Die Welt Kompalt - 11.11.2019

(nextflipdebug5) #1

8 POLITIK DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT MONTAG, 11. NOVEMBER 2019


Achiko Ngaya


D


ie Organisation Repor-
ter ohne Grenzen hat
die Behörden in der De-
mokratischen Republik Kongo
dazu aufgefordert, den Journa-
listen Achiko Ngayaumgehend
freizulassen. Ngaya, der als Re-
dakteur für die Zeitschrift
„Nouvelles du Soir“ arbeitet,
war am 21. Oktober dieses Jah-
res festgenommen und mehr-
fach von Polizeibeamten ver-
hört worden.


Laut seines Anwalts wird
Ngaya vorgeworfen, den Ruf der
panafrikanischen Geschäftsbank
Ecobank geschädigt zu haben.
Grund dafür ist womöglich ein
Artikel, den die „Nouvelles du
Soir“ kurz vor Ngayas Verhaf-
tung veröffentlicht hatte und in
dem sich verschiedene Ecobank-
KKKunden über den Service derunden über den Service der
Bank beschwerten. Arnaud Fro-
ger, Chef des Afrika-Büros von
Reporter ohne Grenzen, kriti-
sierte die Verhaftung des Jour-
nalisten scharf. „Kein Journalist
sollte wegen Rufschädigung fest-
genommen werden“, sagte Fro-
ger. Weil das Presserecht in der
Demokratischen Republik Kon-
go seit 1996 nicht mehr refor-
miert wurde, können kongolesi-
sche Journalisten bis heute für
die kleinsten Vergehen verhaftet
werden. Für das Schreiben eines
Artikels, der von einem Gericht
fffür „verräterisch“ befundenür „verräterisch“ befunden
wird, kann sogar die Todesstrafe
verhängt werden.
Auf der Rangliste der Presse-
freiheit von Reporter ohne
Grenzen liegt die Demokrati-
sche Republik Kongo auf Platz
154 von 180 Ländern.


#FreeFree


themhem


all


FFFreeree


them all


In Kooperation mit
REPORTER OHNE GRENZEN


Nach wochenlangen Protesten
in Bolivien hat der umstrittene
Staatschef Evo Morales die Ein-
berufung von Neuwahlen ange-
kündigt. Der linksgerichtete
Präsident verkündete im boli-
vianischen Fernsehen, er werde
„neue nationale Wahlen“ einbe-
rufen und zudem alle Mitglie-
der des Obersten Wahlgerichts
austauschen. Einen Zeitpunkt
für die Wahlen nannte er aber
nicht. Mit seiner Entscheidung
wolle er die Lage im Land beru-
higen, sagte Morales mit Blick
auf die Massenproteste.


Morales kündigt


Neuwahlen an
E


lisaweta Michailowa
packt einen Stapel Un-
terlagen aus einer Tru-
he: vergilbte Amts-
schreiben, alte Familienfotos. Sie
sind das Wertvollste, was die 71-
Jährige besitzt. Denn sie stehen
dafür, dass ihre Geschichte wahr
ist. Und dass es Hoffnung auf Ge-
rechtigkeit gibt. „Es gibt hier kei-
nen Stacheldraht, und doch le-
ben wir wie in der Verbannung“,
sagt die Rentnerin. Ihre Töchter
räumen noch schnell den Tisch
ab. Viel Geld haben sie nicht,
doch wenn Gäste kommen, gibt
es Hühnerbrühe und Teigtaschen
mit Quark.

VON PAVEL LOKSHIN

Es gibt in Russland viele Dör-
fer wie die Siedlung Solotkowski-
Weiche, eingezwängt zwischen
einer Bahntrasse und einem kar-
gen Wäldchen. Hier im Gebiet
Wladimir sechs Autostunden öst-
lich von Moskau stehen viele
Häuser leer. Das Holz ist dunkel
geworden, die Dächer schief. Wer
kann, arbeitet in der Kreisstadt.
Die Straßennamen sind so aus
der Zeit gefallen wie typisch für
die russische Provinz: Sowjet-
straße, Straße der Pioniere, Stra-
ße der Arbeit. Keine ist asphal-
tiert. Nur eine winzige, neu ge-
baute Kapelle erinnert daran,
dass der Kommunismus in Russ-
land gescheitert ist.
Für Michailowa ist diese Ära
allerdings noch immer nicht ab-
geschlossen. Denn der russische
Staat weigert sich, sie dafür zu
entschädigen, was die Sowjetuni-
on ihrer Familie angetan hat.
Über ihren Fall wird das russi-
sche Verfassungsgericht in den
nächsten Wochen entscheiden –
und damit auch über Russlands
Umgang mit seiner kommunisti-
schen Vergangenheit. Michailo-
was Geschichte steht exempla-
risch dafür, wie der russische
Staat Stalin-Opfer behandelt. An
Gedenktagen wird in Zeitungen
und vor den Kameras der Staats-
sender das Unrecht der Stalin-
Zeit angeprangert, auch von
Kreml-Chef Wladimir Putin. An-
sonsten ist es kein Thema. Der
russische Staat spricht lieber
über Stalins Siege statt über sei-
ne Opfer – und das, was ihnen zu-
steht. Die Familie der 71-Jährigen
erlebte in der Sowjetunion Unge-
heuerliches. Ihren Vater, einen
Industriechemiker aus Moskau,
steckte das Regime für acht Jahre
ins Gulag wegen angeblicher
„konterrevolutionärer Umtrie-
be“ – wie mehr als zwei Millionen
andere Sowjetbürger. Die Familie
wurde aus der Hauptstadt ver-
bannt, verlor ihre Wohnung und
durfte nie wieder zurückkehren.
Michailowa kam in Moldawien
zur Welt, damals Sowjetrepublik,
wohin ihre Mutter vor dem
Hauptstadt-KGB flüchtete. Ihr
VVVater starb dort 1974, 1500 Kilo-ater starb dort 1974, 1500 Kilo-
meter südlich von Moskau, ohne
seinen Namen reinwaschen zu
können. Bei allen Jobs in der
Sowjetunion gab man Michailowa
schnell zu verstehen: Wer ihr Va-
ter ist, weiß man. Ein Volksfeind.
„Pass bloß auf, sagte man mir.“

Jede kleinste Verfehlung konnte
sie den Job kosten. Michailowa ist
davon überzeugt, dass ihr wegen
des ihr angetanen Unrechts in der
russischen Hauptstadt eine Sozi-
alwohnung zusteht. Doch Mos-
kaus Sozialbehörden sehen das
anders. Um die Rückkehr in die
Stadt ihrer Eltern kämpft die
pensionierte Zahnärztin seit
mehr als 20 Jahren.
Die letzten noch lebenden Sta-
lin-Opfer und ihre Kinder haben
Anspruch auf rein symbolische
Entschädigungen: umgerechnet
einen Euro pro Monat Gulag-
Haft, einmalig. Für das gesamte
verlorene Eigentum gibt es 140
Euro. Doch zumindest die Rück-
kehr aus der Verbannung, ein Zei-
chen der Wiedergutmachung,
wollte die Duma möglichst
schnell realisieren. Das war der
Grundgedanke des Anfang der
1990er-Jahre verabschiedeten
Entschädigungsgesetzes. Darin
findet sich auch ein Paragraf, der
den Anspruch auf Wohnraum be-
gründet. Dieser Paragraf wird al-
lerdings praktisch nie angewandt.
Heute wohnen Elisaweta Mi-
chailowa und ihre zwei Töchter
Nina und Wlada in einer alten
Bahnarbeiterbaracke mit Ofen-
heizung und ohne Bad. Eine bes-
sere Behausung konnten sie sich
nach ihrem Umzug aus Molda-
wien nicht leisten, von einer
Mietwohnung in Moskau ganz zu
schweigen. Trotzdem ist sie froh,
in der Heimat zu sein und eine
Rente zu haben. „Hier können
wir Russisch reden. In Molda-
wien gehört man nie dazu, egal,
wie gut man Rumänisch spricht.“
Michailowa erzählt, dass sie
zunächst von den Behörden ein
Dokument bekommen musste,
das die Verfolgung ihrer Familie
belegt. Dieser „Nachweis der Re-
habilitierung“ wird nicht auto-

Michailowa hat den Inhalt ihrer Dokumententruhe auf dem
Tisch ausgebreitet. Es sind für sie der einzige Beweise für das,
was ihrer Familie angetan wurde

Sie sind


Gefangene


Stalins – seit


mehr als


7 0 Jahren


Vor Jahrzehnten verbannte der Diktator


Hunderttausende Menschen in die Provinz.


Ihre Kinder leben bis heute wie in der


Verbannung. Drei von ihnen wollen deshalb


vor dem russischen Verfassungsgericht


Wohnungen in Moskau erstreiten

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