„Quer durch unser Land sind neue Mauern
entstanden: Mauern aus Frust, Mauern aus
Wut und Hass, Mauern der Sprachlosigkeit
und der Entfremdung. Mauern, die unsichtbar
sind, aber trotzdem spalten. Mauern, die
unserem Zusammenhalt im Wege stehen.“
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident, am Samstag
in seiner Rede zum 30. Jahrestag des Mauerfalls
Worte des Tages
AfD
Gegen die
guten Sitten
I
n Deutschland, so meint man,
sind wichtige Dinge schwarz
auf weiß geregelt. So sollte es
doch eine Regel dafür geben, wie
ein Bundestagsabgeordneter zum
Ausschussvorsitzenden werden
kann. Das Grundgesetz wäre ein ty-
pischer Platz, so etwas festzuhal-
ten. So ist es aber nicht. Seit Jahr-
zehnten werden die Posten der Vor-
sitzenden unter allen im Bundestag
vertretenen Parteien verteilt. Kein
Gesetz schreibt dies vor. Es ist ein-
fach Brauch und Sitte.
Wenn eine Praxis lange genug ge-
übt wird, kann sie zu Recht werden.
Juristen sprechen auch vom Ge-
wohnheitsrecht. Da dieses Recht so
schwer zu fassen ist, ist es wichtig,
dass es einen öffentlichen Druck
gibt, es einzuhalten. So könnte man
argumentieren, wenn man sich ge-
gen die Abwahl des AfD-Politikers
Stephan Brandner als Vorsitzender
des Rechtsausschusses aussprechen
wollte. Man würde dabei allerdings
übersehen, dass es eben die AfD ist,
und in diesem Fall Brandner selbst,
der gegen die Sitten und Gebräuche
des Hohen Hauses verstößt. Die
Menschenverachtung, die aus
Brandners Äußerungen spricht, ist
des Bundestags unwürdig. Dass er
die Verleihung des Bundesver-
dienstkreuzes an den Musiker Udo
Lindenberg als „Judaslohn“ be-
zeichnete, ist nur eine von mehre-
ren Einlassungen, die seinen demo-
kratischen Kollegen aufstieß.
Und so können die Mitglieder des
Rechtsausschusses von CDU, CSU,
SPD, Linken und Grünen gemein-
sam die Gebräuche des Bundesta-
ges so auslegen, dass die Wahl eines
Ausschussvorsitzenden an ein Min-
destmaß an Anstand gebunden ist –
und dass ein Fehlen dieses Anstan-
des eine Abwahl rechtfertigt. Ab
welchem Punkt die Grenze des Min-
dest-Anstandes durchbrochen ist,
können nur die Abgeordneten ent-
scheiden – jeder für sich. Dazu ha-
ben sie ein freies Mandat. Das
Grundgesetz allein schützt die Insti-
tutionen und Abläufe nicht ausrei-
chend. Die gewählten Politiker sind
dazu in der Verantwortung. Man
kann ihnen nur Mut zusprechen,
diese Verantwortung wahrzuneh-
men.
Der AfD steht es zu, Ausschüsse
des Bundestages zu leiten. Aber
die Abgeordneten müssen sich
nicht alles gefallen lassen, meint
Christoph Herwartz.
Der Autor ist Desk-Chef Politik.
Sie erreichen ihn unter:
A
ls Emmanuel Macron im Mai 2017 in
Frankreich zum Präsidenten gewählt
wurde, war er der Hoffnungsträger für
Europa. Macron forderte mit echter
Begeisterung müde Friedensprojekt-
Beschwörer wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und
EU-Präsident Jean-Claude Juncker heraus. Und er
war sogar ziemlich erfolgreich darin, die Deutschen
für eine enge Zusammenarbeit in der Verteidigung
zu gewinnen, die europäische Verteidigungsunion
Pesco anzustoßen und gleichzeitig mit französisch
geführten Eingreiftruppen auf Trab zu halten.
Und nun das: Der Nato schickt er statt Grüßen
zum 70. Geburtstag die Diagnose „hirntot“. Hätte er
sich nicht mit „liegt im Koma“ begnügen können?
Das hätte einen Rest Hoffnung auf Gesundung gelas-
sen. Hirntot – die Diagnose ist unumkehrbar. Das
macht sie realpolitisch gefährlich.
Klar ist: Der Nato ging es schon mal besser. Aber:
Nach dem Schock der Wahl von Donald Trump zum
US-Präsidenten 2016, der die Nato „obsolet“ nannte,
schien das Bündnis sich zuletzt transatlantisch wie-
der zusammenzuraufen. Die Bemühungen der Euro-
päer um mehr eigene militärische Stärke nimmt die
US-Regierung immerhin zur Kenntnis. Nach Europa
sind US-Truppen sogar zurückgekehrt. 20 000 US-
Soldaten werden sich 2020 an einer Großübung der
Nato in Osteuropa beteiligen. Das ist ein Signal der
Bündnistreue, und es bedeutet: Gegen Russland las-
sen die USA die Europäer nicht im Stich.
Die Bundesregierung weiß das zu schätzen: Die
Bedrohung aus dem Osten war nach der Annexion
der Krim durch Russland der Anlass, nach 25 Jahren
Sparprogramm den Schalter umzulegen und die
Bundeswehr wieder zu stärken. Das 40-Prozent-Plus
für den Verteidigungsetat seither ist zwar noch zu
wenig für die neuen Bedrohungen: Staatszerfall in
der muslimischen Welt, Terrorismus sowie geostra-
tegische Machtansprüche Russlands und Chinas er-
fordern zur Abschreckung mehr Militär in Europa.
Dass aber „Europa am Rande des Abgrunds“ stehe,
wie Macron im selben Interview mit dem britischen
„Economist“ sagte, ist übertrieben.
Vermutlich stand Macron, als er das Interview am
- Oktober gab, noch unter dem Eindruck des Ab-
zugs der US-Truppen aus Syrien. Bei den Bedro-
hungsszenarien für Europa blickt Frankreich tradi-
tionell stärker in Richtung arabisch-muslimischer
Welt als Deutschland, das eher nach Russland
schaut. Nach dem hektischen Rückzug der USA aus
Nordsyrien waren es französische und britische
Truppen, die Hals über Kopf aus der Region fliehen
mussten, in die sofort die Türkei einmarschierte.
Es ist vollkommen verständlich, dass Macron eine
Lage, die der Nato-Partner USA verursacht und der
Nato-Partner Türkei militärisch ausgenutzt hat, ohne
die europäischen Nato-Partner vorab zu warnen, als
besorgniserregend wahrnimmt. Dem Militärbündnis
den „Hirntod“ zu bescheinigen ist trotz aller ver-
ständlichen Wut strategisch äußerst unklug. Bisher
jedenfalls sind die Europäer nicht in der Lage, an
allen ihren Außengrenzen die Weltpolizei USA abzu-
lösen. Es ist daher im Interesse Europas einschließ-
lich Frankreichs, die USA weiter in der Nato zu hal-
ten.
Und das scheint trotz Trump’scher Twitterei heute
eher möglich zu sein als vor zwei Jahren. Als geopoli-
tische Gegner haben die USA eindeutig China und
Russland ausgemacht und sagen dies auch bei jeder
Gelegenheit. Aus Osteuropa wird es deshalb keinen
überhasteten Abzug geben. Dass es für die USA nütz-
lich ist, die Europäer an ihrer Seite zu wissen, ver-
sucht gerade Außenminister Mike Pompeo deutlich
zu machen: Aus seiner Sicht befinden sich die USA
und Europa gemeinsam in einem „Wettstreit der
Werte“ mit unfreien Nationen wie Russland, Iran
und China. Hätte Macron nicht vom Hirntod gespro-
chen, hätte Pompeo nicht das „Risiko“, dass die
Nato „ineffektiv oder obsolet“ werden könnte, auf-
wärmen müssen. Aus US-Sicht hängt die Stärke der
Nato davon ab, ob die Europäer ihre Wehretats wei-
ter erhöhen. Genau das wollen auch Macron und in
Deutschland mindestens der Unions-Teil der Bun-
desregierung, angeführt von CDU-Chefin und Vertei-
digungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Vielleicht gerät Macrons „Hirntod“-Diagnose bald
in Vergessenheit; bis dahin bleibt sie ein Grund zur
Sorge. Denn es ist bereits das zweite Mal in kurzer
Zeit, dass es Macron an strategischer Weitsicht feh-
len lässt. Als noch schwererer Fehler könnte sich er-
weisen, dass er Nordmazedonien und Albanien die
Tür zu EU-Beitrittsverhandlungen per Veto zuschlug.
Freuen kann sich darüber Russlands Präsident Wla-
dimir Putin, dem Macron so ein neues Einfallstor
nach Europa öffnete. Macron hat zwar recht, dass
sich die EU vor der Aufnahme neuer Mitglieder re-
formieren muss. EU-interne Verhandlungen hätte
man aber genauso gut bei parallel laufenden Gesprä-
chen mit den beiden Balkanländern führen können.
War’s das also mit Macron, dem großen Europäer?
Hoffentlich nicht. Was ihm aktuell fehlt, ist strategi-
sche Geduld – und Merkel strategische Ambition.
Leitartikel
Schwach, aber
nicht hirntot
Der Nato ging es
schon mal besser
als zum 70.
Geburtstag.
„Hirntot“ aber,
wie Macron
meint, ist sie noch
lange nicht, sagt
Donata Riedel.
Es ist bereits das
zweite Mal
innerhalb kurzer
Zeit, dass es
Macron an
strategischer
Weitsicht feh-
len lässt.
Die Autorin ist Hauptstadtkorrespondentin
in Berlin. Sie erreichen sie unter:
[email protected]
Meinung
& Analyse
MONTAG, 11. NOVEMBER 2019, NR. 217
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