Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1

von Storch so argumentiert. Deren Chefökonom
Thomas Mayer hatte darauf gesagt: „Schnabls For-
derung wird niemand nachkommen. Wir haben es
mit einer asymmetrischen Geldpolitik zu tun: Man
lässt die Party laufen, wenn es nach oben geht,
greift nur ein, wenn es nach unten geht. Deshalb
rechne ich in der nächsten Rezession mit einer grö-
ßeren Finanzkrise. Dann stellt sich die Frage nach
einem Systemwechsel.“
Schnabl kritisierte bei dem DVFA-Kongress auch,
die Inflation werde zu niedrig ausgewiesen, weil
dabei keine Qualitätsminderungen eingerechnet
werden. „Dabei gibt es Qualitätsminderungen
überall, das Essen schmeckt nicht mehr,
das Spielzeug und die Möbel sind aus
Plastik“, kritisierte er. Dienstleis-
tungen werden nach seiner Mei-
nung auch immer schlechter:
„Überall muss man sich selber
bedienen.“ Als die Debatte
sich dann in der Frage verlor,
wo man mit oder ohne Bedie-
nung Brötchen kaufen kann,
schritt Wieland ein: „Jeder
kann Brötchen kaufen, wo er
will, das hat nichts mit Geldpoli-
tik zu tun.“ Schnabl warnte er, es
sei sehr gefährlich, von der Geldpoli-
tik die direkte Orientierung an Vermö-
genspreisen zu verlangen. In der Tat würde
das ja auch darauf hinauslaufen, die viel beklagte
Manipulation der Kapitalmärkte durch die EZB
auch noch zum Prinzip zu machen.
Noch wilder wurde es, als mit den Professoren
Christoph Degenhart aus Leipzig, Stefan Homburg
aus Hannover und Markus Kerber von der TU Ber-
lin bekannte EZB-Gegner aufs Podium kamen.
Homburg ist Ökonom, die anderen beiden sind Ju-
risten und griffen auch scharf den Europäischen
Gerichtshof an, der die umstrittenen Anleihekäufe
der EZB abgenickt hatte. Zu den dreien wurde mit
Stefan Schneider ein mitunter beinahe einge-
schüchtert wirkender Ökonom der Deutschen
Bank gesetzt, der hin und wieder etwas Ruhe in
die Diskussion zu bringen versuchte.
Kerber kritisierte das vielfach zitierte und auch
von vielen seiner Kritiker gelobte Versprechen von
EZB-Präsident Mario Draghi aus dem Jahr 2012, er
werde, „was immer nötig ist“, zur Rettung des
Euros tun, als Überschreitung des Mandats der No-
tenbank. Dabei unterschlug er, dass „Signor Drag-
hi“, wie er ihn nannte, deutlich gesagt hatte, er
werde dieses Ziel „im Rahmen des Mandats“ ver-
folgen. Kerber legte nach: „Die EZB postuliert die
Freiheit von Recht.“ Er warf ihr „Allmachtsfanta-
sien“ und einen Anspruch auf Souveränität vor, der
mit dem einstigen Führungsanspruch Hitlers in der
Formulierung des berüchtigten Staatstheoretikers
Carl Schmitt vergleichbar sei.
Es blieb einem Teilnehmer aus dem Publikum
überlassen, speziell dieser Geschichtsklitterung
entgegenzutreten. Der Teilnehmer verwahrte sich
auch gegen die Unterstellung, die Geldpolitiker
handelten vor allem im nationalen Interesse ihrer
jeweiligen Herkunftsländer. Im Laufe der Diskussi-
on deutete Kerber an, „die Griechen“ seien gar kei-
ne richtigen Europäer – und gehörten daher auch
nicht in die EU. Kerber erhielt Schützenhilfe von
Degenhart. Der Juraprofessor sprach von einer
„Entgrenzung des Mandats der EZB und der Ermu-
tigung durch den Europäischen Gerichtshof “. Öko-
nom Homburg wiederum meinte: „Die EZB ver-
stößt vollkommen offensichtlich gegen ihr Mandat,
und das wird von der Politik und den Medien ta-
buisiert.“ Schneider und Wieland versuchten, dem
Ökonomie-Professor, der auch die verschiedenen
Programme der EZB durcheinanderwarf, ein paar
grundlegende Erkenntnisse zur Geldpolitik zu ver-
mitteln – ob mit Erfolg, war nicht abzusehen. Wie-
land versuchte schließlich, die gesamte Diskussion


wieder einzufangen. Er bemängelte deutlich die
„Einseitigkeit“ des Podiums und sagte zum Diskus-
sionsverlauf: „Wir sind hier nicht nur auf die schie-
fe Bahn geraten. Wir sind komplett abgerutscht.“
Die Kritik zeigt, dass die neue EZB-Chefin Lagar-
de es nicht leicht haben wird. Auf ihr ruht die Hoff-
nung, sie werde die Geldpolitik der EZB der deut-
schen Öffentlichkeit besser als bisher erklären und
damit auch schmackhaft machen. In dem Zusam-
menhang wird sie aber auf die Ablehnung vieler
deutscher Ökonomen treffen, während sie selbst
keine Ökonomin, sondern Juristin ist.
Seit Langem schon ist die EZB in Deutschland
der Kritik von namhaften Volkswirten
ausgesetzt. Zum Teil betrifft das auch
ehemalige Notenbanker, so hat
sich mehrfach der frühere EZB-
Chefvolkswirt Otmar Issing
sehr distanziert zur heutigen
Geldpolitik der Notenbank
geäußert. Zusätzlich ist vor
allem nach der EZB-Sitzung
im September auch intern
die Spaltung zwischen den
Anhängern des scheidenden
EZB-Präsidenten Mario Draghi
und seinen Gegnern tiefer ge-
worden. Bundesbank-Präsident
Jens Weidmann hat gleich nach der Sit-
zung die Beschlüsse zu neuen Anleihekäu-
fen kritisiert. Klaas Knot und Robert Holzmann, die
Chefs der nationalen Notenbanken in den Nieder-
landen und in Österreich, sind mit einer ähnlichen
Zielrichtung ebenfalls an die Öffentlichkeit gegan-
gen.
Diese kritischen Ökonomen halten die Reaktion
der EZB auf die relativ niedrige Inflation für stark
übertrieben. Während Draghis Anhänger, und zum
Beispiel auch der neue EZB-Chefvolkswirt Philip
Lane, eine Inflation unter dem angestrebten Ziel
von knapp zwei Prozent ebenso deutlich wie eine
Überschreitung bekämpfen wollen, hält Weidmann
eine weitaus größere Geduld bei einer zu niedrigen
Inflation für angebracht. Issing vertritt die Mei-
nung, dass nur eine sich selbst verstärkende Defla-
tion, also ein beschleunigter Preisverfall, entschie-
den bekämpft werden müsse.
Anleihekäufe gelten bei den Kritikern zum Teil
als indirekte Staatsfinanzierung. Bei einigen von ih-
nen klingt immer wieder der unverhohlene Vor-
wurf an, die EZB wolle in Wahrheit schwache Staa-
ten im Süden der Währungsunion stützen oder sie
trage jedenfalls durch ihre niedrigen Zinsen dazu
bei, dass dort die Notwendigkeit grundlegender
Reformen nicht spürbar sei.
Eine Zeit lang hat in Deutschland auch die Dis-
kussion um die sogenannten Target-2-Salden eine
Rolle gespielt, über die Zahlungen zwischen natio-
nalen Notenbanken, die jeweils über die EZB lau-
fen, verrechnet werden. Der bekannte Ökonom
Hans-Werner Sinn hat diese Salden immer wieder
als Kredite bezeichnet und einen Abbau oder eine
Besicherung verlangt. Allerdings stimmen längst
nicht alle deutschen Ökonomen in diese Kritik ein.
Isabel Schnabel etwa, die neu für das EZB-Direkto-
rium vorgeschlagen wurde, bemüht sich um eine
differenzierte Argumentation und ist Sinns Vorwür-
fen entschieden entgegengetreten.
Bei der Veranstaltung der DVFA hatte am Nach-
mittag der EZB-Abteilungsleiter Bindseil die Chan-
ce, eine etwas andere Sichtweise in die Diskussion
zu bringen. Er erläuterte, die EZB orientiere sich an
dem „natürlichen Gleichgewichtszins“, den man
auch als Summe aus Wachstums- und Inflationser-
wartungen abschätzen könne. Weil diese Summe
sehr niedrig sei, steuere die EZB dagegen. Seiner
Ansicht nach stünde die Euro-Zone ohne diese
Geldpolitik weitaus schlechter da. Eine Einschät-
zung, mit der er sich an diesem Tag, an diesem Ort
ziemlich einsam vorgekommen sein dürfte.

Geldpolitik


Allgemeine


Lockerung


N


icht nur bei der Europäischen Zentralbank
stehen die Zeichen auf einer Lockerung
der Geldpolitik. Auch die anderen großen
Notenbanken senken die Zinsen oder bereiten die
Märkte zumindest verbal auf weitere Maßnahmen
vor. Die Zentralbanker treibt die Angst vor den
Folgen der Handelskonflikte und vor einer emp-
findlichen Abkühlung der Konjunktur um.
Am Donnerstag hat die Bank of Japan (BoJ) mit
einem deutlicheren Hinweis als zuletzt die Bereit-
schaft für eine künftige Senkung ihrer Leitsätze
signalisiert. Sie beließ ihr Ziel für den kurzfristi-
gen Zinssatz zwar unverändert bei minus 0,1 Pro-
zent und bekräftigte erneut ihr Versprechen, die
Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen bei um
die null Prozent zu halten. Neu ist jedoch der
Ausblick, mit dem die BoJ ihre Bereitschaft deut-
licher machte, die Zinsen bei Bedarf weiter zu
senken. Damit trug sie Sorgen Rechnung, dass
die weltwirtschaftlichen Risiken die fragile Erho-
lung in Japan abwürgen könnten.
Die Notenbank geht nun davon aus, dass die
kurz- und langfristigen Zinsen so lange wie nötig
auf dem derzeitigen oder einem niedrigeren Ni-
veau bleiben. Bislang war ihre Sprachregelung,
die derzeitigen ultratiefen Zinsen über einen län-
geren Zeitraum beizubehalten, mindestens bis
zum Frühjahr 2020. „Die BoJ wollte die Erwar-
tungen des Marktes aufrechterhalten, dass eine
weitere Lockerung noch möglich ist“, sagte Ma-
saaki Kanno, Chefökonom bei Sony Financial
Holdings.
Bereits am Mittwochabend hat die US-Noten-
bank Federal Reserve ihren Leitzins erneut ge-
senkt. Auch dieses Mal schraubte die Fed den
Zinssatz um einen Viertelpunkt auf die neue
Spanne von 1,5 bis 1,75 Prozent nach unten. Die
Märkte hatten mit der Zinssenkung gerechnet.
Was sie wirklich interessierte, waren die Worte
von Fed-Gouverneur Jerome Powell, ob es zu
weiteren Zinssenkungen kommt oder nicht.
Anders als seine Kollegen in Japan zeigte sich
Powell relativ optimistisch, was die Wirt-
schaftsentwicklung angeht. Gleich mehr-
fach betonte er, dass das Inflationsrisiko
derzeit gering sei und dass die Aufgabe
der Fed darin bestehe, die Arbeitslosig-
keit so niedrig und die Preise so stabil wie
möglich zu halten. Auch das „Risiko eines
No-Deal-Brexits ist gesunken“, erklärte er
einen der Gründe für seinen Optimismus.
„Es sieht so aus, als habe es die Fed erfolgreich
geschafft, die Zinsen zu senken; und gleichzeitig
ist es ihr gelungen, ohne große Marktreaktionen
auszulösen, die Botschaft zu vermitteln, dass sie
zu pausieren beabsichtigt“, lobt David Joy, Markt-
stratege von Ameriprise. Auch Craig Veysey, Port-
foliomanager bei Man GLG, schreibt, die Fed ha-
be signalisiert, dass sie ihren Job kurzfristig erle-
digt habe. „Mit den Aktienmärkten auf
Rekordhöhe und der zehnjährigen Treasury-Ren-
dite immer noch auf historisch niedrigem Niveau
haben sich die Konditionen eindeutig verbessert
seit der ersten Zinssenkung im Juli.“ Zuletzt hatte
die Fed im September und im Juli die Zinsen ge-
senkt, um die vom Zollkonflikt mit China ausge-
henden Gefahren für die Wirtschaft abzumildern.
Mit der Zinssenkung erfüllte Powell die Erwar-
tungen der Investoren und kommt dem US-Präsi-
denten Donald Trump entgegen. Der macht seit
Langem Druck auf den Fed-Chef, eine lockere
Geldpolitik durchzusetzen, um die amerikani-
sche Konjunktur nicht abzuwürgen. Für Trump
ist es auch für seine Wiederwahl wichtig, dass die
Wirtschaft weiter gut läuft und die Wähler zufrie-
den sind. Lange hatte sich Powell dem Druck aus
Washington widersetzt. Doch im Sommer haben
ihn die zuletzt vom Handelskrieg ausgelösten Fol-
gen für die Konjunktur überzeugt, die Zinsen
doch wieder zu senken. kk/rtr

Jerome Powell:
Der Fed-Chef
senkte erneut
die Zinsen.

Xinhua / eyevine / laif


Es ist eine Mär,
dass niedrige
Inflation schadet.
Jörg Krämer
Chefökonom der
Commerzbank

Finanzen & Börsen
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WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211^27

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