Handelsblatt - 11.11.2019

(Nandana) #1
Kleine Läden auf dem Rückzug
Deutscher Einzelhandel nach Vertriebsformen 2000 und 2018, Umsatzanteile in Prozent

-15,7 PP


HANDELSBLATT • PP = Prozentpunkte Fehlende zu 100 % = Übriger Einzelhandel • Quelle: HDE

16,2 16, 1 16,2


2,4
3,7 4,7

10,9


15,3


9,8


31,9

10 ,1

12,2 11,8

4,2 4,2

0,2

10,3 10,9

Super-
märkte

SB-Waren-
häuser/
Verbraucher-
märkte

Dis-
counter

Nicht
filialisierter
Fach-
handel

Filialisierter
Fach-
handel

Fach-
märkte

Kauf-
und
Waren-
häuser

Ver-
sender

Online-
handel

2 201


Katrin Terpitz Düsseldorf


A

lles muss raus!“ Feuer-
rote Plakate lockten En-
de Oktober letztmalig
ins Schuhfachgeschäft
Schweikert im württem-
bergischen Korntal. Kurz vor der Ge-
schäftsaufgabe kamen all die Kun-
den, die Inhaberin Kathrin Schwei-
kert vorher so schmerzlich vermisst
hatte. Vor zehn Tagen schloss die
45-Jährige den Laden endgültig ab,
wo seit 1901 Schuhe verkauft wurden.
Seit sechs Jahren war das Geschäft
rückläufig. Schweikert nahm deshalb
mehr Marken- und Orthopädieschuhe
ins Sortiment, vergebens. „Als der
letzte Konkurrent im Ort pleiteging,
dachte ich, jetzt starte ich als Platz-
hirsch durch“, erzählt sie. Ein Irrtum.
„8 000 Paar zu viel bestellte Schuhe
hatte ich auf Halde.“ Das Ausbleiben
der Kundschaft erklärt sich Schwei-
kert so: „Die Leute sind mobiler als
früher, sie fahren lieber nach Ludwigs-
burg und Stuttgart, wo die Auswahl
größer ist.“ Zwei Shopping- und Out-
letcenter in der Nähe taten ihr Übri-
ges. „Die Leute wollen billig einkaufen
oder Erlebnisshopping. Beides konnte
ich nicht bieten“, sagt sie resigniert.
Seit 2018 schrieb der Schuhladen
rote Zahlen. Ihre fünf Mitarbeiter
musste Schweikert entlassen. Zuletzt
stand sie sechs Tage die Woche allein
im Laden. „Den Einstieg in den On-
linehandel habe ich damals verschla-
fen“, räumt sie ein. „Schuhe muss
man doch anprobieren, dachte ich
naiv. Der Erfolg von Zalando und Co.
hat mich eines Besseren belehrt.“

Vielfalt gesunken


Kathrin Schweikert ist nur eine von
Tausenden kleinen Gewerbetreiben-
den, die jedes Jahr ihren Betrieb
schließen. Die Folgen sind allerorten
immer sichtbarer: leer stehende Lä-
den, verödete Innenstädte mit den
immer gleichen Ketten. Zwar steigt
der Einzelhandelsumsatz stetig, auch
das Handwerk floriert durch den
Bauboom. Doch die Gewerbevielfalt
in Deutschland ist seit der Jahrtau-
sendwende dramatisch gesunken.
So hat sich der Marktanteil von
Einzelhändlern ohne Filialen seit
2000 von 31,9 Prozent auf 16,2 Pro-
zent quasi halbiert. Das zeigen Zah-
len des Hauptverbands des Deut-
schen Einzelhandels (HDE). Deutlich
zugelegt haben dagegen Discounter,
Fachhandelsketten und Fachmärkte
sowie Onlinehändler (siehe Grafik).
Die Gründe sind vielschichtig: Sie
reichen vom veränderten Verbrau-
cherverhalten und Mangel an Fach-
kräften und Nachfolgern über Preis-

druck bis zum Siegeszug des Online-
handels. „Die Erwartungen der
Verbraucher haben sich stark gewan-
delt“, konstatiert Boris Hedde, Ge-
schäftsführer des Handelsforschers
IFH Köln. „Kunden werden immer
anspruchsvoller und bequemer.“ Sie
erwarteten Gratisservice, eine große
Auswahl, günstige Preise und Erleb-
nisshopping.
Gerade in Innenstadtlage hat der
kleinbetriebliche Fachhandel stark ver-
loren. Im Schnitt haben jedes Jahr
3 000 Betriebe dichtgemacht, so Hed-
de. Stattdessen hätten sich filialisierte
Konzepte, Gastronomie und Dienstleis-
ter ausgebreitet. „Die Innenstädte ver-
öden immer mehr, nicht nur in klei-
nen Städten.“ Einzig Kosmetiker und
Friseure boomen. Regional ist die Viel-
falt an Gewerbe sehr unterschiedlich.
Am vitalsten ist die Gewerbelandschaft
in Bayern und Baden-Württemberg,
am dünnsten in Sachsen-Anhalt und
Thüringen. Das zeigt der Gewerbevita-
litätsindex aus dem aktuellen Weiß-
buch der Initiative für Gewerbevielfalt
(siehe Karte). Dahinter steht das
Adressverzeichnis Das Telefonbuch.
Der Siegeszug der Ketten lässt sich
am Ausbau des Filialnetzes gut able-
sen. Augenoptiker Fielmann etwa hat
seine Filialen seit 2005 von 538 auf
736 aufgestockt, die meisten inner-
halb Deutschlands. Verkauft ein Ein-
zeloptiker im Schnitt weniger als
zwei Brillen am Tag, sind es in einer
Fielmann-Filiale mehr als 35 Brillen.
Zumal die Kette in großen Mengen
günstiger ein- und verkaufen kann.
Auch internationale Ketten sind
auf dem Vormarsch – gerade bei Mo-
deanbietern von Zara bis Primark.
Hatten Modehändler mit mehr als
100 Millionen Euro Jahresumsatz
2006 noch einen Marktanteil von
46,5 Prozent, waren es zehn Jahre
später schon dominierende 59,4 Pro-
zent, so das Statistische Bundesamt.
Die schwedische Modekette H&M
hatte 2009 hierzulande 362 Läden,
2018 waren es schon 486. Auch wenn
das Filialwachstum an Grenzen gesto-
ßen ist, versucht der Familienkon-
zern, Kunden mit neuen Konzepten
zu locken. In Heidelberg und Berlin
öffneten die ersten H&M-Cafés – eine
Boutique kann da nicht mithalten.
Kleinere Modeläden sind beson-
ders von der Schließungswelle be-
troffen, beobachtet Hedde vom IFH.
„Jeder vierte Euro mit Bekleidung
wird heute online umgesetzt.“ Im
Vorteil seien Unternehmen wie Zara
oder H&M, die beide Kanäle anbie-
ten. „Da sie zudem von Produktion
bis Verkauf alles aus einer Hand ma-

Gewerbevielfalt


Das langsame Sterben


der kleinen Läden


Das Kleingewerbe hält dem Wettbewerb großer Ketten


immer weniger stand. Die Folge: verödete Innenstädte.


Geschlossener Laden:
Viele Traditionsbetriebe
haben im Preiskampf mit
den großen Discountern
das Nachsehen.

Daniel Biskup/laif

Der deutsche Mittelstand
MONTAG, 11. NOVEMBER 2019, NR. 217

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