National Geographic Germany - 11.2019

(Barry) #1
FRAUEN UND MACHT 11

LINKS
Die US-Schauspielerin Dorothy
Newell erregte 1915 Aufsehen,
als sie die Forderung nach
dem Wahlrecht für Frauen auf
dem Rücken zur Schau stellte –
kaum einen Monat nachdem
Zehntausende Frauen auf der
Fifth Avenue dafür demons-
triert hatten. Zwei Jahre später
durften Frauen in New York
wählen und fünf Jahre später
in den gesamten Vereinigten
Staaten.

ich habe mich immer an diesem Grund-


satz orientiert: Wir können uns dage-


gen wehren, wenn jemand uns dazu


bringen will, uns klein zu fühlen.


Das Schlüsselwort hier heißt „füh-

len“. Als Afroamerikanerin wusste


meine Mutter ganz genau, dass ein


Mensch und besonders eine Frau auf


sehr tiefgreifende Weise auf einen


niedrigeren Rang verwiesen werden


konnte. Gesetze konnten vorschreiben,


wo man leben und arbeiten oder ob


man wählen durfte. Konventionen und


selbst ernannte Statuswächter konn-


ten einen aus der Vorstandsetage oder


dem Klubhaus fernhalten. Aber nie-


mand hat die Macht, in die Seele eines


Menschen einzugreifen und sein Selbst-


bewusstsein zu mindern.


Selbstachtung im Angesicht der

Unterdrückung ist eine Form von


Macht. Auf ihre unaufgeregte Art hat


das auch die deutsche Bundeskanz-


lerin gezeigt. In einem Interview mit


der Zeit erzählte sie Anfang dieses


Jahres: „Schon als Physikstudentin


habe ich Männer an der Uni als sehr


dominant erlebt.“ In den Neunziger-


jahren wurde sie noch als „Kohls Mäd-


chen“ belächelt. Doch 2015 erklärte


das Magazin Time Angela Merkel zu


„Europas mächtigsten Anführerin“


und „Kanzlerin der freien Welt“.


Der Begriff „Macht“ hat verschie-

dene Dimensionen, wenn man ihn


durch die Geschlechterbrille betrach-


tet. Meistens wird er mit rein physi-


scher Kraft assoziiert, die wiederum


mit Leistungsfähigkeit und dadurch


mit Wohlstand verknüpft ist. Die


Grund annahme besteht darin, dass


die gesamte Gesellschaft davon pro-


fitiert, wenn Männer zur Macht erzo-


gen werden: ihre Familien, ihre Ge-


meinden, die Unternehmen, in denen


sie arbeiten. Wenn Frauen davon reden,


Autorität auszuüben, ist es anders


herum. Allzu häufig wird angenom-


men, sie kämen nur auf Kosten der


Männer und zum Schaden der Gesell-


schaft an die Macht.


SIND WIR ENDLICH AN EINEM WENDE-


PUNKT? Ich wurde in den Sechziger-


und Siebzigerjahren groß – in einer


Zeit, in der viel demonstriert wurde.


Mein ganzes Leben lang sehe ich


Frauen schon ihre Rechte einfordern.


Wie bei den meisten Bewegungen


findet der Fortschritt in Sprüngen statt,


es gibt Rückschläge und dann wieder
Zeiten, in denen es schnell voran-
zugehen scheint. Das Equal Rights
Amendment – ein Zusatz zur ameri-
kanischen Verfassung, der die Gleich-
berechtigung der Geschlechter darin
verankern soll – wurde erstmals 1923
dem Kongress vorgelegt. Er wurde bis
heute nicht ratifiziert. Deutschland
verdankt der SPD-Abgeordneten Eli-
sabeth Selbert den Artikel 3, Absatz 2
des Grundgesetzes: „Männer und
Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung
der Gleichberechtigung von Frauen
und Männern und wirkt auf die Be-
seitigung bestehender Nachteile hin.“
Und in der Wirtschaft? Gibt es zwar
die Vorgabe, dass Aufsichtsräte bör-
sennotierter Unternehmen zu 30 Pro-
zent mit Frauen besetzt sein müssen,
doch für die mächtige Vorstandsriege
sowie für das Gros der Wirtschaft gilt
bis heute keine ver bindliche Quote.
Aber in einem anderen Bereich gibt
es einen wichtigen Fortschritt. Er zeigt
sich in der #MeToo-Bewegung – einem
Aufstand mutiger Frauen, die finden,
die Zeit der sexuellen Übergriffe müsse
endlich vorbei sein. Diese Revolte hat
zu neuen Gesetzen, einem größeren
Unrechtsbewusstsein und unmittel-
baren Folgen für Männer geführt, die
zuvor für solche Übergriffe gar nicht
oder nur milde bestraft worden waren.
Die Vorreiterinnen im Kampf für die
Frauenrechte, die Enttäuschungen
gewöhnt sind, hoffen, dass es sich
wirklich um eine anhaltende Bewegung
handelt und nicht nur um ein Stroh-
feuer.

Wir leben in einer Zeit


von Wut und Widerstand,


und es gibt gute Gründe, optimistisch
zu sein. So bewerben sich gleich meh-
rere Frauen in den USA darum, bei den
Vorwahlen zur Präsidentschaftskan-
didatin der Demokraten und 2020
dann in das wohl mächtigste Amt der
Welt gewählt zu werden. Sowohl die
Europäische Kommission als auch die
Europäische Zentralbank werden seit
diesem November von Frauen ge-
führt: Ursula von der Leyen und Chris-
tine Lagarde. Auf diese Weise gelan-
gen auf der ganzen Welt Frauen in
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