Handelsblatt - 11.11.2019

(Nandana) #1

Jan Mallien, Frank Wiebe Frankfurt


D

ie Märkte sind zuletzt auf einer Welle
von Hoffnung geschwommen, die
erst gegen Ende der vergangenen
Woche wieder einen Dämpfer er-
hielt, als US-Präsident Donald Trump
sich skeptisch zu einer schnellen Einigung mit Chi-
na äußerte. Politische Probleme wie der Handels-
konflikt zwischen den USA und China und der Bre-
xit scheinen aber jetzt lösbar oder treten zumin-
dest etwas in den Hintergrund. Und mit ihren Zins-
senkungen hat die US-Notenbank (Fed) de facto ei-
ne Art „Put“ – so nennt man Absicherungen am
Terminmarkt – unter die Kurse gelegt und auf diese
Weise Kursabstürze abgefedert. Mehr noch: Sie
kauft wieder Anleihen zu und schießt damit Liqui-
dität ins Finanzsystem – das treibt die Kurse hoch
und beruhigt. Kein Wunder, dass es an den US-Bör-
sen zu neuen Rekordständen kam und die Zahl von
Anleihen mit negativen Renditen weltweit abge-
nommen hat. Am Freitag legte der US-Aktienindex
S&P 500, das wichtigste Börsenbarometer welt-
weit, noch einmal leicht zu auf 3 093 Punkte.
Aber wie sieht es langfristig aus? Torsten Slok,
Ökonom bei der Deutschen Bank in New York, hat
eine Liste mit 20 Marktrisiken für das Jahr 2020 zu-
sammengestellt. Slok ist kein Crash-Prophet. Er hat
die Risiken auch nicht mit Wahrscheinlichkeiten ge-
wichtet. Er zählt sie lediglich auf – aber schon das
allein kann Investoren Denkanstöße geben. Das gilt
vor allem für Anleger, die langfristig orientiert sind.
Auf der Liste finden sich eine Menge Risiken, die
leider schon sattsam bekannt oder leicht vorher-
sehbar sind: der Handelskonflikt, der Brexit sowie
Turbulenzen im Vorfeld der USA-Wahl im kommen-
den Jahr oder im Zusammenhang mit dem Ver-
such, Trump seines Amts zu entheben. Als eigenes
Risiko sieht Slok auch an, dass eine „schrumpfende
Autoindustrie“ die Weltkonjunktur in Gefahr brin-
gen könnte – ein Thema, das Deutschland beson-
ders betrifft. Einen Crash im Immobilienmarkt be-
fürchtet er dagegen nicht hierzulande, aber mögli-
cherweise in Australien, Kanada oder Schweden.
Ein besonders interessanter Anknüpfungspunkt ist
dieses Risiko in seiner Liste: „Die Fed hält sich im

Wahljahr mit Zinssenkungen zurück.“ Ob sie das tat-
sächlich tun wird, ist zwar völlig offen. Aber klar ist,
dass die Notenbank, um ihre Unabhängigkeit zu wah-
ren, jeden Anschein vermeiden will, dass sie auf
Druck aus der Politik reagieren könnte. Sollten im
kommenden Jahr die Konjunktur und die Börse nicht
so gut laufen wie erhofft, wird Trump erwartungsge-
mäß der Fed die Schuld in die Schuhe schieben: Er
hat immer wieder niedrigere Zinsen von ihr verlangt.
Eine Zwickmühle für die Notenbanker: Senken sie
die Zinsen, sieht es nach Willfährigkeit gegenüber der
Regierung aus. Tun sie es nicht, wird Trump ihnen
vorwerfen, gegen Washington zu arbeiten.
Gergely Majoros von der Fondsgesellschaft Car-
mignac erwartet, dass die Fed 2020 „noch einmal
handelt, um die US-Wirtschaft zu stützen“. Er sagt:
„Wir rechnen mit einer weiteren Abschwächung
der US-Wirtschaft im kommenden Jahr, aber nicht
mit einer Rezession.“ Solange der Konsum stabil
bleibe, sei ein Einbruch nicht zu befürchten. „Es
gibt ein paar Warnsignale wie steigende Zinsen für
Konsumentenkredite, aber bisher ist keine deutli-
che Abschwächung absehbar“, setzt er hinzu.
Bruce Kasman, Chefökonom von JP Morgan,
zeigt ebenfalls vorsichtigen Optimismus. „Die Zu-
versicht ist gewachsen, dass 2020 die Konjunktur
wieder anzieht“, schreibt er. Er glaubt, dass jetzt
die „dritte Welle“ in der langjährigen Expansion
der Weltwirtschaft anbricht: Die erste dauerte nach
seiner Lesart von 2011 bis 2014, die zweite von 2014
bis 2018. Er mahnt allerdings auch zu Vorsicht und
Geduld: „Der bereits vorweggenommene Waffen-
stillstand im Handelskrieg zwischen den USA und
China muss erst noch geschlossen werden.“
Tatsächlich hat die Fed mit bisher drei Zinssen-
kungen im laufenden Jahr die Märkte schon beflü-
gelt. Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Sie kauft wie-
der Zinspapiere zu, und zwar für monatlich 60 Mil-
liarden Dollar bis mindestens zum zweiten Quartal
20 20. Anders als bei früheren Käufen dieser Art, die
als „Quantitative Easing (QE)“ bekannt waren, geht
es diesmal gar nicht um Geldpolitik im engeren Sin-
ne oder um die US-Konjunktur: Die Fed hat einfach
bloß festgestellt, dass das amerikanische Finanzsys-
tem über zu wenig Liquidität verfügt.

Süchtig nach Liquidität


Sie hatte zuvor Anleihen in ihrem Bestand auslau-
fen lassen, ohne sie durch Neukäufe zu ersetzen.
Auf diese Weise entzog sie dem System Geld. Zu-
gleich haben die US-Banken nach der Finanzkrise,
auch auf Druck der Finanzaufsicht, große Liquidi-
tätsreserven angelegt. Dadurch ist der Geldmarkt
ausgetrocknet, und die Fed muss in New York zur-
zeit immer wieder Geld zuschießen, damit es keine
Engpässe gibt. Die neuen Käufe sollen dieses Pro-
blem beheben. Anders als früher kauft die Fed
diesmal kurz laufende Papiere, versucht also nicht,
die Langfristzinsen zu senken.
Aber letztlich wirken die Käufe trotzdem so ähn-
lich wie früher: Sie blasen die Bilanz der Fed auf,
und sie stützen die Kurse. Der bekannte US-Öko-
nom Mohamed El-Erian twitterte: „Ob nun formal

Viele Risiken


im Jahr 2020


In einer Studie zur Zukunft der weltweiten Finanzmärkte identifiziert die


Deutsche Bank eine Menge Gefahren. Eine Schlüsselrolle wird das


Zusammenspiel von US-Notenbank und der Politik Donald Trumps


spielen. Rückenwind gibt es zurzeit aber für die Schwellenländer.


60


MILLIARDEN


Dollar gibt die US-Notenbank
monatlich für neue Zukäufe von Zinspa-
pieren bis mindestens zum
zweiten Quartal 2020 aus.

Quelle: Fed


Gebremste


Autokonjunktur


Der Welthandel ist ins Stocken geraten, zugleich
muss die Autoindustrie unter dem Druck der Kli-
makrise umsteuern: Das trifft Deutschland beson-
ders hart.

Krieg und Frieden


im Handelsstreit


Allenfalls eine Beruhigung ist vorerst in der Ausei-
nandersetzung zwischen den USA und China über
Zölle und Handelsbedingungen zu erwarten. Oder:
Falls es in diesem Handelskrieg zu einem echten
Frieden kommt, wird der US-Präsident möglicher-
weise seine Attacken gegen Europa richten.

Private


Geldanlage


MONTAG, 11. NOVEMBER 2019, NR. 217


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