Frank Specht Berlin
D
as Land Berlin soll künftig nur noch
Aufträge an Unternehmen vergeben
dürfen, die ihren Beschäftigten min-
destens 12,50 Euro pro Stunde zah-
len. Darauf hat sich gerade der rot-
rot-grüne Senat geeinigt. Die Grünen werden bei
ihrem Bundesparteitag Mitte November über einen
Antrag der Parteispitze entscheiden, der eine An-
hebung des Mindestlohns auf zwölf Euro vorsieht.
Auf diese Höhe haben sich auch die SPD in ihrem
Sozialstaatskonzept und die Gewerkschaft Verdi auf
ihrem Bundeskongress festgelegt. Selbst aus der
Union gibt es gewichtige Stimmen, die sich eine ra-
schere Erhöhung der geltenden Lohnuntergrenze
von 9,19 Euro brutto pro Stunde wünschen.
Mitten im Konjunkturabschwung steht damit ei-
ne neue Debatte über den Mindestlohn ins Haus,
die schon am kommenden Mittwoch Fahrt aufneh-
men könnte. Dann wird in Berlin eine Bilanz über
„Fünf Jahre Mindestlohnkommission“ gezogen, die
alle zwei Jahre über die Anpassung der Lohnunter-
grenze entscheidet. „Der jetzige Mindestlohn ist
nicht armutsfest“, kritisiert Stefan Körzell, Vor-
stand beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB)
und selbst Mitglied der Kommission. So müsste die
Lohnuntergrenze laut Arbeitsministerium bei mehr
als zwölf Euro liegen, wenn ein Beschäftigter mit
45 Beitragsjahren im Alter nicht auf Grundsiche-
rung angewiesen sein soll. Auch die steigenden
Mieten machen den Gewerkschaften Sorgen.
Körzell fordert deshalb, dass der Gesetzgeber
sich entgegen früheren Zusagen doch noch einmal
des Mindestlohns annehmen und ihn auf zwölf
Euro heben soll – gegebenenfalls in Schritten. Da-
nach soll die Kommission wieder ran. Damit stößt
er aber auf entschiedenen Widerspruch des Vorsit-
zenden der Mindestlohnkommission, Jan Zilius. Er
glaubt, dass der Mindestlohn kein geeignetes In-
strument zur Armutsbekämpfung ist. Oft sei nicht
der Stundenlohn das Problem, sondern eine zu ge-
ringe Stundenzahl oder der Umstand, dass mit ei-
nem Einkommen eine ganze Familie zu versorgen
ist. Zwar liegt die Zahl der „Aufstocker“, denen der
Staat den kargen Arbeitslohn mit Steuergeld auf-
bessert, trotz Mindestlohn weiter bei rund einer
Million. Darunter haben aber weniger als 200 000
eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle.
Eingriff in die Tarifautonomie
Zilius und Holger Schäfer, Ökonom beim arbeitge-
bernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW),
weisen zudem darauf hin, dass heute deutlich
mehr als zehn Millionen Arbeitnehmer noch weni-
ger als zwölf Euro verdienen. Ihre Arbeitgeber per
Gesetz zu höheren Löhnen zu zwingen, wäre nicht
nur ein Eingriff in die Tarifautonomie. Die Unter-
nehmen müssten die höheren Stundenentgelte
- gegenüber dem heutigen Stand immerhin ein
Plus von 31 Prozent – erst mal aufbringen, wenn es
nicht zu Beschäftigungsverlusten kommen soll: „Ei-
ne Überwälzung der gestiegenen Kosten auf die
Preise erscheint angesichts der konjunkturellen Ab-
kühlung aber wenig aussichtsreich“, warnt Schäfer.
Der Mindestlohn war im Januar 2015 mit 8,
Euro brutto pro Stunde gestartet. Anfang 2017 wur-
de er auf 8,84 Euro erhöht. Im Juni 2018 hatte sich
die Mindestlohnkommission erstmals auf eine
zweistufige Anhebung verständigt: auf 9,19 Euro ab
Januar 2019 und 9,35 Euro ab Januar 2020. Laut
Gesetz muss das Gremium bei seiner Entscheidung
berücksichtigen, dass ein angemessener Mindest-
schutz der Arbeitnehmer gewährleistet ist, faire
Wettbewerbsbedingungen herrschen und keine
Jobs gefährdet werden. Dabei soll es sich „nachlau-
fend an der Tarifentwicklung“ orientieren, also an
den von Arbeitgebern und Gewerkschaften ausge-
handelten Löhnen. So steht es auch in der Ge-
schäftsordnung der Kommission.
Hier setzt die Kritik der Christlich-Demokrati-
schen Arbeitnehmerschaft (CDA) an. Sie hat für
den CDU-Parteitag am 22. und 23. November einen
Mindestlohn
sorgt für
neuen Streit
Der Druck, die Lohnuntergrenze rasch auf zwölf Euro
anzuheben, wächst – selbst aus der Union. Kritiker
warnen vor einem Eingriff in die Tarifautonomie und
Jobverlusten in Zeiten des Abschwungs.
Arbeitsminister
Hubertus Heil:
Die SPD fordert
12,50 Euro
Mindestlohn.
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Wirtschaft
& Politik
MONTAG, 11. NOVEMBER 2019, NR. 217
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