National Geographic Germany - 11.2019

(Barry) #1
ZUKUNFT GESTALTEN 51

erinnert sich noch gut daran, wie


sie unter der weltlichen Diktatur


von Bourguiba und Ben Ali zum


Schweigen gebracht wurde. Sie


hatte Schwierigkeiten, eine Schule


zu finden, die sie aufnahm, weil sie


den Schleier trug – bis sie schließ­


lich einen Platz an einer christ­


lichen Schule bekam. Jetzt wollen


sie und ihre verschleierten Freun­


dinnen gehört werden. Aber sie ist


der Ansicht, dass die Gleichstel­


lung im Erbrecht dem islamischen


Rechtssystem widerspricht.


Wie jede andere politische Ideo­

logie ist auch der Islamismus kein


einheitliches Gebilde. Selbst unter


den Anhängern der Ennahda­Partei


gibt es verschiedene Ansichten.


Meherzia Labidi ist Parlamentarie­


rin und ehemalige stellvertretende


Parlamentssprecherin. Wie Maalej


trägt sie den Schleier, und auch sie


erinnert sich noch an die religiöse


Unterdrückung. Doch da hören die


Ähnlichkeiten zwischen den bei­


den Frauen auch schon auf.


Labidi, die sich selbst als Post­

feministin beschreibt, ist der Mei­


nung, dass die tunesischen Frauen


einander zuhören müssen. „Und


überall in der arabischen musli­


mischen Welt müssen wir vor al­


lem unsere Stimme von den Ultra­


säkularen und den Ultrareligiösen


zurückholen.“


Labidi ist stolz auf Tunesiens

Fortschritte bei den Frauenrechten


und darauf, dass ihr Land mit der


Diskussion um Kernthemen wie


Gleichheit im Erbrecht wieder ein­


mal der restlichen arabischen Welt


mit gutem Beispiel vorangeht. „Wo


die Demokratie Fortschritte macht,


geht es auch für die Frauenrechte


voran, weil wir reden und handeln


dürfen.“ Von oben diktierte Ver­


änderungen zugunsten der Frauen


würden eher nicht angenommen.


Für Labidi ist das „universelle

Erbe des Feminismus“ eine Brücke,


die Frauen an unterschiedlichen


Enden des Aktivistenspektrums


zusammenbringen kann. Doch
auch sie hat eine Botschaft für die
Feministinnen in westlichen Län­
dern: „Hört auf, in unserem Namen
und für uns zu sprechen. Denn wer
für uns spricht, der nimmt uns un­
sere Stimme.“
Die Regisseurin Labaki glaubt
ebenfalls fest daran, dass Frauen
ihre eigenen Geschichten erzählen
müssen. In ihren Filmen – begin­
nend mit ihrem Debüt „Caramel“
aus dem Jahr 2007, das einen Blick
auf das Leben von fünf libanesi­
schen Frauen in einem Beiruter
Schönheitssalon wirft – befasst
sie sich mit universellen Themen
im Patriarchat und sozialen Miss­
ständen wie der Armut. In „Caper­
naum – Stadt der Hoffnung“ wen­
det sie ihren Blick den Kindern zu,
die auf der Straße leben. Inspiriert
hat sie zum Teil das berührende
Foto des syrisch­kurdischen Klein­
kinds Alan Kurdi, das an einem
türkischen Strand angespült wor­
den war, während seine Familie vor
dem Krieg in Syrien floh. Dieses
Bild, sagte sie, sei ihr „großer Wen­
depunkt“ gewesen.
„Ich weiß noch, wie ich dachte:
Wenn dieses Kind reden könnte,
wie wütend wäre es nach allem,
was wir es durchmachen ließen?“
Labaki nimmt es als Kompliment,
wenn Menschen ihr sagen, dass sie
beim Betrachten ihrer Filme spü­
ren, dass eine Frau hinter der Ka­
mera stand.
2016 kandidierte Labaki für einen
Sitz im Beiruter Stadtrat, den sie
jedoch nicht gewann. „Irgendwann
wirst du zur Aktivistin, ohne es zu
wollen“, sagt sie. „Für mich ist das
keine Frage des Wollens, es ist in­
zwischen meine Pflicht.“
Labakis Frage lautet: „Wie setzen
wir echte Veränderungen in Gang?“
Und sie erklärt: „Ich möchte es auf
meine Art tun, über meine Platt­
form, mit meiner Stimme.“N
Aus dem Englischen von Susanne
Schmidt-Wussow

Nach einem Jahr-
zehnt als Jordaniens
lauteste Stimme für
Barrierefreiheit starb
Aya Aghabi im August
2019 im Alter von
28 Jahren. Nach einem
Autounfall, bei dem
ihr Rückenmark verletzt
wurde, war sie auf
den Rollstuhl angewie-
sen. Im Rahmen ihrer
Abschlussarbeit im kali-
fornischen Berkeley
entdeckte sie, wie un-
abhängig Menschen
im Rollstuhl sein kön-
nen. In ihrem Land, in
dem viele Orte für Behin-
derte kaum zugänglich
sind – hier der Herkules-
tempel in Amman –
machte sie Mobilitäts-
beratung zu ihrem
Beruf und richtete die
Website Accessible
Jordan ein, einen
Online-Reiseführer für
Jordanier und Touristen
mit Behinderungen.

JORDANIEN

KÄMPFERIN FÜR


BEHINDERTE


Die Fotojournalistin
Lynn Johnsonerhielt
2019 den Eliza
Scidmore Award.
Die AutorinRania
Abouzeidist Stipen­
diatin der Nieman
Fellowship an der
Harvard University.
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