Die Welt Kompalt - 11.11.2019

(nextflipdebug5) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,11.NOVEMBER2019 FORUM 15


R


echt und Gerechtigkeit sind nicht dassel-
be. In Katalonien kam es unlängst zu
lautstarken Protesten wegen eines Straf-
urteils, das ein Gericht nach einem
scheußlichen Verbrechen gefällt hatte:
Junge Männer, die sich an einer nach Drogen- und
AAAlkoholkonsum bewusstlosen 14-Jährigen vergangenlkoholkonsum bewusstlosen 14-Jährigen vergangen
hatten, wurden wegen sexuellen Missbrauchs, nicht
aaaber wegen Vergewaltigung verurteilt. Die Strafen fürber wegen Vergewaltigung verurteilt. Die Strafen für
fffünf der sieben Angeklagten – zwischen zehn undünf der sieben Angeklagten – zwischen zehn und
zzzwölf Jahren – fielen zwar nicht gerade milde aus.wölf Jahren – fielen zwar nicht gerade milde aus.
VVVergewaltigung aber hätte mit Freiheitsentzug bis zuergewaltigung aber hätte mit Freiheitsentzug bis zu
2 0 Jahren bestraft werden können. Die Gesetzeslage
ließ dies jedoch nicht zu. Die Täter hätten dazu ihr
Opfer gewaltsam oder durch Einschüchterung gefügig
gemacht haben müssen. Ein bewusstloses Opfer kann
nach spanischem Recht nicht vergewaltigt werden.
Der Rechtsunkundige mag einwenden, die Wehr-
losigkeit einer Minderjährigen auszunutzen, um sich
reihenweise an ihr zu befriedigen, sei doch noch ver-
werflicher als eine „normale“ Vergewaltigung, bei der
dem Opfer vielleicht noch eine geringe Möglichkeit
des Entkommens, des um Hilfe Rufens oder der ro-
busten Abwehr bleibt. Wenn sich eine ganze Gruppe
junger Männer über ein Mädchen hermacht: Wird es
dann nicht noch mehr gedemütigt, zum ohnmächtigen
Sexobjekt degradiert angesichts der Übermacht der
Täter? Kriminologen sagen, eine solche Tat hinterlasse
beim Opfer noch schlimmere psychische und physi-
sche Schäden als der Übergriff eines Einzeltäters.


eim Opfer noch schlimmere psychische und physi-
che Schäden als der Übergriff eines Einzeltäters.

eim Opfer noch schlimmere psychische und physi-

In Deutschland trug man dieser Erkenntnis 2016
mit einer Reform des Sexualstrafrechts Rechnung.
So gilt etwa der sexuelle Missbrauch widerstands-
unfähiger Personen seither als Vergewaltigung. Eine
Frau muss auch nicht mehr Hämatome oder Abwehr-
verletzungen vorweisen, will sie eine Vergewaltigung
geltend machen. Es genügt, dass der Täter gegen
ihren Willen gehandelt hat („Nein heißt nein“).
WWWas in der Theorie eingängig klingt, bereitet inas in der Theorie eingängig klingt, bereitet in
der Praxis allerdings Probleme. Denn irgendeines
Belegs, dass die Frau den Sexualkontakt nicht wollte
und der Täter dies auch erkennen konnte, bedarf es


nach wie vor. Kein Problem, wenn eine Frau von
einem Wildfremden überfallen und vergewaltigt
wird. Da wird kaum jemand auf die Idee kommen zu
sagen, das Opfer sei damit womöglich einverstanden
gewesen. Doch was ist, wenn eine Frau nach einer
Party mit einer Zufallsbekanntschaft aufs Hotel-
zimmer geht und am nächsten Morgen verkatert
fffeststellt, dass der Abend eigentlich doch anderseststellt, dass der Abend eigentlich doch anders
geplant war? Wie soll sie ihr spätes Nein dann plausi-
bel machen? Der Paradefall Gina-Lisa Lohfink, mit
dem der damalige Justizminister Heiko Maas die
Gesetzesreform propagieren wollte, ging bekanntlich
gründlich daneben.
KKKürzlich zitierte der Kriminologe Christian Pfeif-ürzlich zitierte der Kriminologe Christian Pfeif-
fffer in einem Interview mit der „FAZ“ eine repräsen-er in einem Interview mit der „FAZ“ eine repräsen-
tative Umfrage unter 5000 Frauen, wonach viele
Befragte daran gezweifelt hätten, dass sie, falls sie
den Mann anzeigten, „mit ihrer Sicht der Dinge

Das Strafrecht


kommt nicht mehr mit


In Spanien geht der


Prozess um eine


Gruppenvergewaltigung


mit einem vergleichsweise


milden Urteil zu Ende.


Auch hierzulande nehmen


neue Formen der Gewalt zu.


Und die Richter finden darauf


keine adäquate Antwort


GISELA FRIEDRICHSEN

ESSAY


durchdringen“ würden. Pfeiffer spricht von einer
hohen Dunkelziffer und davon, dass nur eine von 100
VVVergewaltigungen in Deutschland auch verurteiltergewaltigungen in Deutschland auch verurteilt
werde. Es ist wohl eine Glaubenssache, wie hoch
diese undefinierbare Zahl angesetzt wird. Bei der
Polizei heißt es, seit der Reform gebe es zwar mehr
Anzeigen, die Zahl der Verurteilungen habe sich
jedoch nicht merklich erhöht. Dies liegt anscheinend
tatsächlich an der speziellen „Sicht der Dinge“ der
Betreffenden, der die Strafverfolger nicht immer
Glauben schenken (können).
In Freiburg steht gegenwärtig eine Gruppe junger
Männer – zehn syrische Migranten und ein Deut-
scher – vor Gericht, die eine durch Psychodrogen
außer Gefecht gesetzte junge Frau vergewaltigt ha-
ben sollen. Hier reicht das Ausnutzen der hilflosen
Lage der Nebenklägerin, um die Tat, so sie denn wie
angeklagt stattgefunden haben sollte, als Vergewalti-
gung einzustufen. Fraglich jedoch ist, ob jeder ein-
zelne Angeklagte, selbst zum Teil zugedröhnt und/
oder betrunken, dies jeweils auch erkannte. Für das
Gericht eine schier unlösbare Aufgabe, hier zu ent-
scheiden, da die Aussagen der jungen Frau ebenso
wie die der Angeklagten oder auch so mancher Zeu-
gen widersprüchlich und vor allem von auffallend
vielen Erinnerungslücken geprägt sind.
Das Problem sei das geltende Strafrecht, heißt es
in Spanien. Die Zeitung „El País“ berichtet, mitt-
lerweile werde eine Änderung des entsprechenden
Artikels im Strafgesetzbuch gefordert, wonach „jede
sexuelle Beziehung ohne Einwilligung als Vergewalti-
gung behandelt wird“. Schon mehr als 300.000 Per-
sonen hätten eine Petition an das Justizministerium
unterschrieben. Doch was ist eine „sexuelle Bezie-
hung“? Ein unerwünschter Kuss, eine Berührung? Da
wwwürde das Kind wohl mit dem Bade ausgeschüttet.ürde das Kind wohl mit dem Bade ausgeschüttet.
Gruppenvergewaltigungen nehmen in letzter Zeit
auch in Deutschland zu. Kann es sein, dass junge
Leute heute, verdorben durch den frühen Konsum
von Pornografie, ein mechanistisches Bild von Se-
xualität haben, sodass sie ausprobieren und nach-
machen wollen, was das Internet gleichsam als Nor-
malität anbietet: eine Frau mit mehreren Männern,
von vorn, hinten, oben, unten und so fort, jedenfalls
egal mit wem? Der Eindruck drängt sich auf, dass das
Strafrecht mit einer sich rapide und tiefgreifend
verändernden Welt nicht mehr mitkommt und dass
es jene Delinquenten nicht erreicht, die heute zuneh-
mend die Anklagebänke drücken. Noch muss jedem
Angeklagten zum Beispiel eine konkrete Tat oder ein
genau umrissener Tatbeitrag nachgewiesen werden.
Bei manchen Straftaten, etwa einer Gruppenver-
gewaltigung, eine geradezu illusorische Forderung.
Müsste hier nicht jedem Angeklagten vorgehalten
werden: „Dabei durfte man nicht mittun!“ – so wie
ein Lüneburger Gericht es dem greisen Oskar Grö-
ning vorhielt, als dieser sich wegen seiner Tätigkeit
als SS-Mann in Auschwitz verantworten musste? Er
wwwurde ohne Nachweis einer genau bestimmbarenurde ohne Nachweis einer genau bestimmbaren
strafbaren Handlung wegen Beihilfe verurteilt, weil
er mitgemacht hatte. Auch die Freiburger Tat konnte
nur geschehen, weil viele mitgemacht haben oder
mitgemacht haben sollen. So mancher für sich allein
hätte das Mädchen vielleicht in Ruhe gelassen oder
Hilfe geholt. Aber in der Gruppe entwickelt sich eine
eigene Dynamik. Da will man nicht abseitsstehen.
Messerstechereien? Sogenannte Ehrenmorde?
Hass und Hetze gegen Andersdenkende? Was früher
höchstens selten vorkam – heute passiert es tag-
täglich. Richter haben über Straftaten zu richten,
begangen aus roher antisemitischer oder rechts-
extremer Gesinnung, die in dieser Ausprägung und
in diesem Ausmaß vor wenigen Jahren noch undenk-
bar waren. Sie müssen über Sklaverei und stein-
zeitlich anmutende Straftaten in Syrien verhandeln,
die kaum aufzuklären sind. Sie haben mit Angeklag-
ten zu tun, darunter nicht nur Migranten, sondern
ebenso Bio-Deutsche, die unser Menschenbild und
unsere Werte nicht achten und denen die rechts-
staatlichen Prinzipien lächerlich vorkommen. Dazu
fffehlen – wie in Spanien – bisweilen die geeignetenehlen – wie in Spanien – bisweilen die geeigneten
Instrumente. Das Recht, heißt es, halte eine Gesell-
schaft zusammen. Aber dieses Recht muss dann
dieser neuen Gesellschaft auch entsprechen.

In Madrid protestieren Frauen gegen ein aus ihrer Sicht zu mildes Urteil im Fall einer vergewaltigten 14-Jährigen


LIGHTROCKET VIA GETTY IMAGES

/ MARCOS DEL MAZO
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