Handelsblatt - 11.11.2019

(Nandana) #1
Chinas Wirtschaft
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Wachstum in Prozent zum Vorjahr

Gewinnraten der chinesischen Industrieunternehmen
in Prozent, Durchschnitt ausgewählter Zeiträume

HANDELSBLATT Quelle: National Bureau of Statistics of China

+6,


+7,
+6,

+6,


-2,1 %

+6,
+6,

2014 2015 2016 2017 2018 1. bis 3. Q.
2019

+6,



  1. Q.
    2019


+

+

±





  • Jan.–
    Sept.




Jan.–
Okt.

Jan.–
Nov.

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Dez.

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März

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Juni

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Juli

Jan.–
Aug.

Jan.–
Sept.

Jan.–
Okt.

Jan.–
Nov.
2018 2019

Sha Hua Tangshan und Zhuhai


T

aotao hat sich auf den Singles‘ Day vor-
bereitet. Haarpflegeprodukte, Nagel-
lack und lose Teeblätter wird sie kau-
fen, wenn am 11. November die großen
chinesischen Handelsplattformen Ali-
baba und JD.com zur Online-Schnäppchen-Orgie
aufrufen. Die 30-Jährige plant, rund 400 Euro für
die Aktionen auszugeben. „Ich hätte noch mehr
Geld für Singles‘ Day ausgegeben, aber viele der
Vorverkaufsaktionen waren schon leer gefegt“, sagt
die Angestellte eines Staatsunternehmens im süd-
chinesischen Zhuhai.
Damit steht Taotao nicht allein. Unter Analysten
gilt der umsatzstärkste Tag für den Onlinehandel
als Barometer für die Verbraucherstimmung in Chi-
na. Auch dieses Jahr erwarten sie, dass der Kon-
sumrekord von 25,8 Milliarden Dollar aus dem ver-
gangenen Jahr überboten wird. Rund 25 Prozent
mehr als im Vorjahr könnte Alibaba dieses Jahr ein-
nehmen, so die Schätzungen der Datenanalyse-Fir-
ma Tempodata.
Trotz des niedrigsten Wirtschaftswachstums seit
fast 30 Jahren und stetig sinkender Autoverkaufs-
zahlen zeigt Chinas Konsumkurve nach oben. Die
Verbraucher geben so viel Geld aus wie nie zuvor.
In den ersten neun Monaten 2019 nahm der Einzel-
handelsumsatz im Vergleich zum Vorjahr um 8,
Prozent zu. Viele Verbraucher sind nach Jahren
kräftiger Wohlstandsgewinne weiterhin optimis-
tisch, was ihre Zukunft angeht.
An diesem Tag hat sich Taotao mit ihren drei
Freundinnen CJ, Yangyang und Liuliu zum Mittag-
essen in einem nordwestchinesischen Nudelrestau-
rant verabredet. Drei von ihnen arbeiten in der
Verwaltung der Huafa-Gruppe, eines 1980 gegrün-
deten Staatsunternehmens. Gerade erst haben sie

Ein Land im


Kauffieber


Chinas Wirtschaftswachstum


verlangsamt sich, der


Autoabsatz stürzt ab.


Und dennoch konsumieren


die Chinesen so viel wie nie


zuvor. Warum?


© Sergi Reboredo

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K


aum sah es danach aus, als gäbe es eine An-
näherung im Handelsstreit zwischen China
und den USA, stellte US-Präsident Donald
Trump sie gleich wieder infrage. Die Gespräche
würden sich zwar „sehr schön“ entwickeln, sagte er
Ende vergangener Woche. Aber es gebe eine falsche
Berichterstattung über den Willen der USA, bereits
bestehende Sonderzölle auf chinesische Produkte
zurückzunehmen.
Der Handelskonflikt zwischen den beiden größ-
ten Volkswirtschaften stellt das größte Risiko für
die Weltwirtschaft dar. Schon jetzt sinkt das Han-
delsvolumen zwischen China und den USA: allein
in den ersten drei Quartalen im Vergleich zum Vor-
jahreszeitraum um mehr als zehn Prozent – eine
Folge der von Trump erhobenen Strafzölle, auf die
Peking mit Gegenzöllen reagiert hatte.
Eskaliert der Handelsstreit weiter, wäre eindeu-
tig Europas größte Volkswirtschaft ein Verlierer.
„Vor allem Deutschland leidet unter dieser neuen
Situation“, warnt Gabriel Felbermayr, Chef des In-
stituts der Weltwirtschaft Kiel. „Tatsächliche und
angedrohte Konflikte schwächen das globale
Wachstum und damit die Nachfrage nach deut-
schen Produkten“, sagt Felbermayr.
Schon jetzt hinterlässt der Konflikt in China,
dem wichtigsten Handelspartner Deutschlands,
tiefe Spuren. Laut Prognose des Internationalen
Währungsfonds (IWF) wird die chinesische Wirt-
schaft 2019 „nur“ um 6,1 Prozent wachsen. Im Ver-
gleich zu den USA (2,4 Prozent) und gegenüber
dem Schlusslicht Europäische Union (1,5 Prozent)
ist das noch ein beachtlicher Wert. Die dynami-
schen Zuwachsraten früherer Jahre allerdings, als
das BIP-Wachstum regelmäßig zweistellig ausfiel,
sind vorbei.
Inzwischen steht China für 16,3 Prozent des
Welt-BIP. Und noch ist die Volksrepublik der Leis-
tungsträger der Weltwirtschaft. Allein in den ver-
gangenen zehn Jahren trug das Reich der Mitte
nach Berechnungen des Handelsblatt Research
Institute gut ein Drittel zum globalen Wachs-
tum bei. Deshalb gilt nach wie vor: Gerät China in
eine Wirtschaftskrise, hat die Weltwirtschaft ein
Problem. „Die wirtschaftliche Entwicklung in Chi-
na kann uns alles andere als egal sein“, sagte Hol-
ger Bingmann, Präsident des Bundesverbands
Groß- und Außenhandel (BGA), dem Handelsblatt.
Dafür sei der Markt viel zu wichtig.
Und die Alarmzeichen nehmen zu: Die Privat-
verschuldung wächst. Laut einer Analyse des Wa-
shingtoner Institute of Finance liegt sie mittlerwei-
le bei 92 Prozent des Einkommens der Chinesen.
In Deutschland liegt die Quote laut den Berech-
nungen bei 86 Prozent. Auch die Industrieproduk-
tion hat sich deutlich abgeschwächt.
Der Grund, warum Chinas Wirtschaftswachstum
sich nicht noch stärker verlangsam hat, ist laut Ex-
perten der private Binnenkonsum. China hat bei

der Umstrukturierung seiner Wirtschaft – weg von
der reinen Export- hin zur Binnenorientierung – in
den vergangenen Jahren riesige Fortschritte ge-
macht. „Rebalancing“ nennt Stephen Roach, Öko-
nom an der Yale-Universität und Chinaexperte,
den Prozess. „Der chinesische Verbraucher- und
der Dienstleistungssektor sind zu Wachstumsmo-
toren der Volksrepublik geworden“, sagt der ehe-
malige Chairman für das Asiengeschäft von Mor-
gan Stanley. Chinas einst überdimensionierter
Leistungsbilanzüberschuss sei fast verschwunden.
Tatsächlich betrug der Anteil der Exporte am
Bruttoinlandsprodukt nach chinesischen Statisti-
ken in den ersten drei Quartalen nur noch knapp
20 Prozent, während der Konsum 60 Prozent aus-
machte. Deutschland erwirtschaftet dagegen im-
mer noch knapp die Hälfte seines BIP über die Aus-
fuhren. „Der Einzelhandelskonsum stützt das
Wachstum der chinesischen Wirtschaft“, sagt Max
Zenglein, Leiter des Wirtschaftsprogramms beim
Berliner China-Thinktank Merics. Grund für die an-
haltende Kauffreude in China ist seine stetig wach-
sende Mittelschicht.
Die Frage ist allerdings, wie lange die chinesi-
schen Verbraucher das Wirtschaftswachstum noch
stabilisieren können. Denn auch das Wachstum
des privaten Konsums hat sich abgeschwächt. Hin-
zu kommt eine steigende Inflation. Peking ver-
sucht, mit stimulierenden Maßnahmen die Kauf-
laune anzukurbeln. Im Frühjahr beschleunigte die
chinesische Regierung ein Steuersenkungspro-
gramm, dessen Höhe Ministerpräsident Li Keqiang
auf rund 260 Milliarden Euro bezifferte. Im August
gab der Staatsrat eine Liste von 20 Maßnahmen
heraus, die den privaten Konsum ankurbeln soll-
ten. Unter anderem sollten Öffnungszeitungen von
Nachtmärkten, Kiosken und Restaurants verlän-
gert werden.
All diese Maßnahmen können aber nicht verhin-
dern, dass sich das Wachstum Chinas weiter ver-
langsamen wird – und damit auch die Nachfrage
aus der Volksrepublik. IWF-Ökonomen rechnen
mittelfristig mit einem stufenweisen Rückgang des
Wirtschaftswachstums auf 5,5 Prozent.
„Deutschland muss mit einer schwächeren
Nachfrage aus China rechnen und tut vor diesem
Hintergrund gut daran, seine Absatzmärkte diver-
sifiziert zu halten“, sagt Ökonom Felbermayr. Im
laufenden Jahr habe der noch immer gute Handel
mit chinesischen Geschäftspartnern dem deut-
schen Export dazu verholfen, über der Nulllinie zu
bleiben, so DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin
Wansleben. „Für 2020 läuft der positive Chinaef-
fekt aus“, warnt er. Der DIHK rechne damit, dass
der deutsche Export nach China allenfalls sta-
gniert.
Die Entwicklungen zeigen, dass Trumps Ein-
dämmungsstrategie gegenüber China große Risi-
ken mit sich bringt. Viel mehr als Chinas Stärke
muss die Weltwirtschaft seine Schwäche fürch-
ten.

Titelthema


Sorge um China


MONTAG, 11. NOVEMBER 2019, NR. 217


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