauchdieSpannun-
gen mit anderenkosmologischen Beob-
achtungsdaten verschärfen. Melchiorri
und seine Mitarbeiter fechten das aber
nicht an. Sie sehen darin ein Indiz, dass
man die Probleme des Standardmodells

unterschätzt hat und die Krise derKos-
mologie schwerwiegender ist als gedacht.
Martin Kunz vonder Universität
Genf, wie Melchiorri ein Mitglied der
Planck-Arbeitsgruppe, teilt diese An-
sicht nicht. An der Analyse von Mel-
chiorri und seinen Mitarbeitern hat er
nichts auszusetzen.Was ihn stört, ist die
In terpretation der Planck-Daten.Dass
es in diesenDaten kleinere Unstimmig-
keiten geb e, sei seit längerem bekannt.
AndereMitglieder der Planck-Arbeits-
gruppe hätten diese kürzlich ausführ-
lich diskutiert. Die in der Gruppe vor-
herrschende Meinung sei, dass die Un-
stimmigkeiten auf moderate statistische
Fluktuationen zurückzuführen seien.
Deshalb vom Modell eines flachen Uni-
versums abzurücken,sei nichtgerecht-
fertigt, soKunz. Dazu seien die Unstim-
migkeiten nicht gravierendgenu g.
Vorallem aber störtsich Kunz daran,
dass ein gekrümmtes und in sich ge-
schlossenes Universum das Problem mit
der Hubble-Konstante verschärft.Wenn
die Situation nicht besser, sondern
schlimmer werde, sei das ein schlech-
tes Argument für eine Erweiterung des
Standardmodells derKosmologie.

HAUPTSACHE, GESUND


Antib iotika


gege n Angst


Von Bruno Kesseli


Sie sind die neuen Stars der Medizin:
unsere Darmbakterien.Auch in der
Sprechstunde wird mittlerweile lebhaft
über das Mikrobiom debattiert.Vor
allem bei unklaren Krankheitsbildern
liefert es je nachPerspektive willkom-
mene bis ärgerliche Erklärungsansätze.
Vorbei sind die Zeiten, als lediglich Be-
schwerden des Verdauungstrakts mit
einer gestörtenDarmflora inVerbin-
dung gebracht wurden. Heutzutage
reicht das Spektrum von Stoffwechsel-
störungen wie Diabetes oder Überge-
wicht über immunologische oder ent-
zündliche Erkrankungen bis hin zu
Affektionen des Nervensystems, etwa
bei Multipler Sklerose.
Diese Erkenntnisse sind nicht aus
der Luft gegriffen. In den meistenFäl-
len basieren sie auf solider wissenschaft-
liche rForschung.Sostiess ich kürzlich
auf die Zusammenfassungeiner Arbeit,
die nahelegt, dass gewisseSymptome
einer Depression durch eine Behand-
lung mit Antibiotika zumVerschwin-
den gebracht werdenkönnen – zumin-
destbei Mäusen. DieForscher vergli-
che n dazu dasDarm-Mikrobiom auf-
fallend ängstlicher, «depressiver»Tiere
mit jenem von Mäusen, die ein norma-
lesVerhalten zeigten.Dabei traten deut-
liche Unterschiede zutage. Eine anti-
biotische Behandlung der depressiven
Mäuse hatte nicht nur einen Einfluss
auf die Zusammensetzung ihrerDarm-
flora, sondern auch auf ihrVerhalten.
Die Tiere wurden aktiver, ihr Verhalten
glich sich jenem der gesunden Mäuse an.
Die Veränderungen führten dieWis-
senschafter auf mehrere Effekte des ver-
wendeten Antibiotikums Minozyklin
zurück. Neben direkten Einflüssen auf
gewisse Zelltypen im Hirn scheint die
Substanz im Mäusedarm die Bedin-
gungen fürBakterien zu verbessern,
die kurzkettige Fettsäuren produzie-
ren. Gewisse dieser Substanzen gelan-
gen via Blutbahn ins Gehirn und wir-
ken dort über gut erforschte Mechanis-
men antidepressiv.
Ein befreundeter Gastroenterologe,
dessen Meinung zu solchen Erkenntnis-
sen mich interessierte, stufte diese als
durchaus spannend ein. Sogar wenn nur
die Hälfte davon zuträfe, seien sieimmer
noch sensationell.Allerdings warf er
auchFragen auf. Ob es überhaupt de-
pressive Mäuse undRatten gebe und so-
mit dasTiermodell auf den Menschen
übertragbar sei. Oder ob bei Stuhltrans-
plantationenvielleicht ganzePersönlich-
keiten übertragen würden.
Im Übrigen wies mich der Profes-
sor auf eine unlängst in der Zeitschrift
«Nature» publizierte Studie hin, die
ebenfalls an Mäusen den Einfluss von
Darmbakterien auf bestimmte Hirn-
funktionen untersuchte.Auch dieseFor-
scher kamen zum Schluss, dass sichVer-
änderungen der Zusammensetzung des
Mikrobioms tiefgreifend auf das Angst-
verhalten und insbesondere das «Lö-
schen» von Angstmustern auswirken.
So verlässlichdiese Ergebnisse der
Grundlagenforschung auch sein mögen:
Für die Heilsversprechen, die daraus
von Dritten abgeleitet werden,gil t dies
nicht. Selbsternannte Diät-Gurus und
Ernährungspäpste formulieren auf der
Basis zweifelhafter Mikrobiom-Ana-
lysen Empfehlungen, die beim heuti-
gen Stand desWissens kaum je das ge-
wünschteResultat bringenkönnen.In
Bezug auf gezielte, therapeutisch wirk-
same Eingriffe ins Mikrobiom, so der
Konsens der seriösenForscher,stehen
wir nochganz amAnfang.

Die kosmische Hintergrundstrahlung ist mehr als 13 MilliardenJahre alt und damit die älteste Strahlung im Universum.Die winzigenTemperaturunterschiede (rot und blau)
lassen unter anderem Rückschlüsse auf dieForm des Universums zu. ESA / PLANCK-ARBEITSGRUPPE


Man dürfe verschiedene


Datensätze nur dann


kombinieren,wenn sie


konsistent miteinan der


seien. Sonst verschleiere


man die Widersprüche.


Einige s spreche dafür,


dass das Universum


gekrüm mt und in sich


geschlossen sei wie die


Oberfläche einer Kugel


in zwei Dimensionen.

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