National Geographic Germany - 11.2019

(Barry) #1
LISA UNGER BASKIN,
Historikerin

Die Annahme, dass
Frauen früher keine
Arbeit in männer­
dominierten Berei­
chen verrichteten,
stimmt einfach nicht.

FRAUEN UND MACHT 17

und erzählt eine ganz andere Ge­


schichte: Frauen schuften seit je in


Jobs, die als „Männerarbeit“ gelten.


„Es ist ungemein wichtig für unsere


Mädchen zu realisieren, was sie errei­


chen können“, sagt die Forscherin.


„Und es ist wichtig für Männer, weib­


liche Leistungen zu sehen. Denn die


Menschen sind jahrhundertelang


darauf konditioniert worden, Frauen


als das weniger fähige Geschlecht


wahrzunehmen – obwohl wir von Be­


weisen dafür umgeben sind, dass das


keinesfalls stimmt.“


Unger Baskin hat viele Jahre damit

verbracht, Belege für Diskriminierung


zu finden. Sie trug eine verblüffende


Sammlung zusammen, die Frauen­


arbeit in Form von Fotografien, Arte­


fakten und Briefen dokumentiert. Ihre


Sammlung, die an der Duke University


im US­Bundesstaat North Carolina


ausgestellt ist, gilt als eine der weltweit


größten Dokumentationen berufstäti­


ger Frauen.


DAS ERGEBNIS: FRAUEN ARBEITEN


SCHON LANGEerfolgreich in Berufen,


die als Männerdomänen gelten: als


Wissenschaftlerinnen, Druckerinnen,


Seefahrerinnen und Mechanikerinnen.


Manchmal verhielten sie sich dabei


absichtlich unauffällig, um keine Auf­


merksamkeit auf sich zu lenken, aber


meist blieben sie einfach wegen ihres


Geschlechts unsichtbar. „Ich denke,


dass diese Geschichten etwas über


Macht und über Entrechtung aussa­


gen“, sagt Unger Baskin. „Die Annah­


me, dass Frauen früher keine Arbeit


in männerdominierten Bereichen


verrichteten, stimmt einfach nicht.“


Ihre Sammlung stellte sie aus Neu­

gier und Verärgerung zusammen. Sie


stieß dabei auf Sara Clarson, die 1831


als Maurerin arbeitete. Auf Nora Allen,


die eine Gruppe von Glasbläsern und


Glasspinnern leitete, die 1888 die USA


bereiste und wunderliche Skulpturen


herstellte. Auf Margaret Bryan, die 1799


die Fächer Mathematik und Astrono­


mie an ihrer Londoner Mädchenschule


einführte. Unger Baskin fand auch


heraus, dass Maria Gaetana Agnesi


Mitte des 18. Jahrhunderts in Mailand


ein vielfach übersetztes mathemati­


sches Lehrbuch schrieb und dass die


deutsche Naturforscherin und Illus­


tratorin Maria Sibylla Merian die ers­


ten Beobachtungen und Zeichnungen


der Insektenmetamorphose in ihrer
natürlichen Umgebung anfertigte.
Unger Baskin spricht über ihre Ent­
deckungen, als wären die Frauen, von
denen sie viele aus der Anonymität
holte, alte Freundinnen. Besonders
berührte sie die Geschichte einer Skla­
vin namens Alsy. Die Historikerin las
ihren Namen erstmals auf einer ärzt­
lichen Bescheinigung aus dem Jahr


  1. Darin beschrieb ein Arzt eine
    Vorrichtung, die er entworfen hatte,
    um Alsys kollabierte Gebärmutter
    abzustützen, damit die Frau „sich
    wieder nützlich machen“ konnte. Als
    Mensch interessierte sein Versuchs­
    objekt niemanden, aber ihre Arbeits­
    kraft war so wichtig, dass man dem
    Arzt eine stattliche Summe bezahlte,
    damit Alsy wieder auf die Beine kam.
    Laut Unger Baskin zeigt diese Ge­
    schichte, wie Frauen zu allen Zeiten
    als minderwertig und dennoch unver­
    zichtbar galten.
    Frauen in Sklaverei finden sich
    ebenso in der Sammlung wie Gegen­
    stände von Autorinnen, etwa von Har­
    riet Beecher Stowe und der Brontë­
    Schwestern. Unger Baskin sieht in der
    Sammlung einen Rückspiegel, der
    Frauen bei ihrem Weg nach vorn Ori­
    entierung geben kann. Indem er zeigt,
    welche Fehler man besser vermeidet.


Eine wichtige Lektion


ist es, alle Beteiligten


mit ins Boot zu holen. Aufstrebende
Frauenorganisationen der Vergan­
genheit bis zurück ins 18. Jahrhun­
dert wurden von weißen, gebildeten
Frauen der Oberschicht angeführt und
kümmerten sich überwiegend um
deren Belange. Selbst Abolitionistin­
nen, die sich für die Rechte von Skla­
vinnen einsetzten, nahmen diese nur
ungern in ihre Reihen auf. Von Har­
riet Beecher Stowe und anderen weißen
Abolitionistinnen weiß man, dass sie
mit ihrer farbigen Mitstreiterin Sojour­
ner Truth Schwierigkeiten hatten und
sie als nicht gleichrangig ansahen.
„Truth war aber keine versklavte Süd­
staatlerin. Sie lebte im Bundesstaat
New York“, erklärte Unger Baskin. Sie
war unabhängig, sprach korrekt, klei­
dete sich gut – verhielt sich in den
Augen der weißen Mitstreiterinnen
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