Schon allein deshalb, weil die darin
gesammelten Aufnahmen einzig-
artige Zeitzeugnisse sind. Nicht
immer muss einem gefallen, was
man da sieht, das gilt auch für die
Darstellung von Frauen in den ers-
ten Jahrzehnten von NATIONAL
GEOGRAPHIC. Betrachtet man die
Aufnahmen, fällt auf, wie eng die
weibliche Rolle definiert wurde.
Unser Archiv umfasst mehr als
60 Millionen Bilder. Sie sind seit
der Gründung von NATIONAL
GEOGRAPHIC im Jahr 1888 zusam-
mengekommen. Es ist wahrschein-
lich eine der umfassendsten visu-
ellen Sammlungen, die das Leben
von Frauen in ganz unterschiedli-
chen Kulturen dokumentiert.
Anfang des 20. Jahrhunderts
waren die Aufnahmen von einem
eindeutig kolonialistischen Blick
geprägt – Frauen wurden als exoti-
sche Schönheiten in lokaler Tracht
inszeniert oder barbusig gezeigt.
Daran erkennt man, wer damals
hinter der Kamera stand: meist
weiße Männer. Als sich die Kame-
ratechnik weiterentwickelte, wur-
den die Bilder zwar lebendiger, aber
immer noch standen weibliche
Archetypen im Mittelpunkt – Ehe-
frauen, Schwestern, Mütter.
Erst als Frauen während des
Zweiten Weltkrieges in Männer-
domänen die heimische Wirtschaft
am Laufen hielten und auch für die
Streitkräfte arbeiteten, wandelte
sich das Rollenbild. Danach kehrte
das Magazin, dem Zeitgeist ent-
Das Buch „Frauen. Vom
Mut, die Welt zu verän-
dern“ bietet mit rund
400 beeindrucken-
den Fotos aus mehr als
30 Ländern ein Spie-
gelbild des Lebens
von Frauen. Es enthält
Berichte und Anek-
doten von NATIONAL
GEOGRAPHIC-Foto-
grafinnen und Inter-
views mit Prominenten
wie Jane Goodall,
Oprah Winfrey, Laura
Bush, Nancy Pelosi und
Melinda Gates. Der
Bildband ist im Verlags-
haus GeraNova Bruck-
mann erschienen.
Sarah Leen leitet die
Bildredaktion von
National Geographic.
sprechend, zu häuslichen Klischees
zurück; Frauen sorgten stets lä -
chelnd für das Wohl ihrer Lieben.
Bis der Aufschwung der Fotografie
und der neue Zeitgeist in den Sieb-
zigerjahren einen ungeschminkten
Blick auf die Welt eröffneten.
Auch die Geschichte der Frauen
hinter der Kamera dokumentiert
unser Archiv – so wenige es anfangs
auch waren. Als erste Fotografin
überhaupt veröffentlichte Eliza
Scidmore im April 1907 eine Auf-
nahme in NATIONAL GEOGRA-
PHIC. Offenbar war sie 1914 auch
die erste Frau, deren Farb fotos –
handkolorierte Aufnahmen aus
Japan – dort abgedruckt wurden.
Kathleen Revis, die erste festange-
stellte Fotografin, wurde 1953 enga-
giert; die nächsten, Bianca Lavies
und Jodi Cobb, folgten erst 21 und
24 Jahre später. Danach wuchs die
Zahl der Frauen, die unsere Re por-
tagen fotografieren, stetig. Eine von
ihnen war ich: 1988 begann ich als
freie Mitarbeiterin, heute bin ich
Chefin der Bildredaktion.
Vor genau 100 Jahren wurde das
Bildarchiv von NATIONAL GEO-
GRAPHIC gegründet. Das ist auch
deshalb ein Grund zum Feiern, weil
heute mehr Fotografinnen denn
je für uns arbeiten. Nun können
wir echte Geschichten über echte
Frauen erzählen. Wir erkennen an,
dass Fotografinnen andere Schwer-
punkte setzen. Dank ihrer Visionen
können wir Leserinnen und Lesern
die ganze Welt und nicht nur einen
Teil davon nahebringen. N
Aus dem Englischen von Sebastian
Vogel
EIN BILDARCHIV
IST EIN SCHATZ.
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