Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1

Ingo Narat, Frank Wiebe Frankfurt


E


s war eine Konferenz der besonderen
Art. Die DVFA, der Verband deutscher
Finanzanalysten, veranstaltete am
Donnerstag in Frankfurt ein „Geldpoli-
tik Forum“, eingeladen waren aller-
dings überwiegend Kritiker und Gegner der Euro-
päischen Zentralbank (EZB). Am Vormittag artete
die Diskussion zeitweise derart aus, dass der Wirt-
schaftsweise Volker Wieland als Hausherr der Ver-
anstaltung in der Frankfurter Uni eingreifen muss-
te. Nachmittags wurde der Ton zwar deutlich sach-
licher. Mit Ulrich Bindseil kam dann auch ein pro-
minenter Abteilungsleiter der EZB zu Wort und
konnte die Geldpolitik seiner Institution verteidi-
gen. Aber die zumindest teilweise aus dem Ruder
gelaufene Veranstaltung der renommierten DVFA
zeigt, wie sehr die Politik der EZB inzwischen pola-
risiert. Ein weiteres Zeichen dafür, wie schwer es
für die neue EZB-Chefin Christine Lagarde werden
wird, wieder für mehr Konsens in Sachen Geldpo-
litik zu sorgen, innerhalb und außerhalb der No-
tenbank.
Die geladenen Ökonomen waren sich über weite
Strecken einig. Die EZB produziert mit ihrer locke-
ren Geldpolitik aus ihrer Sicht „Zombies“, also halb
tote Unternehmen, die bei höheren Zinsen gar
nicht überlebensfähig wären. Oder, wie es Ludger
Schuknecht von der OECD formulierte, der
„Schumpeter‘sche Prozess“ sei auf diese Weise in-
frage gestellt. Der Ökonom Joseph Schumpeter hat-
te von der „schöpferischen Zerstörung“ im Kapita-
lismus gesprochen. Die EZB beeinträchtigt nach
dieser Auffassung den Ausleseprozess und ist da-
mit für die schwache Produktivität verantwortlich.
„Die EZB wird zu einem Hemmschuh der Entwick-
lung, ich glaube, das ist auch empirisch belegt“,
warnte der Münchener Professor Bernd Rudolph.
Ihr Bemühen, die niedrige Inflation anzuheben, sei
übertrieben und gefährde die Finanzstabilität. Und
immer wieder kam die Andeutung, in Wahrheit
diene die Geldpolitik nur den Interessen hochver-
schuldeter Euro-Staaten. Außerdem schienen im-
mer wieder Visionen von Blasen an den Märkten
und von künftigen wirtschaftlichen Zusammenbrü-
chen auf.

Gegen ein Punktziel bei der Inflation
Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank, ver-
trat die Meinung, die EZB könne die Inflation ohne-
hin kaum beeinflussen, weil sie durch externe Ef-
fekte wie die Globalisierung niedrig gehalten wer-
de. Er schlug statt eines „Punktziels“ von knapp
zwei Prozent bei der Inflation eine Spanne zwi-
schen 1,25 und 2,25 Prozent vor. „Es ist eine Mär,
dass niedrige Inflation schadet“, sagte er. Er ver-
wies auf eine Untersuchung der Bank für Interna-
tionalen Zahlungsausgleich (BIZ), nach der in der
Vergangenheit selbst Phasen einer leichten Deflati-
on, also fallender Preise, keine größeren Probleme
mit sich gebracht hätten. Seiner Meinung nach soll-
te die EZB neben den stabilen Preisen auch die Sta-
bilität des Finanzsystems im Auge behalten, er
sprach von einer „umfassenden Stabilisierung“.
Notenbanker verweisen gerne darauf, für die Fi-
nanzstabilität seien die Aufseher zuständig. Krämer
ist aber überzeugt, dass diese Behörden auf Dauer
überfordert seien, gegen eine zu expansive Geldpo-
litik anzukämpfen.
Gunther Schnabl von der Uni Leipzig monierte,
die EZB solle statt der Verbraucherpreise, die sie
ohnehin nicht mehr beeinflussen könne, ihr Au-
genmerk auf die Vermögenspreise richten. Er for-
derte, die Zinsen ohne Rücksicht auf die Inflation
schrittweise zu erhöhen, zum Beispiel um einen
Viertelprozentpunkt pro Jahr. Ein angemessenes
Zinsniveau vermutete er bei vier bis fünf Prozent.
„So kommt es zu einem stabilen Drive, der den
Menschen eine positive Perspektive gibt“, sagte er.
Am Tag zuvor hatte Schnabl bereits bei einer
Veranstaltung des Vermögensverwalters Flossbach

Professoren

kontra EZB

Eine renommierte Analystenvereinigung lud in Frankfurt zum
„Geldpolitik Forum“. Die Konferenz zeigt, wie erbittert und
polemisch die Debatte um die EZB inzwischen geführt wird.

Mario Draghi: Der gerade ausgeschiedene EZB-Präsident ist in Deutschland unbeliebt.


Tim Wegner/laif [M]


Finanzen


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(^26) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211

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