National Geographic Germany - 11.2019

(Barry) #1

38 NATIONAL GEOGRAPHIC


JOYCE BANDA
EHEMALIGE
PRÄSIDENTIN
VON MALAWI


Der westliche
Feminismus kann
hier nicht funk­
tionieren. [...] In
Afrika waren
Frauen schon
früher Anführerin­
nen. Das haben
sie nicht erreicht,
indem sie Männer
einschüchterten,
sondern indem
sie sie einbezogen
und davon
überzeugten,
Platz zu machen.


heute hat kein Land der Welt die
Gleichstellung der Geschlechter
erreicht. Nordische Länder wie
Island und Norwegen erzielen als
Vorreiter die höchsten Werte im
jährlichen Gleichstellungsindex des
Weltwirtschaftsforums. Der nach
Bevölkerung gewichtete Überblick
misst Geschlechterungleichheiten
in vier großen Bereichen: Gesund-
heit, Bildung, Wirtschaft und Poli-
tik. In der unteren Hälfte der Liste
finden sich Malawi und die meisten
anderen Subsaharastaaten.
Allerdings gibt es innerhalb einer
größeren Region nicht selten er-
hebliche Schwankungen, und zwei
afrikanische Staaten südlich der
Sahara schaffen es sogar in die Top
Ten: Ruanda (Sechster) und Nami-
bia (Zehnter). Ruanda verdankt sei-
ne gute Platzierung zum großen
Teil den Gesetzen zum Schutz von
Frauen, die nach dem verheeren-
den Genozid 1994 erlassen wurden.
Die Ungleichheit der Geschlech-
ter ist nicht an Orte, ethnische
Zugehörigkeiten oder Religion
geknüpft und auch nicht darauf
beschränkt. So belegt etwa Kanada
Platz 16 im globalen Index, wäh-
rend die USA auf Platz 51 stehen.
Grund dafür sind eine Stagnation
im Subindex der politischen Teil-
habe, Rückschritte bei der Parität
der Geschlechter in politischen Ka-
binetten sowie ein Abwärtstrend
bei der Bildung.
Diese Einstufung lässt uns besser
verstehen, welchen Einfluss Frauen
auf der ganzen Welt haben – und
auch, welche Probleme es gibt. Das
gilt besonders für den Nahen Osten
und Afrika: zwei Regionen, die oft
als einheitliche Blöcke betrachtet
werden. Dabei findet man von Land
zu Land große Unterschiede.
„Es gibt nichtdieFrau im Nahen
Osten“, sagt die libanesische Schau-
spielerin und Regisseurin Nadine
Labaki, die im vergangenen Jahr
Filmgeschichte schrieb, als sie für
„Capernaum – Stadt der Hoffnung“,

ihr berührendes arabischsprachi-
ges Drama über Straßenkinder, als
erste Filmemacherin aus dieser
Region eine Oscar-Nominierung
erhielt. „Es gibt viele verschiedene
Frauen, und die meisten von ihnen
sind stark, selbst unter den schwie-
rigsten Lebensumständen“, sagt sie.
„Frauen haben ihre eigene Art, die
Kraft zu finden, um zu kämpfen –
ob in ihren Familien oder am Ar-
beitsplatz. Wenn ich mir eine ara-
bische Frau vorstelle, dann ist die-
se gewiss nicht unterwürfig und
schwach. Niemals.“
Die tunesische Parlamentarie-
rin und Menschenrechtsanwältin
Bochra Belhaj Hamida, eine der
ehemaligen Anführerinnen der
Tunesischen Vereinigung Demo-
kratischer Frauen, hält es für „kolo-
nialistisch“ zu glauben, dass eine
arabische Frau sich mit weniger
Rechten zufriedengibt als eine Frau
aus einem westlichen Land. Was
sich möglicherweise unterscheide,
sei die Art,wie sie diese Rechte ein-
fordere.
Im Iran drängen Aktivistinnen
durch individuellen Protest, in den
sozialen Medien und zu Hause auf
Veränderungen – etwa indem sie
sich der Anordnung der Regierung
widersetzen, den Hidschab zu tra-
gen. In den vergangenen Jahren
nahmen Dutzende von Frauen, oft
in Weiß gekleidet, für Videos an
öffentlichen Orten ihr Kopftuch ab;
die Filme wurden unter dem Hash-
tag #whitewednesdays verbreitet.
Die Anwältin Nasrin Sotoudeh, die
viele der Frauen nach ihrer Verhaf-
tung vertrat, wurde im März 2019 zu
38,5 Jahren Gefängnis und 148 Peit-
schenhieben verurteilt.
Und doch entschied nach einer
jahrelangen Kampagne der Aktivis-
tinnen im Oktober 2019 dieselbe
geistliche Führung, die Frauen für
das Abnehmen ihres Kopftuchs
bestrafte, dass Iranerinnen ihre
Staatsbürgerschaft an Kinder von
ausländischen Vätern weitergeben
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