Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

Freitag, 15. November 2019 MOBILITÄT 59


Lebensretter im Düsenflugzeug


Immer mehr einmotorige Fl ugzeuge sind mit Fallschirm-Rettungssystemenausgerüstet.


Diese kommen nun sogar in Busine ss-Jets zum Einsatz.VON JÜRGEN SCHELLING


Am 16.Juli 2019 will der Pilot einer vier-
sitzigen Cirrus-Propellermaschine von
Berlin inssüddeutsche Donaueschingen
fliegen.Auf der Höhe von Leipzig stellte
erfest,dassetwasnichtstimmt.Rapidefal-
lenderÖldruckweistaufvermutlichplötz-
lichenAusfall desTriebwerks hin.Er sieht
fürseineschnelleReisemaschinekeinege-
eignete Notlandemöglichkeit.Also löst er
das Rettungssystem aus. Die Maschine
schwebt amFallschirm in einFeld. Der
56-Jährige bleibt unverletzt.
Diese oder ähnliche Szenen wieder-
holensichimmeröfter.Dennnichtnurin
der Schweiz müssen Ecolight-Flugzeuge
obligatorisch ein Gesamt-Rettungs-
system an Bord haben, in allen euro-
päischenLändern ist es Pflicht für soge-
nannte ultraleichte Maschinen – ausser
in Grossbritannien.Auch alle viersitzi-
gen Modelle desTyps SR20/22 des Her-
steller Cirrus sind serienmässig mitRet-
tungssystemen ausgerüstet.


Jetzt auch Jets


Ihr Einsatzgebiet beschränkt sich nicht
mehr nur auf Propellerflugzeuge. Selbst
der gut 540 km/h schnelle Einstrahler
des Typs Vision des US-Herstellers Cir-
rus hat als erster Business-Jet einRet-
tungsgerät in derRumpfspitze eingebaut.
Das ist allerdings ein hochkomplexes Ge-
samtsystem. Denn bevor der Schirm aus-
schiesst, überprüft vorher der Bordcom-
puter, ob Fluglage und Geschwindigkeit
das tatsächlich zulassen. Der Computer
löst den Fallschirm also möglicherweise
erst aus, wenn dasFlugzeug nicht mehr
zu schnell ist, nachdem der Pilot einen
Handgriff gezogen hat.Auch der in der
Flugerprobung stehende neue Business-
JetFlaris LAR 01aus Polen wird über ein
Rettungssystem verfügen.
Mittlerweile habenRettungssysteme
beim eidgenössischen Ecolight und bei
Ultraleichtflugzeugen andererLänder


sowieEinmotorigen mit bis zu zweiTon-
nen Abfluggewicht weltweit etwa 600
Menschen vorTododer schwerenVer-
letzungen bewahrt. Alleine dieSysteme
des US-Herstellers BRSkonnten bis
November 2019 bereits 408 Menschen
das Leben rett en. Das tschechische
Unternehmen Galaxy zählt bis jetzt 95
Rettungen von Piloten durch seineFall-
schirme, dazukommen weitere durch
Hersteller wie die deutscheJunkers Pro-
fly oder die tschechischeFirma USH.
Warum wird der Schirm überhaupt
ausgelöst? Motorausfall etwa in den
Alpen ohne Notlandemöglichkeit kam
bereitsvor. Dazu Kollisionen inder
Luft, entweder mit anderen Maschi-
nen oderVögeln.Feuer an Bord gab es
ebenfalls schon mehrfach. Und eigent-
lich dürfen Sichtflugzeuge nie inWolken
fliegen.Tun sie es dennoch und verlieren

ohne optischeReferenz nach aussen im
Blindflug dieKontrolle,ist dasAuslösen
des Schirms oft die einzig verbleibende
Option, das Leben zurett en. Ein medi-
zinischer Notfall beim Piloten hat auch
schonPassagiere dazu gebracht,dasRet-
tungsgerät per Handgriff auszulösen.

GlimpflicheNotwasserung


Vater undTochter an Bord eines Cirrus-
Viersitzers mitten über dem Meer im
US-Gliedstaat Florida haben ihm wohl
ebenfalls ihr Leben zu verdanken. Bei
ihnen fiel dasTriebwerk aus. Da die Cir-
rus ein festesFahrwerk hat, würde eine
Notlandung auf dem Meer fast unwei-
gerlich zum Überschlag der schnellen
Maschine und zumraschenVolllaufen
der dannkopfüber hängenden Kabine
führen. Stattdessen lösten die beiden

das Rettungssystem aus, setztenrelativ
san ft auf demWasser auf und wurden
von einem Kreuzfahrtschiff geborgen.
Ein anderer Pilot konnte am


  1. Januar 2015 wegen drohenden Sprit-
    mangels auf einem Flug vom US-Glied-
    staat Kalifornien über offener See das
    Ziel, die Insel Hawaii, nicht mehr errei-
    chen. Er meldete den bevorstehenden
    Notfall derKüstenwache auf Hawaii.
    Die schickte ihm einenRettungsheli-
    kopter entgegen. Sobald dieser in sei-
    ner unmittelbaren Nähe war, betätigte
    der Pilot dasRettungssystem. Das Flu g-
    zeug setzte amFallschirm hängendrela-
    tiv sanftauf dem Meer auf. Ein spekta-
    kuläresYoutube-Video der Helikopter-
    crew hielt die dramatischen Momente in
    allen Details fest. Ein in der Nähe kreu-
    zendes und alarmiertes Schiff nahm den
    in einer kleinenRettungsinsel sitzenden


Piloten Minuten später auf. Sein Flug-
zeug war in der Zwischenzeit bereits
vollgelaufen und untergegangen.
Für schwere Maschinen sindRet-
tungssysteme bisher nicht geeignet, da
die vomFallschirm oder von der Flug-
zeugstruktur auszuhaltenden Kräfte
sonst zu gross wären. Zudem hat jedes
Rettungssystem auch Nachteile.Es
braucht Platz, bringt Mehrgewicht, und
das Flugzeug musskonstruktiv auch da-
für ausgelegt sein. Eine Boeing oder
einen Airbus wirdesdeshalb wohlnie
damit geben.Ausserdem müssenRet-
tungssysteme in genau definierten Inter-
vallen gewartet werden, anders als etwa
derAirbag imAuto. Dann wird beispiels-
weise die Rakete getauscht, die denFall-
schirm im Notfall aus demRumpf zieht.
Zudem muss dieser je nach Hersteller
und Typ meist alle fünf bis sechsJahre
ausgebaut und neu gepackt werden, da-
mit seine Stoffbahnen nicht miteinan-
der verkleben. Der Lebensretterkos-
tet in einem Ecolight je nachTyp und
Hersteller etwa 3500 bis 6000 Franken.
Allerdings sind mehr als 20 000Franken
fällig, wenn er für einenViersitzer nach-
gerüstet werden soll.Dasgeht bis jetzt
nur bei den in der Schweiz weit verbrei-
teten Modellen Cessna172 und182 und
einigen Selbstbauflugzeugen,nicht aber
bei der ebenfalls populären PiperPA-28.
Der Fallschirm ist allerdings keinAll-
heilmittel für jede Notlage.Fliegt das
FlugzeugbereitszutiefüberdemBoden,
etwaimLandeanflug,reichenjenachTyp
die Höhe oder die Zeit womöglich nicht
mehr aus, ihn vor demAufprall zu ent-
falten.Auch wenn das Flugzeug schnel-
ler fliegt als die zulässige Geschwindig-
keit,für die einRettungssystem zugelas-
sen ist, kann es zu einemVersagendes
Schirmskommen. Dennoch sind Ge-
samtrettungssysteme in einmotorigen
Propellerflugzeugen mittlerweile welt-
weit Lebensretter Nummer eins.

In Norwegen haben alle vierPersonen anBord die Landungmit Fallschirm nachMotorausfall unverletztüberlebt. BILD: ACCIDENT INVESTIGATION BOARD NORWAY


Bevor der Schirm


auss chiesst,


überprüft vorher


der Bordcomputer,


ob Fluglage und


Geschwindigkeit das


tatsächlich zulass en.


DerVision-Jet ist der erste Business-Jet mit integriertemFallschirmsystem. BILD: PD
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