Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

6INTERNATIONAL Freitag, 15. November 2019


Lula mischt Brasilien auf

Der freigelassene Ex-Präsident erweckt die Opposition aus ihrer Starre


THOMAS MILZ, RIO DEJANEIRO


Er ist wieder da. Die politische Urge-
walt Luiz Inacio Lula da Silva hat die
brasilianischen Medien seit seiner Haft-
entlassung amFreitag wieder fest im
Griff. Der 74-jährige ehemalige Ge-
werkschaftsführer und einstige Präsi-
dent (2003–2010) wirkt bei seinen viel
beachtetenAuftritten drahtiger als vor
seiner Inhaftierung imApril 2018. In sei-
ner 15 Quadratmeter kleinen Zelle habe
er auf einemLaufband den Ärger weg-
gejoggt, heisst es. Nun spüre er «nichts
als Liebe», wolle wieder heiraten und
seine Unschuld beweisen.


Frontalattacke gegenRegierung


Ganz scheint der Ärger allerdings nicht
verflogen zu sein. Lula greift dieRegie-
rung desRechtspopulistenJair Messias
Bolsonaro frontalan. Den neolibera-
len Wirtschaftsminister und «Chicago-
Boy»Paulo Guedes hat er wegen des
geplantenVerkaufs von Staatsbetrie-
ben und der Beschneidung von Sozial-
und Arbeitnehmerrechten als «Zerstö-
rer vonTräumen und Arbeitsplätzen»
kritisiert. Sergio Moro, der Lula 20 17
verurteilt hatte und heuteJustizminis-
ter ist,bezeichnete derFreigelassene gar
als «Kanaille». Er werde beweisen, dass
Moro und die Staatsanwaltschaft eine
kriminelleVereinigung seien, die ihn zu
Unrecht ins Gefängnis gebracht hätten,
versprach Lula.


Die grösste Breitseite schoss der
Wortgewaltige aber auf Bolsonaro ab.
Dieser sei gewählt, um für das brasilia-
nischeVolk und nicht für die paramili-
tärischen Milizen in Rio deJaneiro zu
regieren. Dem Präsidenten und seinen
Söhnen werdenVerbindungen zu den
Milizen in Rio nachgesagt – und zu den
mutmasslichen Mördern der im März
2018 erschossenen Stadträtin Marielle
Franco. Lula forderte eine rigorose
Untersuchung.Auchmögemanschauen,
ob dieFamilie Bolsonaro ihre zahlrei-
chen Immobilien legal erworben habe.
Einen solchenRundumschlag hatte
sich kein Oppositionspolitiker bisher
getraut. Und natürlich erzeugt Lula ein
Medienecho wiekein anderer linker
Politiker. Angesichts von zweiVerur-
teilungen wegenKorruption und Geld-
wäscherei und nochsieben anstehen-
den Prozessen hat er wenig zu verlie-
ren. SeineFreilassung verdankt er dem
Obersten Gericht, das bei derFrage, ab
wann einVerurteilter seine Haft antre-
ten muss, die eigene Entscheidung von
2016 revidierte. Lula weiss, dass die
Richter wie Seismografen die Stimmung
in der Bevölkerung aufnehmen.
So setztLula weiter auf diePolarisie-
rung zwischen seiner Arbeiterpartei PT
(Partido dosTrabalhadores) und Bolso-
narosLager. Er will die Linke und die
übrige bisher wie gelähmt erscheinende
Opposition hintersich vereinen.Dabei
gilt es zu vermeiden, dass sich «ein drit-
ter Weg» im Zentrum bildet.Je klarer

die Schützengräben zwischen ihm und
Bolsonaroverliefen, desto grösser seien
die Chancen für ihn, 2022 wieder Präsi-
dent zu werden, glaubt er.

EntscheidüberStrategie


EineähnlicheStrategieistimWahlkampf
2018 jedoch gescheitert. Der für den in-
haftiertenLulaeingesprungenePT-Kan-
didatFernando Haddadkonnte Bolso-
naronicht stoppen. Denndem PT und
LulahaftendieKorruptionsskandaleder
letztenJahre an. Bolsonarokönnte nun
die altenKorruptionsgeschichten neu
aufkochen und so vom Comeback sei-
nes Erzfeindes Lula profitieren.
Auf Lulas Ankündigung, demnächst
seine Karawanen durch dasLand wie-
der aufzunehmen,drohte Bolsonaro mit
der Anwendung eines aus der Diktatur-
zeit stammenden Sicherheitsgesetzes.
Man werde verhindern, dass Lula sozia-
les Chaos wie derzeit in Chile anrichte.
Einen offenen Schlagabtausch über in-
haltlicheFragenmit dem eloquenteren
Lula vermeidet Bolsonaro aber.Wahr-
scheinlich will er a bwarten, welche
Macht Lula überhaupt noch hat.Denn
auch im linken Lager regt sich längstWi-
derstand gegen LulasAlleinvertretungs-
anspruch. Zwischen dem 22. und dem


  1. November wird der PT über seine
    Strategie für dieKommunalwahlen 2020
    entscheiden.Da dürf te sich zeigen, ob
    die Partei noch geschlossen hinter ihrem
    Gründer Lula steht.


Spaniens Königspaar auf


heissem Pflaster in Kuba


Die Stärkun g der bilateralen Beziehungen umstritten


PETERGAUPP,SAN JOSÉ DE COSTA RICA

König Felipe VI.und Königin Leti-
zia von Spanien weilen dieseWoche
zu einem offiziellen Staatsbesuch auf
Kuba, dem ersten in demLand, das
als letzte spanischeKolonie in Ame-
rika 1898 die Unabhängigkeit erlangte.
Zwar warFelipes Vater Juan Carlos zu-
vor schon zweimal in Havanna gewesen,
so zum9. Iberoamerikanischen Gipfel-
treffen imJahr 1999, doch seine Besu-
che hattenkeinen bilateralen Charakter.
Eine veritable Staatsvisite war undenk-
bar unter dem langjährigenkonservati-
ven RegierungschefJosé Maria Aznar,
der auch die EU zur Distanz gegenüber
dem Castro-Regime anhielt.

500 Jahre Havanna


Nun findet der mehrmals geplante
und wieder verschobene Staatsbesuch
zum 500.Jahrestag der Gründung von
Havanna statt. Am Höhepunkt der
Feierlichkeiten am Samstag wird das
spanischeKönigspaar allerdings nicht
mehr dabei sein; die wahrscheinliche
Begegnung mit den MachthabernVene-
zuelas,Nicolás Maduro, und Nicaraguas,
Daniel Ortega, schien auch der sozialis-
tischenRegierung in Madrid,die für das
Reiseprogramm des Monarchen verant-
wortlich ist, nichtratsam.
Nicht voraussehbar war,dass der
Staatsbesuch in der letztenkommunis-
tischenBastion der westlichen Hemi-
sphärefast mit den jüngstenWahlen in
Spanien zusammenfiel und deshalb zum
Wahlkampfthema wurde. Es sei eine
Schande, erklärte der Chef deskonser-
vativenPartidoPopular, Pablo Casado,
dass der sozialistische Ministerpräsident
Pedro Sánchez denKönig zum Besuch
einer Diktatur zwinge. Auch in kubani-
schen Exilkreiseninden USAstiess die
Visite auf Kritik.
SpaniensAussenministerJosep Bor-
rell und der Sprecher desKönigshauses
hingegen unterstrichen den institutio-
nellen und kulturellen Charakter des
Besuchs. Historische und aktuelle Be-
rü hrungspunkte gibtes reichlich, und
auf Kuba leben mindestens 150000
spanische Bürger (meist mit doppelter
Nationalität), von denen rund 1000 zu
ein em Treffen mit demKönig eingela-
den wurden. SpaniensAusfuhren nach
Kuba summieren sich auf etwa eine
Milliarde Euro proJahr, so viel wie jene
aller übrigen EU-Länder zusammen-
genommen.

KeinTreffen mit Dissidenten


Politisch heikle Aspektekonnten den-
noch nicht ausgeblendet werden. Zum
einen war dieFrage,wie sich derKönig
gegenüber der unterdrückten Opposi-
tion verhalten und zu denFreiheitsrech-
ten aufKuba äussern würde. Dem Bei-

spiel von mehreren spanischenRegie-
rungschefs folgend, traf sich König
Felipe – anders als der amerikanische
PräsidentBarack Obama 2016 – ni cht
mit Dissidenten, sondern nur mit ausge-
suchtenVertretern des vomRegime ge-
duldeten Privatgewerbes, unabhängiger
Internetmedien und des kubanischen
Kulturlebens.
Am Diner, welches dasKönigspaar
am Mittwoch zu Ehren der kubanischen
Gastgeber gab, wurdeFelipe so deutlich,
wie das für einen über derPolitik ste-
hendenkonstitutionellen Monarchen
in diplomatischenWorten wohl mög-
lich ist. Die Menschenrechte würden in
einer Demokratieam bestenverteidigt,
sagte er; staatliche Institutionen soll-
ten die vielfältigeRealitätrepräsentie-
ren und dieRechte der Bürger, darunter
die Meinungs- undVersammlungsfrei-
heit , respektieren. In Spaniensei dies
mitder Verfassung von1978 verwirk-
licht worden.
Kubas Staatspräsident Miguel Dí-
az-Canel nahm die Mahnung gelassen
und erwiderte, sein Land entscheide aus
eigenemWillen unabhängig und souve-
rän über Rhythmus undReichweite von
Reformen.Dabei sei es wichtig, auf die
Begleitung echterFreunde wie der Spa-
nier zählen zukönnen.

Seitenhiebe gegenTrump


Felipe selbst hatte eingeräumt, dass
Veränderungen nicht von aussen aufge-
zwungen werden sollten.Dies kam einer
Schelte der von PräsidentTrump nach
demTauwetter unter Obama wieder
verstärkten Embargo- und Isolations-
politik gegenKuba gleich, die Díaz-Ca-
nel verdankte.Von den Sanktionen sind
auch über 250 auf der karibischen Insel
tätige spanische Unternehmen,darunter
Fluggesellschaften undBanken,betrof-
fen. Die Reaktivierung des Helms-Bur-
ton-Gesetzes, das Klagen in den USA
gegen indirekte Nutzniesser von Ent-
eignungen nach der kubanischenRevo-
lution von1959 zulässt, bringt insbeson-
dere spanische Hotelketten wie Meliá
in Schwierigkeiten. In Havanna logierte
das Königspaar in einem Luxushotel
der Iberostar-Kette, die ebenfalls auf
Washingtons schwarzer Liste steht,
weil sie in einemJoint Venture mit dem
wirtschaftlichen Arm der kubanischen
Streitkräfte operiert.
Solidarität bekundeteKönig Felipe
auch mit den zahlreichen vor allem
kleinen und mittleren spanischenFir-
men,die laut spanischenMedien wegen
Zahlungsrückständen von insgesamt 350
Millionen Euro ihrer zum Staatssektor
gehö renden kubanischenKunden in
Schwierigkeiten stecken. Die Devisen-
einnahmen desRegimessinken wegen
des amerikanischen Embargos, eine
Lösung für die Gläubiger ist deshalb
kaum in Sicht.

Dercharismatische Ex-Präsident vermag nochimmer zu begeistern. Ob das für ein politisches Revivalreicht? SEBASTIAO MOREIRA / EPA


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