Handelsblatt - 11.11.2019

(Nandana) #1

Antrag eingebracht, in dem die Mindestlohnkom-


mission aufgefordert wird, sich eine neue Satzung


zu geben und „von der geübten Praxis einer quasi-


automatischen Erhöhung anhand des Tarifindex“


abzurücken. „Ich bin enttäuscht und entsetzt über


die Arbeit der Mindestlohnkommission“, sagt dazu


der CDA-Chef und nordrhein-westfälische Arbeits-


minister Karl-Josef Laumann. Die Tarifpartner hät-


ten die Verantwortung für die Entwicklung des


Mindestlohns übertragen bekommen, und das sol-


le auch so bleiben. „Dieser Verantwortung sind sie


aber in keiner Weise gerecht geworden“, kritisierte


Laumann. Der Mindestlohn sei in fünf Jahren ledig-


lich um 69 Cent gestiegen. Die Situation im Niedrig-


lohnbereich sei gar nicht erst angeschaut worden.


Tariflöhne als Maßstab


Eine Abweichung von der Tariforientierung sei der-


zeit aber nur mit Mehrheitsbeschluss der Kommis-


sion möglich, sagt dazu DGB-Mann Körzell. „Einen


solchen Schritt verweigern die Arbeitgeber bisher.“


Die Kommission müsse aber auch in der Lage sein,


„bei Bedarf und unter wissenschaftlicher Beglei-


tung überproportionale Erhöhungen beim Min-


destlohn durchzusetzen“, fordert der Vorsitzende


der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion, Uwe


Schummer (CDU). Das Thema dürfte beim CDU-


Parteitag noch für hitzige Diskussionen sorgen.


Arbeitgeber aus Niedriglohnbranchen sind ange-


sichts der neu entfachten Debatte alarmiert. Von


der Orientierung an den Tariflöhnen dürfe nicht


abgewichen werden, mahnt Sandra Warden, Ge-


schäftsführerin beim Deutschen Hotel- und Gast-


stättenverband (Dehoga). Überproportionale Erhö-


hungen der Lohnuntergrenze würden die betriebs-


wirtschaftlichen Spielräume für eine bessere


Entlohnung der Fachkräfte verringern. „Ein partei-


politischer Überbietungswettbewerb beim Min-


destlohn ist deshalb wirtschaftlich und arbeits-


marktpolitisch unverantwortlich“, sagt Warden.


Bei den Gebäudereinigern gilt heute für die In-


nenreinigung ein tariflicher Mindestlohn von 10,


Euro im Westen und 10,05 Euro im Osten. Die


Branche mit ihren rund 700 000 Beschäftigten,


von denen einige deutlich mehr verdienen, wäre


also von einer Anhebung auf zwölf Euro direkt be-


troffen – sollte kein Tarifvorrang gelten. Wolle der


Staat die Untergrenze anheben, müsse das bundes-


weit, branchenübergreifend und ausnahmslos gel-


ten, um faire Wettbewerbsbedingungen zu sichern,


fordert der Geschäftsführer des Bundesinnungsver-


bands der Gebäudereiniger, Johannes Bungart.


„Wenn die Politik die erfolgreiche Arbeit der Sozi-


alpartner künftig übernehmen will, möge sie aber


nie mehr sinkende Tarifbindung beklagen oder Lo-


beshymnen auf die Tarifautonomie singen.“


30

PROZENT


der Beschäftigten
verdienen
heute weniger
als zwölf Euro
pro Stunde.

Quelle:
Mindestlohnkommission

Jan Zilius


„Politisch und rechtlich höchst


fragwürdiger Eingriff “


Die Stimme des Vorsitzenden der Mindest-
lohnkommission gibt im Zweifel den Aus-
schlag, wenn sich das mit drei Arbeitgeber-
und drei Arbeitnehmervertretern besetzte
Gremium nicht auf eine Anpassung der
Lohnuntergrenze einigen kann. Bislang
musste Jan Zilius, der als früherer Justiziar
der IG Bergbau und Energie und ehemaliger
RWE-Arbeitsdirektor beide Seiten kennt,
aber nie eingreifen. Die bisherigen Be-
schlüsse erfolgten einstimmig.

Herr Zilius, die Gewerkschaften, aber auch
SPD, Grüne oder Linke fordern eine rasche
Anhebung des Mindestlohns auf mindes-
tens zwölf Euro. Was halten Sie davon?
Dafür müsste das Gesetz geändert werden
und ich bezweifele, dass es dafür im Augen-
blick eine parlamentarische Mehrheit
gibt. Bei zwölf Euro liegen wir in
einem Bereich, wo knapp 30
Prozent aller Beschäftigten
heute weniger verdienen.
Wir würden also in einer
Weise in die Tarifautono-
mie eingreifen, die poli-
tisch und rechtlich höchst
fragwürdig ist.

Beim Verdi-Bundeskongress
gab es einen Antrag aus Bay-
ern, den Mindestlohn auf 18,
Euro anzuheben ...
Einige Gewerkschafter sind sich offensicht-
lich nicht bewusst, was das für die eigene
Tarifarbeit bedeuten würde – völlig unab-
hängig davon, ob die Wirtschaft eine solche
Erhöhung verträgt. Schon ein Mindestlohn
von zwölf Euro hätte Ende 2018 in knapp
270 laufende Tarifverträge eingegriffen.

Teilen Sie die Kritik, dass ein Mindestlohn
von weniger als zwölf Euro nicht armuts-
fest ist?
Armut lässt sich mit dem Mindestlohn nur
sehr eingeschränkt bekämpfen. Weniger als
30 Prozent aller Mindestlohnbezieher leben
in armutsgefährdeten Haushalten. Umge-
kehrt ist nur ein Viertel aller Personen aus
armutsgefährdeten Haushalten erwerbstä-
tig. Das Problem liegt nicht in der Höhe des
Stundenlohns, sondern in der Tatsache,
dass der Arbeitsumfang häufig zu gering ist.
Auch mit 13 oder 14 Euro Mindestlohn sind
Sie armutsgefährdet, wenn Sie nur 15 oder
20 Wochenstunden arbeiten.

Die Gewerkschaften argumentieren, man
sei 2015 mit 8,50 Euro Mindestlohn zu
niedrig gestartet, weil der DGB diese Marke
schon fünf Jahre zuvor gefordert hatte.
Dies rechtfertige eine außerplanmäßige Er-
höhung. Können Sie die Argumentation
nachvollziehen?
Ich kann sie nachvollziehen, aber seinerzeit
gab es eben nur für 8,50 Euro eine parla-
mentarische Mehrheit. Und die gleiche Dis-
kussion, die wir damals geführt haben, wird

bei einer Erhöhung auf zwölf Euro erneut
beginnen: Was hat das für Auswirkungen
auf die Gesamtwirtschaft, schließen Betrie-
be und so weiter. Wir wissen heute, dass die
8,50 Euro tragfähig waren. Wir wissen aber
nicht, ob das für zwölf Euro auch gilt.

Damals ist vor massenhaften Jobverlusten
gewarnt worden, die es nicht gegeben hat.
Jetzt aber stecken wir im konjunkturellen
Abschwung. Werden die Kritiker von da-
mals vielleicht doch noch recht behalten?
Die Diskussion hat sich in den letzten Jahren
auch dank der Forschungsarbeit deutlich
versachlicht. Es kann durchaus sein, dass ei-
ne Konjunkturdelle in einzelnen Branchen
zu Jobverlusten führen wird. Das allerdings
jetzt auf den Mindestlohn zurückzuführen,
der vor fünf Jahren eingeführt wurde,
halte ich für ziemlich gewagt.

Kommt der aktuell geltende
Mindestlohn denn wenigs-
tens überall an?
Wir haben leider keine wirk-
lich verlässlichen Daten,
aber es scheint so zu sein,
dass der Mindestlohn in ei-
nem größeren Umfang nicht
eingehalten wird, was natürlich
unbefriedigend ist. Wir haben
schon im letzten Bericht der Kom-
mission gesagt, dass die Compliance ein
Problem ist – und so viel passiert ist seither
nicht. Der Zoll ist ein Stück weit überfor-
dert, weil er es mit einer sehr kleinteiligen
Arbeitgeberlandschaft zu tun hat.

Nach einem Urteil des Europäischen Ge-
richtshofs könnte die lückenlose Arbeits-
zeiterfassung vielleicht bald Pflicht wer-
den. Würde das helfen?
Für die wirksame Kontrolle des Mindest-
lohns ist eine konkrete Erfassung Vorausset-
zung. Und zwar unabhängig von der Ent-
scheidung des Europäischen Gerichtshofs.

Viele Unternehmen suchen händeringend
Arbeitskräfte, und die Nachfrage bestimmt
den Preis. Müssten nicht allein wegen der
Knappheit höhere Löhne gezahlt werden?
Wir reden ja nicht umsonst vom Fachkräfte-
mangel, mit der Betonung auf Fachkräften.
Und da ist in den meisten Fällen nicht der
Personenkreis angesprochen, der vom Min-
destlohn profitiert.

Halten Sie das Verfahren zur Mindestlohn-
bestimmung in der Kommission weiter für
richtig oder sehen Sie Korrekturbedarf?
Das Verfahren hat sich bewährt. Bei den
beiden bisherigen Erhöhungen haben wir
uns ja nicht sklavisch an den Tarifindex ge-
halten, sondern haben, wie es das Gesetz
vorsieht, eine Gesamtabwägung vorgenom-
men.

Die Fragen stellte Frank Specht.


Der Vorsitzende der Mindestlohnkommission hält nichts von


einer Anhebung der Lohnuntergrenze auf zwölf Euro per Gesetz.


Auch deshalb, weil der Mindestlohn aus seiner Sicht nur einen


sehr beschränkten Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten kann.


picture alliance / dpa

Mindestlohn in Deutschland


Allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn in Euro


je Stunde, Gültigkeit jeweils zum Jahresanfang


8,50 €


9,35 €
8,84 €

9 ,19 €


HANDELSBLATT


2015 2017 2019 2020


Quellen: Hans-Böckler-Stiftung, Statista

Wirtschaft & Politik


MONTAG, 11. NOVEMBER 2019, NR. 217


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