Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1

Martin Kölling Tokio


T


okio liegt Shingo Tsuji zu
Füßen. Der Chef des Im-
mobilienentwicklers Mo-
ri Building steht auf ei-
ner Empore in einer rie-
sigen Halle seines Unternehmens,
unter ihm eine maßstabsgetreue
Nachbildung von Tokios Zentrum aus
Styropor. Im Norden ragt ein Modell
des 630 Meter hohen Fernsehturms
Tokyo Skytree empor, 20 Meter – in
der Realität 20 Kilometer – weiter
südlich liegen die Hochhäuser des
Geschäftsbezirks Shinagawa.
An einem Ort ist Moris Tokio dem
realen Vorbild schon um Jahre vo-
raus: Mitten im Stadtteil Azabu, süd-
westlich des Zentrums gelegen, steht
bereits etwas, das einmal Japans
höchstes Hochhaus werden soll: ein
330 Meter hoher Büro- und Wohn-
turm. Er ist Teil des Toranomon-Aza-
budai-Projekts von Mori, das im Au-
gust begann und im März 2023 fertig-
gestellt werden soll. „Es ist das größte
Stadtentwicklungsprojekt, das Mori
Building je durchgeführt hat.“ Es ist
die posthume Krönung der städtepla-
nerischen Vision des verstorbenen
Patriarchen Minoru Mori: die radika-
le Verwandlung japanischer Städte in
Metropolen mit Skyline.
Mit 39 Millionen Einwohnern ist
der Großraum Tokio der Vorreiter al-
ler Megacitys. Hier lässt sich erah-
nen, wie sich die Metropolen der
Welt entwickeln könnten – mit wel-
chen Wohnformen, aber auch mit
welchen Problemen. Der Wohntrend
geht ganz klar in die Höhe. Doch das
stößt nicht immer auf Gegenliebe.
Die Urbanisierung ist ein weltwei-
ter Trend. Die Vereinten Nationen
schätzen, dass 2050 zwei Drittel aller
Menschen in Städten leben werden.
Schon bis 2030 werde die Zahl der
Megacitys mit mehr als zehn Millio-
nen Einwohnern auf 43 steigen. 1990
waren es gerade einmal zehn.
Für die Stadt der Zukunft setzt Mo-
ri auf den Nutzungsmix: Auf dem 8,1
Hektar großen Areal des Toranomon-
Azabudai-Projekts bauen die Stadt-
entwickler neben dem Hauptturm
zwei über 200 Meter hohe Wohnrie-
sen, inklusive Luxushotel und inter-
nationaler Schule als Magnet für den
heimischen und globalen Jetset. An
ihrem Fuß erstrecken sich flachere
Designergebäude, Grün- und Sport-
flächen. Die Bauherren erwarten
35 Millionen Besucher pro Jahr sowie
täglich mehr als 20 000 Angestellte
und 3 500 Einwohner, die in dem
Komplex wohnen, arbeiten, einkau-
fen und sich amüsieren sollen.
Architektonisch hatte sich Minoru
Mori so den Gegenentwurf zum alten
Tokio vorgestellt. Die Metropole mit
ihren verwinkelten Gassen, einer re-
lativ flachen Bebauung und weit ent-
fernten Schlafburgen in den Vorstäd-
ten war Mori zu chaotisch und zu un-
komfortabel. Statt stundenlang zu
pendeln, wohnen die Tokioter in Mo-
ris Vision näher an ihren Arbeitsplät-
zen und dank üppiger Bepflanzung
zwischen, an und auf den Hochhäu-
sern mehr im Grünen als bisher. Be-
reits 1986 machte Mori mit Ark Hills
die erste Vision seines Traums wahr,
und er hat seitdem weitere städte-
bauliche Akzente in Tokio gesetzt.
Steigende Nachfrage
Am meisten dürfte Mori allerdings
freuen, dass er mit seiner anfangs be-
lächelten Vision einen regelrechten
Boom ausgelöst hat. Zwischen 1990
und 2018 schoss die Zahl der „Tower
Mansions“, wie die Japaner Wohn-
hochhäuser mit mehr als 20 Stock-
werken nennen, von 42 auf 1 371 em-

por, besagt eine Statistik des Immobi-
lienmarktforschers Tokyo Kantei.
Laut der Wirtschaftszeitung „Nikkei“
wohnten 2015 inzwischen rund
500 000 Tokioter in Wolkenkratzern


  • und zwei Millionen Menschen lan-
    desweit, doppelt so viele wie zehn
    Jahre zuvor. Die heiße Phase des Bau-
    booms ist zwar inzwischen vorbei,
    doch noch ist kein Ende des Turm-
    baus in Sicht. Die Zahl der neuen
    Projekte ist zwar von 97 im Rekord-
    jahr 2007 auf 30 bis 50 Bauten pro
    Jahr abgeflaut. Doch Koichiro Obu,
    Head of Research der DWS Japan,
    sieht optimistisch in die Zukunft:
    „Ich erwarte, dass sich die Entwick-
    lung der Tower Mansions fortsetzt.“
    Während Deutschland noch über
    Nachverdichtung spricht, macht Ja-
    pan ernst: Allein im Großraum Tokio
    hat „Nikkei“ 183 weitere geplante
    Wohnhochhausprojekte gezählt.
    Städteplaner rechnen damit, dass die
    Einwohnerschaft der zentralen Bezir-
    ke der Stadt in den kommenden Jahr-
    zehnten um ein bis zwei Millionen
    Menschen zunehmen wird. Ein
    Grund dafür ist laut Obu die weiter-
    hin hohe Nachfrage nach Hochhaus -
    apartments. Gerade für jüngere Japa-
    ner, die mehr Wert auf Work-Life-
    Balance und eine Berufstätigkeit der
    Frau legen als bisherige Generatio-


nen, ist das Einfamilienhaus in den
Vororten weniger erstrebenswert.
In Tokio treibt die Kombination aus
billigem Geld und Zuzug die Preise
seit einigen Jahren wieder in die Hö-
he. „Der Marktwert meiner Wohnung
im Tokioter Stadtteil Shinjuku, die ich
mir vor zehn Jahren gekauft habe, hat
sich verdoppelt“, freut sich ein Eigen-
tümer in einem Wohnblock aus den
1980er-Jahren, der am Markt bereits
als Altbau gilt. Verstärkt wird der Hö-
henrausch von der Geldpolitik und
der Tatsache, dass die Notenbank
nach zwei Jahrzehnten Nullzinspolitik
inzwischen sogar Minuszinsen tole-
riert. Der Quadratmeterpreis neuer
Hochhauswohnungen nähert sich laut
Tokyo Kantei selbst in Städten wie
Osaka und Nagoya wieder Werten aus
den Zeiten der Aktien- und Immobi-
lienblase an, die 1990 platzte und Ja-
pans Bodenpreise für Jahrzehnte kol-
labieren ließ. Inzwischen schrillen am
Markt erste Alarmglocken. Der Bank
of Japan bereitet vor allem das stei-
gende Verhältnis von Immobilienkre-
diten zur Wirtschaftsleistung Sorgen.

Hassliebe zum Hochhaus
An einigen Orten in Japan regt sich
Widerstand gegen die Verwandlung
der Zentren in hochaufragende Stäb-
chenstädte. Die Millionenstadt Kobe

hat im Juni eine Anordnung erlassen,
die den Bau von Hochhäusern in der
Innenstadt unterbinden soll. Ab Juli
2020 wird der Bau neuer Wohnhoch-
häuser auf 23 Hektar Fläche um den
Sannomiya-Bahnhof grundsätzlich
verboten. Auf anderen Flächen wird
der Hochhausbau strenger reglemen-
tiert. „In der Gegend um Sannomiya
gibt es ein Problem mit übermäßiger
Konzentration der Bevölkerung“, er-
klärte Kobes Bürgermeister Kizo Hi-
samoto den Schritt. Aber eigentlich
befürchtet die Stadtregierung, dass
die Wohnhochhäuser die kommer-
zielle Funktion des Stadtzentrums
schwächen und damit ausgerechnet
Kobes Spitzenlage in eine Schlafstadt
für die nahe Megacity Osaka verwan-
deln. Bürgermeister Hisamoto will
daher lieber Büros und Kaufhäuser
statt Wohnriesen ansiedeln.
Seine Sorge ist nicht unbegründet,
wie das Beispiel der Bahnstation Mu-
sashi-Kosugi in Kawasaki südlich der
Tokioter Stadtgrenze zeigt. Wegen
der guten Anbindung an mehrere
wichtige Zentren des Großraums sind
dort seit 2008 14 Hochhäuser mit
7 000 Wohnungen entstanden. Was
die Neubürger an Fahrminuten zur
Arbeit einzusparen hofften, geben sie
nun jeden Tag beim Warten auf die
Züge drauf. In den Stoßzeiten reicht
die Schlange der Pendler bis auf den
Bahnhofsvorplatz.
Noch ist Kobe eine Ausnahme.
Selbst in Toshima, einem der am
dichtesten bevölkerten Stadtteile To-
kios, ist der Wunsch nach Wohnhoch-
häusern ungebrochen. Der Bezirk
versuche insbesondere, junge Famili-
en mit Kindern anzuziehen, erklärt
Asako Miyata, Direktorin des Zen-
trums für familienfreundliche Stadt-
planung. So will Toshima wenigstens
im Kleinen den großen demografi-
schen Trend in Japan wenden: den
immer rasanteren Rückgang der Be-
völkerung. Wer Zuzug möchte, muss
auch in die soziale Infrastruktur in-
vestieren. Durch massive Subventio-
nen hat der Bezirk die Wartelisten für
Kindergärten abgeschafft, die mit
dem Hochhausboom länger gewor-
den waren. Untergebracht wurden
die Einrichtungen unter anderem in
den Hochhäusern. Ehemalige Läden
oder Büros wurden in Horte umge-
wandelt. Ein Symbol der familien-
und gemeinschaftsfreundlichen Poli-
tik seien auch die öffentlichen Toilet-
ten in Parks und auf Spielplätzen, er-
zählt Miyata. Gleichzeitig investierte
die Stadt in Kultur wie etwa eine öf-
fentliche Theaterarena am Bahnhof.
„Das Problem ist, dass Zuzügler nicht
Teil der alten lokalen Gemeinschaften
sind“, erklärt Miyata. Für Stadtplaner
ist es auch in boomenden Gebieten
seit jeher eine der größten Aufgaben,
neben Neubau auch ein lebendiges
Miteinander zu schaffen.

Japan


Turmbau zu Tokio


Die japanische Hauptstadt ist der Archetyp einer
Megacity. Hier lassen sich die Wohnformen und
Probleme der Großstadt-Zukunft erahnen.

Toranomon-Azabudai:
Größtes Stadtentwick-
lungsprojekt des Unter-
nehmens Mori.

Heatherwick Studio


In der Gegend
um Sannomiya
gibt es ein
Problem mit
übermäßiger
Konzen -
tration der
Bevölkerung.
Kizo Hisamoto
Bürgermeister Kobe

Bauboom in Fernost
Neugebaute Hochhäuser und
Appartments in Japan
Hochhäuser Appartments

HANDELSBLATT Quelle: nippon.com


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WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211 Immobilien^29

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