Die Welt Kompalt - 11.11.2019

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22 KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,11.NOVEMBER2019


A


ls „Arthur or The De-
cline and Fall of the
British Empire“ im
Herbst 1969 erschien,
schrieb der Kritiker Greil Mar-
cus im „Rolling Stone“, die
Beatles hätten doch noch eini-
ges zu tun, um solche großarti-
gen Alben aufnehmen zu kön-
nen. Damals waren The Kinks
die beste Band im Königreich.
Ray Davies schrieb und sang
seine humorvollen Sozialstudi-
en. Sein Bruder Dave spielte auf
der Gitarre heitere Melodien.
„Arthur“war ein Singspiel zur
Geschichte Großbritanniens
über einen armen Arbeiter, der
nach Australien emigrierte. 50
Jahre später wirkt das Schlüs-
selwerk der sogenannten Eng-
lishnesswie ein Konzeptalbum
zum Brexit. Anlässlich der kom-
mentierten Neuauflage spricht
Ray Davies ausnahmsweise ein-
mal über seine alte Band, seine
Musik und seine Heimat. Es
gibt Tee.


VON MICHAEL PILZ

WELT:WWWas hat Sie vor 50 Jah-as hat Sie vor 50 Jah-
ren in London dazu bewogen,
ein Album über den Aufstieg
und Fall des britischen Impe-
riums aufzunehmen?
RAY DAVIES:Sie wollen jetzt
sicher hören, dass sich das eng-
lische Elend von heute damals
schon angedeutet habe. Viel-
leicht hat es das sogar. „Arthur“
handelt von der Generation vor
meiner Generation. Unsere Vä-
ter waren im Krieg gewesen. In
den späten Sechzigern kamen
wir dann. Wir haben uns gegen
die Kriegsgeneration gestellt,
das war in Deutschland nicht
anders. Wenn ich mich recht er-
innere, waren es aber auch die
sogenannten Swingin‘ Sixties.
Großbritannien kam sich wie-
der ganz schön groß vor.


Dass man „Arthur“ heute nur
als prophetischen Abgesang
auf das Königreich hören
kann und nicht einfach als
historische Pop-Operette,
liegt daran, dass wir die Ge-
schichte immer vom Ende her
erzählen? Von „Arthur“ zum
Brexit?
Am Ende ist man immer klüger
als am Anfang – nein, vielleicht
nicht immer. Aber wie hätte ich
den Wahnsinn der globalen Fi-
nanzmärkte vorhersehen kön-
nen? Die gewissenlosen Mana-
ger, die das Land ruiniert ha-
ben? Die neoliberale Wirt-
schaftspolitik? Der Aufstieg
fand unter Königin Victoria
statt, im 19. Jahrhundert. Da-
von haben schon meine Eltern,
sie waren arme walisische Ar-
beiter, nichts mehr gehabt, ge-
schweige denn die jamaikani-
schen Einwanderer nach dem
Weltkrieg. Ironischerweise
wurden die Konflikte der spä-
ten Sechzigerjahre von uns
fröhlich übertönt, von den
Kinks und den Beatles. Dann
kamen die Siebziger, die Ölkri-
sen, die politischen Brüche. Die
Musik, die wir gemacht haben,
so gescheit und engagiert sie


auch gewesen sein mochte, hat
das nicht herausgearbeitet,
sondern verschleiert. Das ist
die ewige Tragik der politi-
schen Popmusik.

Arthur, der Held Ihrer Ge-
schichte, wandert mit seiner
Familie aus Großbritannien
aus. Er geht nach Australien,
das bei Ihnen als Amerika des


  1. Jahrhunderts beschrieben
    wird, als neue, bessere Welt.
    Arthur war der Mann meiner äl-
    teren Schwester Rosie, ihr Sohn
    Terry, mein Cousin, war so alt
    wie ich. Ich war todtraurig, als
    sie nach Australien verschwan-
    den.


Rosie aus „Rosie Won‘t You
Please Come Home“von Ih-
rem Album „Face to Face“ von
1966 war Ihre Schwester?
So einfach kann ein Popsong
sein. In Australien gab es Arbeit
für Rosie und Arthur. Die Über-
fahrt war für zehn Pfund pro
Nase zu haben. Das war‘s.

In einem Lied besingen Sie
das winzige Häuschen ihres
Schwagers im Londoner Nor-
den als „Shangri-La“. In
James Hiltons legendärem
englischen Roman „Der verlo-
rene Horizont“ von 1933 ist

dieses Shangri-La der Sehn-
suchtsort schlechthin.
Mir eilt ja ein gewisser Ruf vo-
raus, man hält mich für recht
sarkastisch. In Deutschland
versteht man das nicht?

Doch, doch. Sie besingen Ar-
thur als kleinen Mann mit
großen Hypotheken.
Er ist frei von allen Illusionen,
was sein Leben im Vereinten
Königreich betrifft. So schlecht
kann es nirgendwo anders sein.
Er will nur noch weg.

Heute sehnen sich die Briten
seltsamerweise nach einem
britischen Shangri-La. Nach
einem fantastischen Reich, in
dem sich die viktorianischen
Zeiten mit den Nachkriegs-
jahren zu einer behaglichen
Vergangenheit vereinen.
„Victoria“, der große Hit vom
Album „Arthur“, könnte die
Hymne dazu sein.
Meine Tochter, die vor 50 Jah-
ren zur Welt kam, heißt übri-
gens Victoria. Das nur am Ran-
de. Nichts ist so närrisch wie
die imperialen Träume der Bre-
xiteers in Zeiten des Internets
und der globalen Geldströme.
Für den Bergarbeiter wird sich
keine Kohlengrube mehr öff-
nen. Es wird auch in Deutsch-

land keine neue Autobahn mehr
geben, auf der eine glorreiche
Nation errichtet wird, und auch
kein neues Wirtschaftswunder.
Aber die Brexiteers glauben ja
auch an die Macht des Com-
monwealth.

Sie haben immer über das bri-
tische Klassensystem gesun-
gen. In „Dead End Street“
wird die Arbeiterklasse schon
zu viktorianischen Zeiten zu
Grabe getragen.
Die gute, alte Arbeiterklasse. In
„Plastic Man“ arbeitet Arthur
in einer Kunststofffabrik. Im-
merhin hat er da noch Arbeit.

Ein Lied heißt „Mr. Churchill
Says“. Es ist eine verbitterte
Collage der berühmtesten Zi-
tate des großen Kriegspre-
miers. Arthur scheint ihn we-
niger zu schätzen.
Das wundert Sie? Nun, Chur-
chill hat ihn in den Krieg ge-
schickt mit seinen Parolen und
sich als Held feiern lassen für
einen Sieg, der nicht seiner war,
sondern einer der Amerikaner
und Russen. Churchill hätte
auch gern immer weiter Krieg
geführt. Dafür wurde er abge-
wählt, auch von Arthur. Arthur
hat Labour gewählt und ein an-
ständiges Sozialprogramm.

Churchill stand für die alte Gar-
de der herrschenden Klasse und
für ein Land, das nicht mehr Ar-
thurs Land war. Sein Land war
Australien, die abtrünnige ehe-
malige Kolonie.

Die berühmteste Biografie
von Winston Churchill
stammt ausgerechnet von Bo-
ris Johnson, dem Premiermi-
nister, der das Land wohl in
einen mehr oder weniger ge-
ordneten Brexit führen wird.
Ließe sich über ihn ein Lied
schreiben?
Vor drei Jahren habe ich Boris
Johnson bei einem Dinner ken-
nengelernt. Wissen Sie, was er
mich als Erstes gefragt hat? Wie
es wäre, wenn ich ein Lied über
ihn schriebe. Ich habe ihm er-
klärt, dass ich nichts Besonde-
res an ihm erkennen könnte,
worüber es sich lohnen würde
zu schreiben. Und wenn doch,
würde ich es ihn wissen lassen.
Wir haben beide gelacht. Aber
unter uns: Das Lied über Boris
Johnson ist schon geschrieben:
Erinnern Sie sich an „Death of a
Clown“?

Das war doch von Ihrem klei-
nen Bruder Dave. Es war Dave
Davies größter Hit als Solist,
ohne die Kinks, 1967.
Na, hören Sie mal! Der Text
war von mir.

Entschuldigung.
Schon gut. Wo waren wir?

Haben Sie eine schlüssige Er-
klärung für die seltsame Alli-
anz zwischen den Überresten

klärung für die seltsame Alli-
anz zwischen den Überresten

klärung für die seltsame Alli-

der nordenglischen Arbeiter-
klasse und politischen Snobs
der Oberschicht wie Boris
Johnson und Jacob Rees-
Mogg für einen Brexit?
Womöglich sind sie sich näher,
als man denkt. Die rücksichts-
losen Rüpel aus Eton mit ihren
hochgezogenen Augenbrauen,
ihren Jungsklubs und Herrenn-
etzwerken und die rauen Rüpel
in den Pubs der englischen Pro-
vinzen. Man verachtet und be-
wundert einander.

Auf „Arthur“ kommen allerlei
Arthurs zusammen, bis zu-
rück zu König Arthur. Briti-
scher geht es nicht.
Das ist die Ironie der briti-
schen Geschichte.

Und, wenn wir schon beim al-
ten König Arthur und bei ei-
nem neuen Albion, einem
neuen Britannien, sind: Was
wäre der Heilige Gral? Ein
zweites Referendum? Neu-
wahlen?
Wenn ich da doch einmal pa-
thetisch werden dürfte: Wie
wäre es mit einer heiligen Uto-
pie voller zufriedener, empathi-
scher Menschen, die mit Freude
ihrer Arbeit nachgehen? Ein
Empire braucht kein Mensch
mehr, eine Elite schon mal gar
nicht, sondern wieder die Erin-
nerung daran, dass alle Men-
schen gleich sind. Klingt nicht
gerade wie ein Lied der Kinks,
was?

Die Kinks vor 50 Jahren (v.l.):
Dave Davies, Mick Avory,
JJJohn Dalton,ohn Dalton,
Ray Da-
vies

IVAN KEEMAN/ REDFERNS/ GETTY IMAGES/ MEDIENAGENTUR HH

„Das Lied über


Boris Johnson


ist schon


geschrieben“


PA/ EMPICS/ IAN WEST

Das britischste Album aller Zeiten wird


5 0 Jahre alt. Zum Brexit erscheint es


noch einmal neu. Ein Gespräch mit dem


„Kinks“-Sänger Ray Davies über „Arthur


or The Decline and Fall of the British


Empire“ – und das Königreich von heute

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