Neue Zürcher Zeitung - 15.11.2019

(Ann) #1

60 REISEN Freitag, 15. November 2019


BILDERSAMUEL HERZOG

Alle waren sich einig, das s es sich


bei der Ruine des Generalštab


um ein Monument handle,


eine Erinnerung an die Tage


der Bombardi erung. Nur wofür


steht es genau? Oder wogegen?


EN ROUTE


Fünf vor zwölf

Belgrad (Serbien), Nemanjina-Strasse
Donnerstag, 31.Oktober 2019

Mit einer elegantenGeste schwingtsich
die aschblonde Schönheit die Gucci-
Handtasche über den linken Unterarm,
holt mit derRechten aus und haut ihrem
Gegenüber einen solchen Klatsch insGe-
sicht, dass dieses vor Schreck den Motor-
radhelm fallen lässt. Dann dreht sie sich
um und stolziert auf ihren rosaroten
Highheels davon.Der junge Mann bleibt
fassungslos stehen.Wenige Schritte von
ihm entfernt warten drei ältere Ladys auf
ihren Bus, mit offenem Mund starren sie
den Geohrfeigten an.Sekunden steht das
Quartett wie eingefrore n da.Aus Osten
nähert sich eine Ambulanz unter Sire-
nengeheul. Endlich tritt ein etwa acht-
jähriges Mädchen dazu, hebt den Helm
auf und drückt ihn dem Mann in die
Hand. Der lächelt verlegen und entfernt
sich mit schnellen Schritten, den Blick
fest auf den Boden geheftet.
Ein grünesTram der Linie 3 klap-
pert die Nemanjina-Strasse hinunter in
RichtungBahnhof. Mitten auf der Kreu-
zung mit der Kneza Miloša, an deren
nördlicher Ecke ich stehe, streckt der
Chauffeur kurz denKopf aus demFens-
ter und spuckt aufs Pflaster. Er grinst
mich an, als hätte er für mich ge-
spuckt, und schon ist er meinem Blick
ent ratt ert. AlleTrams fahren hier zwi-
schen zwei markanten Gebäuden hin-
durch, die wieTreppen beiderseits der
St rasse zehn Stockwerke hoch in den
Himmelragen. DieseTreppen sindTeil
der Zgrada Generalštaba, eines moder-
nistischen Gebäudekomplexes, den der
serbische Architekt Nikola Dobrovic
1957 bis1965 errichten liess – imAuf-
trag vonTitos Volksarmee.Dobrovic
selbst lehrte die Belgrader, seinenBau


als Erinnerung an die Sutjeska-Schlacht
zu sehen, in derTito und seineParti-
sanen1943 mit knapper Not einer ge-
waltigen Übermacht deutscher Solda-
ten entkommenkonnten. Die Neman-
jina, benannt nach dem Begründer des
Serbenreiches, wurde so zum Fluss Sut-
jeska, die abgestuften Gebäude zu sei-
nen steilenUfern.
Als die Nato das Gebäude1999 mit
Raketen beschoss, hatte sie wohl vor
allem dessen symbolische Bedeutung als
Hauptquartier imVisier, denn die Gene-
räle waren längst evakuiert worden –
im Unterschied zu denJournalisten
der RTS (RadioTelevision Serbia), die
man zumVerbleib in ihrem Medienturm
zwan g, obwohl der ebenfalls zu den Zie-
len der Nato gehörte. «Man sollte das
ga nze Ding einfach abreissen», sagt ein
Verkehrspolizist, der mich beobachtet,
wie ich Details der grossenRuine foto-
grafiere: Armierungseisen, die sich wie
Medusenhaare in die Luft krümmen,
Holzschränke, Türenund Täfer,elektri-
sche Leitungen, Lüftungsschächte.
Jetzt heben sich die Buchstaben
ODBRA auf der beschrifteten Blache,
die um das Erdgeschoss derRuine ge-
legt ist.Ein Mann in schlotternden Klei-
dern kriecht darunter hervor, schwankt
über dasRasenstück,an den vertrockne-
ten Thujabäumchen vorbei, torkelt über
die Strasse, legt sich auf einerBank in die
Sonne und schläft sofort ein. Es scheint
doch illegale Bewohner derRuine zu ge-
ben, obwohl das Gebiet unterstrenger
Beobachtung steht:Von meinem Stand-
platz aus kann ich 7Wachtposten und 48
Übe rwachungskameras zählen.
Ein grünesTram mit der Nummer 9
ruckelt über die Kreuzung.Auf seiner
Flanke steht «BVB –Basel erfahren»


  • u nd darüber: «Switzerland and the


City ofBasle greet Belgrade.»Jetzt ver-
steh e ich plötzlich auch das eigentüm-
lich e Gefühl, das mich an diesem Ort
beschleicht. Es sind die typischenTrams
meinerJugend inBasel,die auf Belgrads
Schienen unterwegs sind. Und in dieser
Jugend gab es ein katastrophales Ereig-
nis in der Stadt, das sich in seiner Be-
drohlichkeit mit einer Bombennacht in
Belgrad vergleichen lässt:den Gross-
brand vom1. November1986 im Indus-
triegebiet Schweizerhalle, der die ganze
Region in denAusnahmezustand ver-
setzte – Sirenen,Polizeiautos mitLaut-
sprechern,Fenster schliessen, Radio
hören...Ges tern hat mir eine Belgrade-
rin erzählt, wie verwandelt die Bewoh-
ner der Stadt nach diesen Nato-Angrif-
fen waren,wie warm und freundlich,wie
weich und zärtlich man plötzlich mitein-
ander umging. Ganz genau gleich habe
ich es auch aus denTagen nach Schwei-
zerhalle in Erinnerung – als seien wir
uns plötzlich bewusst geworden,dass wir
eine Schicksalsgemeinschaft sind.
Neben mir hält ein kleinesAuto, das
Fenster geht hinunter, und ein Mann mit
asiatischen Gesichtszügen und schlech-
ten Zähnen streckt eine Kamera mit
einem wuchtigen Objektiv heraus, rich-
tet es auf dieRuinen. Der zerbombte
Generalštab ist auch beiTouristen eine
Attraktion.Warum man das Gebäude
seit zwanzigJahren in diesem Zustand
belässt, warum man es weder saniert
noch abreisst, konnte mir niemander-
klären – aber alle waren sich einig, dass
es sic hbei derRuine um ein Monument
handle, eine Erinnerung an dieTage der
Bombardierung. Nur wofür steht es ge-
nau? Oder wogegen?
Hoch über dem Eingangsbereich des
Generalštab, der noch einigermassen in-
takt ist, entdecke ich auf dem Gesims

eines neoklassizistischen Gebäudes eine
in Stein gemeisselte Szene, die der Ludo-
visi- Gruppe nachempfunden ist–einer
berühmten, hellenistisch-römischen
Skulptur, die einen Gallier zeigt, der
seineFrau und sich selbst niedersticht,
um so Gefangenschaft und Sklaverei
zu entgehen. «Ist der Generalštab viel-
leicht ein Anti-Nato-Monument?», habe
ich denTaxifahrergefragt, der mich hier
abgesetzt hat. Doch der hat entsetzt die
Hände verworfen: «Nein, nein!»
«Nein» sagen auch die zwei Herren
mit Sonnenbrille, die ein paar Schritte
vor mir auf Campingstühlen sitzen. Sie
protestieren gegen einen geplanten Stau-
see in der Gegend vonValjevo, der die
Überflutung einer orthodoxen Kirche
zur Folge hätte. Einer trägt das Gewand
einesPopen und zerkrümelt Brot, das
ihm dieTauben aus der Hand fressen.
Die Tiere ha ben es gut hier, denn der
Generalštab bietet ihnen sichere Nist-
plätze en masse. Nur im südlichen Ge-
bäudeteilkönnen siederzeit nicht lan-
den, denn die ganzeLängsflanke ist mit
einer gigantischen Plane abgedeckt, die
Frauen für den Dienst in der serbischen
Armee anwirbt:«Wer keineAngstkennt,
der kennt auchkeine Grenzen», steht da
über denKöpfen einer Soldatengruppe
geschrieben.AnvordersterFrontsalutiert
eine adrette Offizierin mit olivgrünen
Augen und einer fein geschwungenen
Nase von der Grösse eines Indianertipis.
Ihr Blick scheint aufgoldenenDekor ge-
richtet,derzwischendenLaternenaufder
KnezaMiloša baumelt. Im Zentrum der
Ranken strahlen gläserne Uhren, alle
Zeiger aber stehen still, alle auf fünf vor
zwölf.Vielleicht steht zum Mittag wieder
eine Ohrfeige an. Nur:Werwirdsie aus-
teilen? Und wen wird sie treffen?
SAMUEL HERZOG

2Kilometer NZZ Visuals/efl.

Generalštab

BelgradBelgrad

Donau

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