Die Welt Kompalt - 11.11.2019

(nextflipdebug5) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT MONTAG, 11. NOVEMBER 2019 POLITIK 9


Zehn Jahre


Niedrigzins


Der Plan war einfach:


Europa retten mit billigem Geld.


Warum deutsche Sparer


darunter besonders leiden.


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matisch ausgestellt, sondern
muss aufwendig beantragt wer-
den. Es hat Jahre gedauert, bis al-
le nötigen Unterlagen beisam-
men waren: aus Russland, Molda-
wien und Aserbaidschan – denn
ihr Vater wurde 1937 auf einer
Dienstreise in Baku verhaftet.
Immerhin konnte sie sich als ge-
bürtige Moldawierin schnell in
Russland einbürgern lassen, weil
sie aus der Sicht der russischen
Behörden als heimkehrende Rus-
sin galt.
Schließlich schien der Weg zur
Sozialwohnung in Moskau frei zu
sein. Doch dann folgten unzähli-
ge Prozesse. „Ich habe den Über-
blick verloren, wie viele es wa-
ren“, sagt Michailowa. Jeder Ge-
richtstermin bedeutet eine acht-
stündige Fahrt nach Moskau mit
drei S-Bahnen. Wie hat sie all das
überstanden? „Mein Vater muss-
te in der Taiga auf Baumstümp-
fen schlafen. Wenn er das ge-
schafft hat, schaffe ich’s auch.
Wenn ich aufgebe, verrate ich
sein Andenken.“ Das erste Mal
zog Michailowa 2001 vor Gericht.
Die Rentnerin bekam recht. Doch
die nächste Instanz kassierte das
Urteil. Fünf Jahre später gab es
wieder eine positive Entschei-
dung, die wieder kassiert wurde.
„Wir dachten, wir zeigen unsere
Dokumente, und alles wird end-
lich gut“, sagt Michailowa. „Das
Gesetz ist ja dafür da, uns zu ent-
schädigen.“ Doch die Hoffnun-
gen wurden immer wieder ent-

täuscht. Sie schrieb Beschwerden
an alle denkbaren Behörden,
selbst an Putins Präsidialadmi-
nistration. Gebracht hat es
nichts.
Vor Gericht vertritt Michailo-
wa und zwei weitere Töchter von
Stalin-Opfern der Rechtsanwalt
Grigory Vaypan vom Institut für
Recht und öffentliche Politik –
pro bono. Die Moskauer NGO ist
auf komplexe Rechtsgutachten

und Menschenrechtsfälle spezia-
lisiert. „Das Recht auf Rückkehr
kann in Russland im Moment
nicht umgesetzt werden, es ist
rein illusorisch“, sagt Vaypan.
Momentan behandelt die Stadt
Moskau Stalin-Opfer wie soziale
Härtefälle. Das bedeutet: Eine
Sozialwohnung gibt es im Schnitt
nach zwei oder drei Jahrzehnten
Wartezeit. Doch bis dahin dürf-

ten auch die letzten verbliebenen
Kinder der ehemaligen Gulag-
Häftlinge schon tot sein. „Das ist
die letzte Chance, den Opfern
Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen.“ Vaypan glaubt nicht,
dass dahinter eine böse Absicht
steckt. „Es ist einfach Gleichgül-
tigkeit des Staates.“ Menschen
wie Michailowa habe man ein-
fach vergessen. Wie viele von ih-
nen russlandweit das Recht auf

die Rückkehr an den alten Wohn-
ort der Eltern haben, ist unbe-
kannt – der Staat führt dazu kei-
ne Statistiken. Vaypan findet das
bezeichnend.
Michailowa selbst will über
den russischen Staat kein böses
Wort verlieren. Lieber lobt sie ih-
ren Anwalt. „Wenn es mehr Men-
schen gäbe wie ihn, müsste man
sich um Russland keine Sorgen

machen“, sagt sie. „Hoffentlich
habe ich jetzt nichts Falsches ge-
sagt“. Die alte Angst sitzt tief. In
den nächsten Wochen wird sich
zeigen, was Michailowas Heimat
von ihren Entschädigungsan-
sprüchen hält. Sie hofft auf eine
„objektive Entscheidung“ und
trauert um ihre ältere Schwester,
die im Februar starb. „Immerhin
starb sie in Russland“, sagt Mi-
chailowa.
Wenn sie vor dem Verfas-
sungsgericht gewinnt, muss das
föderale Gesetz über Entschädi-
gungen geändert werden sowie
entsprechende Gesetze in allen
russischen Regionen. Menschen
wie Michailowa müssen sich
nicht länger in die 30-Jahre-War-
teschlange für Sozialwohnungen
einreihen. Dann könnten Hun-
derte oder Tausende Kinder von
Stalin-Opfern aus der Verban-
nung zurückkehren – wenn der
russische Staat sie lässt. Eine Re-
kursmöglichkeit vor dem Euro-
päischen Gerichtshof für Men-
schenrechte gibt es nicht.
Michailowa jedenfalls hat gro-
ße Pläne. „Wenn ich in Moskau
lebe, kann ich leicht einen Job
finden“, sagt sie. Sie will wieder
als Zahnärztin arbeiten. Und
wenn es nicht klappt? „Dann“,
sagt Michailowa langsam, „dann
bleiben wir hier.“ Draußen rollt
ein Güterzug vorbei, graue Kes-
selwagen mit russischem Erdöl.
Michailowas altes Blockhaus vi-
briert.

„Es gibt hier keinen Stachel-
draht, und doch leben wir wie
in der Verbannung“, sagt Elisa-
weta Michailowa (M.). Hier mit
ihren Töchtern Nina und Wlada


KATYA ANOKHINA

/ EKATERINA ANOKHINA (2)

Mein Vater musste in der Taiga auf


Baumstümpfen schlafen. Wenn er das


geschafft hat, schaffe ich’s auch. Wenn


ich aufgebe, verrate ich sein Andenken


Elisaweta Michailowa

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